Warme Winter bedrohen Robbenwelpen im Nordwestatlantik

Warme Winter im Nordwestatlantik verringern die Überlebenschancen von Sattelrobbenwelpen.

Von Jennifer Hayes
Veröffentlicht am 4. März 2024, 11:45 MEZ
Eine weibliche Sattelrobbe mit Welpem

Weibliche Sattelrobben bringen ihre Jungen auf dem Eis zur Welt. Zwei Wochen lang fressen sich die Welpen Fettreserven an. Dann können sie ohne die Mutter den kalten Gewässern trotzen und allein überleben.

Foto von Jennifer Hayes

Unter dem Eis, während eines Tauchgang in den eiskalten Gewässern des Sankt-Lorenz-Golfs, hörte ich plötzlich das schrille Pfeifen und Quietschen der Sattelrobben. Um mich herum schwammen ausgewachsene Robben anmutig durch ihre private Unterwasserwelt. Auf der Eisdecke über uns ruhten Tausende neugeborener Jungtiere. Im März 2011 hatte ich die Magdalenen-Inseln besucht, einen Archipel im Südosten des Sankt-Lorenz-Golfs. Mit meinem Partner David Doubilet wollte ich Sattelrobben fotografieren, als Teil einer großen Reportage über das marine Ökosystem des Golfs – einer Oase im Nordatlantik, in der es vor Leben wimmelt. Im Winter wird dort das Packeis zur eisigen Kinderstube für neugeborene Robben. „Komm, wir suchen nach Eis“, sagte Mario Cyr, unser einheimischer Führer. „Wenn wir Eis finden, finden wir Robben.“ Er hatte recht: Eine Herde trächtiger Weibchen hatte in der Nähe von Prince Edward Island einen losen Flickenteppich aus Eisschollen gefunden und dort ihre Jungen zur Welt gebracht. Eine Woche lang dokumentierten wir das Verhalten der Robben über und unter der Wasseroberfläche. Die Herde verteilte sich weitflächig auf zahlreiche Eisplatten, umgeben von Schnee- und Eismatsch. Tagsüber tanzte die Sonne über die eisige Landschaft, die mit Sattelrobbenmüttern und -welpen mit wolkenweichem Fell, nachtschwarzen Augen und schiefergrauen Nasen übersät war. Nachts wehten die Rufe der Welpen durch den Rumpf unseres Bootes.

​Die Gefahr der schlechten Eisjahre

Sattelrobben gebären auf dem Eis. Sie wandern Ende August aus der Arktis hierher und suchen Ende Februar das Meereis auf. Trächtige Weibchen bringen dort in der Regel je ein Junges zur Welt. Sie säugen die Neugeborenen in den ersten zwei Lebenswochen, um sie mit genügend Fettreserven zu versorgen. Mit Beginn der Paarungszeit lassen sie sie auf dem Eis zurück. Die Jungen sind auf ihre Fettreserven angewiesen, bis sie schwimmen und sich selbst ernähren können. Dafür brauchen sie allerdings stabiles Eis. Die Winter im Sankt-Lorenz-Golf werden wärmer. Die Temperaturen steigen alle hundert Jahre um mehr als zwei Grad, sagt Peter Galbraith, Experte für Physikalische Ozeanografie an der kanadischen Fischereibehörde DFO. Forscher teilen die Winter in der Region in gute und schlechte Eisjahre ein. Gute Jahre zeichnen sich durch kältere Winter und eine dicke, ausgedehnte Eisdecke aus. Sie werden seltener; das Meereis im Golf nimmt mindestens seit 1995 ab. Häufiger sind schlechte Eisjahre, die brüchiges, dünnes Eis hervorbringen.

Schlechte Eisjahre können für Sattelrobben tödlich sein. 2011 war ein solch schlechtes Jahr. An unserem letzten Tag im Golf peitschte ein Sturm das Wasser auf. Wir hatten den Hafen erreicht und waren gerade dabei, unsere Ausrüstung auszuladen, als Cyr uns die Nachricht überbrachte: Das dünne Eis, in dessen Bereich wir tagelang in das Leben der Sattelrobben eintauchen durften, war vom Sturm zerstört worden. Tausende Welpen waren tot. Binnen eines Augenblick war aus der Kinderstube eine Erinnerung geworden. Der Klimawandel spielte sich hier vor unseren Augen in Echtzeit ab. Ich beschloss, das Leben und Sterben der Sattelrobben als Ausdruck der Klimakrise zu dokumentieren. In den letzten zehn Jahren bin ich immer wieder zu ihren Wurfplätzen zurückgekehrt. Was ich von Garry Stenson und Mike Hammill, den Sattelrobben-Experten der DFO, gelernt habe: Kein Eis im Sankt-Lorenz-Golf ist besser als schlechtes Eis. Gibt es kein Eis, schwimmen die Robben weiter und suchen Eis außerhalb ihrer traditionellen Wurfplätze. Wenn es aber Eis gibt, egal bleibt die Herde – auch wenn es zu dünn für ihre Welpen ist. Im März 2022 begleitete ich Stenson und ein großes Forscherteam an Bord des kanadischen Küstenwachschiffs Sir William Alexander. Alle vier bis fünf Jahre führen die Wissenschaftler in einem Gebiet vor der Küste Neufundlands und Labradors, „die Front“ genannt, eine groß angelegte Zählung der Sattelrobbenpopulation durch.

Mütter und Welpen liegen Ende Februar 2020 verstreut auf zerbrochenen Eisplatten im Sankt-Lorenz-Golf. Als es wärmer wurde und der Wind auffrischte, brach das Eis, das von den Geburten teils noch blutverschmiert war, immer weiter auf.

Foto von Jennifer Hayes

​Robben sind anpassungsfähig

Mithilfe von Bojen, die in den Robbengebieten abgeworfen werden, können die Forscher aus der Luft die Jungtiere zählen, ihr Alter bestimmen und ihre Bewegungen verfolgen. „Das ist schon in einem guten Jahr kompliziert genug, aber mit jeder Zählung wird es ein bisschen schwieriger“, sagt Stenson. Zu Beginn der Untersuchung trieb ein heftiger Sturm das Eis aufs offene Meer und zerbrach es in kleine Stücke. Der Wind trieb die überlebenden Jungtiere nach Osten, weg von ihren gewohnten Nahrungsgründen. Es war Stensons letzte Expedition vor seiner Rente und seine bisher schwierigste: „Das Eis ist schlechter, die Winde sind stärker und die Herausforderungen größer“, sagt Stenson. Doch so düster die Zukunft aussehen mag, es gibt auch Hoffnung: Sattelrobben sind anpassungsfähig. Um zu überleben, werden sie dem Eis folgen. Langfristig werden die Robben ihre Wurfplätze womöglich weiter nördlich wählen, prognostizieren Hammill und Stenson. Diesen Monat beginnt bei den Robben im Sankt-Lorenz-Golf eine neue Wurfsaison. Ich werde dabei sein – und hoffe auf gutes Eis.

BELIEBT

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    Foto von National Geographic

    Die Reportage zu den Robben finden Sie im NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 2/24. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

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