Schaurig, glibberig, hirnlos, schön

Warum sind Quallen so faszinierend? Sie sind überhaupt kein Fisch. Sie können sich selbst klonen. Und alte Tiere werden wieder jung.

Von Elizabeth Kolbert
bilder von David Liitschwager
Veröffentlicht am 21. Sept. 2018, 12:51 MESZ
Papuaquallen
Papuaquallen leben in Buchten und Lagunen im Südpazifik. Tagsüber treiben sie an die Oberfläche, um die winzigen pflanzenartigen Organismen, die in ihrem Inneren leben und sie ernähren, mit Sonnenlicht zu versorgen. Ihre Arme sind mit Nesselzellen und Mundöffnungen besetzt, mit denen sie Plankton fressen. Das größte abgebildete Exemplar hat einen Durchmesser von 8 Zentimetern.
Foto von David Liitschwager

Ohrenquallen leben in flachen Buchten überall auf der Welt. Sie sehen aus wie kleine, nicht unbedingt willkommene Geister. Kurze, blasse Fransen zieren den Rand ihrer durchscheinenden Schirme – es sind ihre Fangarme. Wenn sie sich pulsierend vorwärtsbewegen, scheint das Wasser zum Leben zu erwachen. Im National Aquarium in Baltimore dürfen Besucher die Ohrenquallen anfassen. Die meisten zögern, doch sobald sie hören, dass die Quallen ungefährlich sind, greifen sie vorsichtig ins Wasser. Vor allem Kinder sind begeistert: „Die sind so glibberig!“, schreit ein Junge. „Cool!“, ruft ein Mädchen.

„Ich finde sie einfach faszinierend“, sagt Jennie Janssen. Sie betreut die Quallen im Aquarium. „Sie haben kein Gehirn und existieren trotzdem, ja, sie blühen geradezu auf, von Generation zu Generation.“

Schaurig, glibberig, hirnlos, cool – das alles und noch viel mehr trifft auf Quallen zu. Außer einem Gehirn fehlen ihnen auch Blut, Knochen und ein Herz. Sie besitzen nur rudimentäre Sinnesorgane. Und trotz ihrer englischen Bezeichnung jellyfish sind sie keine Fische. Biologisch betrachtet gehören sie nicht nur in eine Gruppe.

Viele Lebewesen, die unter der Bezeichnung Quallen zusammengefasst werden, sind etwa so eng miteinander verwandt wie Pferdebremsen mit Pferden. Quallen besetzen verschiedene Zweige im Stammbaum der Tiere und leben in unterschiedlichen Habitaten: manche an der Meeresoberfläche, andere in der Tiefe, einige ziehen sogar Süßwasser vor. Aber alle haben die gleiche Strategie entwickelt, mit der sie durchs Leben treiben: Ihr Körper besteht aus Gallert.

Weltweit werden jährlich mehr als 750000 Tonnen Quallen für den menschlichen Verzehr gefangen. Fast ein Drittel der Tiere gehören zur Gattung Rhopilema. Die kräftigen Arme sind mit Nesselkapseln gespickt. Aus diesen Zellen schießen winzige giftige Röhrchen hervor und verletzen Fischer und andere Opfer. Der Verzehr ist dagegen ungefährlich. "Rhopilema sp.", 5 Zentimeter Durchmesser.
Foto von David Liitschwager

Geradezu fantastisch ist die Bandbreite an Formen, Größen und Verhaltensweisen von Quallen. Bei der Fortpflanzung gehören sie zu den vielseitigsten Lebewesen überhaupt. Quallen vermehren sich sowohl geschlechtlich als auch ungeschlechtlich. Manche Arten produzieren Kopien von sich selbst, indem sie sich teilen, kleine Zellbehälter ablegen oder Körpersegmente abschnüren – winzige Klone, die wie Schneeflocken davonschweben, um ihr eigenes Quallenleben zu führen. Am erstaunlichsten ist, dass sich manche Quallen offenbar sogar nach dem Tod noch vermehren.

Die sogenannte unsterbliche Qualle (Turritopsis dohrnii) erinnert an einen winzigen, behaarten Fingerhut. Die Art kommt im Mittelmeer und in Japan vor und kann den Alterungsprozess umkehren. Statt abzusterben, bilden sie sich zu Jungtieren zurück und durchlaufen den Lebenszyklus der Qualle aufs Neue – etwa so, als würde aus einem Frosch wieder eine Kaulquappe und daraus wieder ein Frosch. Transdifferenzierung ist der wissenschaftliche Begriff für diesen wundersam erscheinenden Vorgang.

Ohrenquallen (Aurelia aurita) gelten ebenso wie die eng mit ihnen verwandten Gelben Haarquallen (Cyanea capillata) und Kompassquallen (Chrysaora hysoscella) als echte Quallen. Sie gehören zur Klasse der Schirmquallen (Scyphozoa) im Stamm der Nesseltiere (Cnidaria), der auch Korallen einschließt. Nicht zu diesem Stamm zählen Salpen. Das sind Manteltiere, die wegen ihres durchscheinenden Aussehens manchmal fälschlich zu den Quallen gezählt werden, obwohl sie, wie auch Menschen, zum Stamm der Chordatiere gehören.

Ausgewachsene echte Quallen haben die Form von umgedrehten Untertassen oder aufgebauschten Fallschirmen. Sie bewegen sich per Rückstoßprinzip durchs Wasser, indem sie ihre Schirmmuskeln zusammenziehen. Ihre Fangarme stecken voller Nesselkapseln. Wie Harpunen schießen aus ihnen Nesselfäden hervor, die vorbeitreibende Nahrung aufspießen. Mit Mundarmen, die an Luftschlangen erinnern, schieben die Quallen anschließend ihre Beute in ihre Mundöffnungen. Bei manchen Arten haben die Mundarme sogar eigene Münder.

BELIEBT

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    Die gefürchteten Portugiesischen Galeeren (Physalia physalis), deren Nesselkapseln ein starkes Giftgemisch ausstoßen, leben in ungewöhnlichen Gemeinschaften. Was wie eine einzelne Qualle aussieht, ist in Wirklichkeit eine ganze Kolonie, die sich aus einem einzigen Embryo entwickelt hat. Statt zu wachsen, produziert der Embryo neue „Körper“ mit jeweils eigenen Funktionen. Manche bilden sich zu Tentakeln aus, andere zu Geschlechtsorganen.

    „Der menschliche Körper enthält bereits bei der Geburt alle Elemente des späteren Erwachsenen“, erklärt Casey Dunn, Professor für Evolutionsbiologie an der Yale University. „Was die sogenannten Staatsquallen so interessant macht, ist dieses völlig andere Konzept, einen Organismus zu bilden.“

    Die Rippenquallen schließlich sind so seltsam, dass sie in der Biosystematik ihren eigenen Stamm bilden. Die Tiere sind klein, zart und lassen sich nur schwer erforschen. Ihre Körper haben merkwürdige Formen: Manche sind flach und bandförmig, andere sehen aus wie Säckchen oder Krönchen. Die meisten von ihnen fangen ihre Beute nicht mit Gift, sondern mithilfe von Klebezellen. „Die Tentakel enthalten eine Art explodierende Klebstoffpäckchen“, beschreibt es der Meeresbiologe Steve Haddock.

    Seit einigen Jahrzehnten wachsen die Quallenbestände in manchen Gebieten enorm. Sie fressen Fischen die Nahrung weg und verstopfen die Fischernetze. Anderswo bedrohen sie badende Menschen. Italienische und spanische Strände mussten wiederholt wegen Invasionen von Leuchtquallen (Pelagia noctiluca) und der Portugiesischen Galeere gesperrt werden. 2013 wurde das schwedische Atomkraftwerk Oskarshamn für drei Tage abgeschaltet, weil Ohrenquallen die Filter im Kühlkreislauf verstopft hatten.

    Solche Vorkommnisse führen immer wieder zu Berichten über eine angeblich neue Herrschaft der Quallen über die Ozeane. Aber so eindeutig ist es nicht. Quallenbestände schwanken aus natürlichen Gründen, Menschen registrieren aber meist nur plötzliche Invasionen. „Eine Quallenblüte macht Schlagzeilen, aber über das Ausbleiben der Tiere wird nicht berichtet“, sagt der Meereszoologe Lucas Brotz von der University of British Columbia. Manche Quallenarten scheinen von menschlichen Einflüssen zu profitieren. Vor der namibischen Küste hat Überfischung das Ökosystem offenbar so verändert, dass Kompass- und Kristallquallen dominieren. Andere, empfindlichere Quallenarten leiden darunter. In einigen Regionen beobachten Forscher einen Rückgang der Artenvielfalt.

    Wenn es also immer öfter unangenehme Begegnungen gibt: Liegt es daran, dass die Glibbertiere die Kontrolle über die Meere übernehmen – oder sind es die Menschen? „Wenn es zu Zwischenfällen mit Quallen kommt, liegt das immer an menschlichen Einflüssen“, sagt Haddock. „Wir dringen in ihre Lebensräume ein.“

    Quallen leben einfach, wie sie es seit mehreren Hundert Millionen Jahren und über viele Generationen hinweg getan haben. Lautlos und ohne Gehirn pulsieren sie vorwärts. Werden sie ins rechte Licht gerückt, sind sie wunderschön.

     

    Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie den vollständigen Artikel in Heft 10/2018 des National Geographic-Magazins. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen!

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