Ein leuchtendes Beispiel

Die Biologische Ozeanografin Cornelia Jaspers über ihre Forschung an Quallen in Nord- und Ostsee.

Von Ines Bellinger
Veröffentlicht am 26. Sept. 2018, 11:34 MESZ
Rippenqualle (Mnemiopsis leidyi)
Die Rippenqualle (Mnemiopsis leidyi) ist von der amerikanischen Ostküste nach Europa eingewandert. Sie wird etwa zehn Zentimeter groß und produziert bis zu 14 000 Eier am Tag, die sie selber befruchten kann. Im Dunkeln erzeugt sie Licht mittels Biolumineszenz.
Foto von Cornelia Jaspers, Geomar

Dr. Cornelia Jaspers ist biologische Ozeanographin und forscht am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und an der Technischen Universität Dänemark in Lyngby über Quallen. Sie ist Leitautorin einer Studie über die Ausbreitung von invasiven Quallen in europäischen Gewässern.

Frau Jaspers, Sie sind Quallenforscherin. Was fasziniert Sie an hirn- und herzlosen  Lebewesen, die fast komplett aus Wasser bestehen?

Dass man so wenig über sie weiß. Es gibt kaum Forscher, die sich ausschließlich mit Quallen beschäftigen. Dabei sind das spannende Lebewesen mit einer riesigen Bandbreite: von wenige Millimeter großen Arten bis zu 200 Kilo schweren Exemplare. Und es gibt viele ungeklärte Fragen: Sind sie eine Sackgasse in der Nahrungskette? Wie werden sich Populationen entwickeln, wenn sich die Ozeane drastisch verändern?

Sie forschen über die Rippenquallenart Mnemiopsis leidyi, auch Meerwalnuss, die nicht zu den echten Quallen gehört. Warum nicht?

Rippenquallen sind ein eigener Stamm im Tierreich. Im Gegensatz zu Würfel- oder Schirmquallen gehören sie nicht zu den Nesseltieren, denn sie besitzen keine Nesselkapseln, in denen das Gift sitzt. Rippenquallen fangen ihre Beute mit Klebezellen. Die übergreifende Bezeichnung für die Organismen ist „gelatinöses Plankton“.

Die Meerwalnuss ist eigentlich an der amerikanischen Ostküste heimisch, seit einigen Jahren lebt sie jedoch auch in Nord- und Ostsee. Wie ist sie zu uns gekommen?

Viele Fragen über Ausbreitungswege invasiver Arten sind noch ungeklärt. Die Rippenqualle kann nicht schwimmen, und ihr Lebenszyklus ist zu kurz für ein Verdriften über den gesamten Atlantik. Man geht davon aus, dass sie im Ballastwasser von Schiffen eingeschleppt wurde.

Wann war das?

Vor 35 Jahren hat sich Mnemiopsis leidyi im Schwarzen Meer etabliert. 2005 wurde sie das erste Mal vor Frankreich, den Niederlanden und Norwegen gesehen, ein Jahr später auf Helgoland und in der Kieler Bucht. Inzwischen wissen wir von Hotspots in Nord- und Ostsee: im Wattenmeer, im Kattegat und im Limfjord. In dem Fjordsystem in Jütland, das Nord- und Ostsee verbindet, erreicht sie Populationsdichten von bis zu einem Tier pro Liter Wasser. Das reicht aus, um großen Einfluss auf ein Ökosystem auszuüben. Vorläufige Ergebnisse zeigen, dass in einigen Regionen des Limfjords das Zooplankton drastisch abgenommen hat und vermehrt Sauerstoffmangel herrscht.

Warum bevorzugt die Meerwalnuss diese Gebiete?

Das hängt unter anderem mit dem Salzgehalt zusammen. So kommt die Meerwalnuss in der zentralen und nordöstlichen Ostsee nicht vor, weil sie sich in Gebieten mit niedrigem Salzgehalt nicht vermehren kann. Die bisher unterschätzte Hauptrolle bei der Ausbreitung scheinen jedoch Meeresströmungen zu spielen.

Woher wissen Sie das?

Wir haben jüngst in einer Studie gezeigt, dass der Transport mit Schiffen nicht das ganze Phänomen der Ausbreitung invasiver Arten erklärt. Von großen europäischen Häfen wie Antwerpen oder Rotterdam reist die amerikanische Rippenqualle mit Strömungen, die wie Autobahnen weite Teile Nordeuropas miteinander verbinden, aber eben nur mit der Strömung. Die Rippenqualle könnte nicht ohne Weiteres an die englische Ostküste verdriftet werden.

Eine Studie von Forschern aus 19 Ländern, die in diesem Jahr in der Zeitschrift Global Ecology and Biogeography erschienen ist, belegt die Ausbreitung von Mnemiopsis leidyi in Europa über Strömungsmuster im Meer. 2011 war die Rippenqualle nach zwei kalten Wintern aus der Ostsee und weiten Teilen Nordwesteuropas wieder verschwunden. Doch nach dem warmen Winter 2013/14 hat sie sich rasend schnell ihr altes Ausbreitungsgebiet zurückerobert. Bis zu 2000 Kilometer im Monat kann eine Rippenqualle mit der Strömung reisen.
Foto von National Geographic-Magazin

Als die Meerwalnuss ins Schwarze Meer eingewandert ist, brachen dort die Sardellenbestände ein. Gibt es ähnliche Beobachtungen in unseren Gewässern?

Da es in einem Ökosystem sehr komplexe Zusammenhänge gibt, ist es schwer, solche Interaktionen in großen Gebieten wie der Nordsee oder Ostsee nachzuweisen. Klar ist, dass Mnemiopsis leidyi ein sehr effektiver Räuber ist. Eine erwachsene Rippenqualle kann bis zu 250 Liter Wasser am Tag filtrieren und dabei 80 bis 90 Prozent der darin enthaltenen Kleinstorganismen aufnehmen. Sie wirkt wie ein Staubsauger im Meer.

Und für die Fische bleibt keine Nahrung übrig.

Das ist nicht das einzige Problem. Krebstierchen und andere Organismen, die die Rippenqualle vertilgt, ernähren sich von Algen. Wenn diese in nährstoffreichen Gebieten nicht kontrolliert werden, kann es zu Algenblüten kommen, und wenn die Algen absterben und von Bakterien zersetzt werden, sinkt der Sauerstoffgehalt im Wasser. Niedrige Sauerstoffkonzentrationen sind problematisch für viele Lebewesen.

Beim Baden muss man sich vor der Meerwalnuss aber nicht fürchten?

Nein, sie ist bei Kontakt harmlos. Es ist spektakulär, während einer Rippenquallenblüte nachts im Meer zu baden, denn die Meerwalnuss leuchtet sehr intensiv, wenn sie durch Berührung oder Wellenbewegungen stimuliert wird. Rippenquallen zeigen eine der stärksten Biolumineszenzreaktionen im Tierreich. Man könnte sie die Glühwürmchen der Meere nennen.

Welche Quallen gibt es sonst noch in Nord- und Ostsee?

Von Strandurlaubern wahrgenommen werden eigentlich nur die Rippenqualle, die Ohrenqualle, Aurelia aurita, und in der Nordsee die Feuerquallen – die Blaue Nesselqualle, Cyanea lamarckii, die Gelbe Haarqualle, Cyanea capillata, und die Kompassqualle, Chrysaora hysoscella. Dazu kommt in der Ostsee noch eine arktische Reliktart, Mertensia ovum, die sich nur im Larvenstadium vermehrt und mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist. Vor zwei Jahren haben wir eine neue Art im Nord-Ostsee-Kanal gefunden, Blackfordia virginica, die sehr zahlreich vorkommt, aber nur zu sehen ist, wenn man ein geschultes Auge hat.

Sind alle diese Quallen ungefährlich für Menschen?

Vor Feuerquallen sollte man sich schon in Acht nehmen. Sie haben lange Tentakel, die bei Kontakt Hautirritationen und ein unangenehmes Brennen auslösen können. Feuerquallen brauchen einen noch höheren Salzgehalt als die Rippenquallen. Daher gibt es sie nur in der Nordsee, in der südwestlichen Ostsee und in den tiefen Wasserschichten der zentralen Ostsee. Bei Nordwestwinden werden Feuerquallen häufig in die Kieler Bucht eingetrieben. Immer wieder taucht dann die Frage auf: Haben wir jetzt mehr Quallen als normal? Nein, es sind Nordwestwinde, die dazu geführt haben, dass wir Kattegat-Wasser in unsere Gebiete bekommen.

Haben hohe Temperaturen auch einen Einfluss?

Für die Meerwalnuss trifft dieses zu. Wir hatten einen extrem warmen Sommer. Mnemiopsis leidyi ist zwei Monate früher aufgetreten als normal. Normalerweise sieht man in der südwestlichen Ostsee ab Ende August bis Mitte/Ende September sehr große Exemplare, die sich dann vermehren. Dieses Mal sind sie schon Mitte Juli aufgetaucht und haben sich sehr stark vermehrt.

Würden invasive Quallenarten wieder aus unseren Meeren verschwinden, wenn es längere Zeit kalt wäre?

Von der Rippenqualle wissen wir, dass sie in dem Gebiet, wo sie herkommt, unter dem Eis überwintern kann. Niedrigere Temperaturen sollten also keinen großen Einfluss haben. In unserer neuen Studie haben wir allerdings gezeigt, dass die Meerwalnuss 2011 nach zwei kalten Wintern in der Ostsee und weiten Teilen Nordwesteuropas wieder verschwunden ist und die Ausbreitung auf eine kleine Population in der Nordsee zurückgedrängt wurde. Doch nach dem warmen Winter 2013/2014 hat sie sich rasend schnell ihr altes Ausbreitungsgebiet zurückerobert – mit Hilfe der Meeresströmungen.

Wahrscheinlicher ist, dass die Temperatur der Meere weiter ansteigt. Wäre es denkbar, dass hochgiftige Quallen sich auch in unseren Gewässern ausbreiten? Die Portugiesische Galeere wurde bereits vor Mallorca gesichtet.

Die Portugiesische Galeere, Physalia physalis, ist eine Art, die nur in ozeanischen Gebieten vorkommt. Bei ungünstigen Wetter- und Windbedingungen wird sie durch die Straße von Gibraltar ins Mittelmeer und an die spanische Küste getrieben. Man hat 1975 auch viele Portugiesische Galeeren an der niederländischen Küste beobachtet. Wahrscheinlich sind sie mit Ausläufern des Golfstroms über den englischen Kanal bis in die Niederlande gekommen. Das sind aber sporadische Erscheinungen. In Ozeanen geht die Erwärmung langsamer vonstatten als in unseren Küstengewässern, und Küstengebiete sind einfach nicht das Habitat dieser Quallenart. Ich glaube nicht, dass wir in absehbarer Zeit Massenanlandungen von Portugiesischen Galeeren haben werden. Da aber sehr wenig über die Vermehrung und Anzahl von Portugiesischen Galeeren in den Ozeanen bekannt ist, kann man das nicht sicher vorhersagen. Casey Dunn, ein amerikanischer Kollege von mir, arbeitet auf Hochtouren daran, mehr darüber zu erfahren. Die gefährlichsten Quallen der Welt sind Würfelquallen. Aber das sind tropische und subtropische Arten, und von diesen Regionen sind wir hier im Norden sehr weit entfernt. Tatsächlich hat man in Australien aber Probleme mit der Ausbreitung von giftigen Würfelquallen, vor allem Richtung Thailand.

Sind Quallen Klimawandelgewinner, weil ihnen hohe Temperaturen und niedrige Sauerstoffkonzentrationen weniger ausmachen als anderen marinen Organismen?

Ich würde eher sagen, dass sie Gewinner des globalen Wandels in den Ozeanen sind. Neben dem Klimawandel spielen auch Meeresverschmutzung, übermäßige Nährstoffzunahme und dadurch bedingte Sauerstoffzehrung sowie die Ausbreitung nichtheimischer Arten eine Rolle. In Versuchen wurde gezeigt, dass Polypen und Quallen sehr viel robuster sind als andere Organismen, nicht nur was niedrigen Sauerstoffgehalt angeht. Sie können sich auch unter pH-Bedingungen gut vermehren, die für andere Organismen nicht vorteilhaft sind.

Könnten nicht Fische die Populationsgrößen von Quallen beeinflussen, indem sie sie fressen?

Es gibt eine ganze Reihe von Fischarten, in deren Magen Quallen gefunden wurden, aber es wurde noch nicht nachgewiesen, ob die zufällig, quasi als Beifang, da reingeraten sind oder aktiv gefressen wurden. Die derzeitige Hypothese ist, dass Quallen eine Sackgasse im Nahrungsnetz sind, also kein Fischfutter. Andererseits waren wir 2014 in der Sargassosee, wo der Europäische Aal, der vom Aussterben bedroht ist, hinschwimmt und sich vermehrt. Dort haben wir gezeigt, dass bei Aallarven, die man nicht kultivieren kann, mehr als die Hälfte des Mageninhalts aus Quallen besteht. Berechnungen haben ergeben, dass die Anzahl dieser Quallen, die die Aallarven in der Sargassosee fressen, hoch genug ist, um ihren Nahrungsbedarf zu decken. Die Quallen könnten also ein Schlüssel dafür sein, dass man tatsächlich Europäische Aale in Gefangenschaft nachziehen kann.

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    Dr. Cornelia Jaspers arbeitet am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel und an der Technischen Universität Dänemark.
    Foto von Jesper Madsen

    Wie fangen Sie eigentlich die Quallen, die Sie im Labor untersuchen?

    Für die Rippenqualle eignet sich am besten ein besonders geformter Suppenlöffel. Und natürlich ein geschultes Auge. Viele Leute fragen, warum ich eigentlich in einen durchsichtigen Eimer voller Wasser starre…

    Haben Sie schon einmal Quallen gegessen?

    Man kann Quallen essen, in Asien ist es eine Delikatesse. Ich habe sie noch nicht probiert. Beim Trocknen werden Chemikalien verwendet, unter anderem ein Aluminiumsulfat-Gemisch, um den bakteriellen Zersetzungsprozess zu verlangsamen. Um am Ende tatsächlich getrocknetes Quallenmaterial zu haben, dauert der Trocknungsprozess sehr lange und ist dementsprechend auch nur in warmen, sonnenreichen Ländern klimaverträglich.

    Lesen Sie auch eine Reportage über Quallen in Heft 10/2018 des National Geographic-Magazins. Jetzt ein Abo abschließen!

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