Ernährung aus der Röhre

Die Weltbevölkerung wächst rasant, gleichzeitig schrumpfen Ackerflächen, werden Ozeane leergefischt und das Trinkwasser knapper. Wie kann man zehn Milliarden Menschen ernähren? Ein Teil der Antwort könnten Algen sein.

Von Andrea Henke
Veröffentlicht am 19. Nov. 2018, 10:49 MEZ
Foto von Roquette Klötze

Deutschlands größter Mikroalgenhersteller sitzt im 11 000-Seelen-Ort Klötze in Sachsen-Anhalt. In 500 Kilometern Glasröhren mit einem Nutzvolumen von 600 000 Litern wachsen dort ein gutes Dutzend verschiedener Algenarten heran. Die Firma Roquette Klötze liefert jedes Jahr zwischen 30 und 50 Tonnen Mikroalgen weltweit. Der Mutterkonzern, das französische Agro-Unternehmen Roquette Frères, kaufte die Klötzer Algenfarm 2008 und stieg damit in den wachsenden Mikroalgenmarkt ein.

„Das Potenzial der Algen im Bereich Lebensmittel ist riesig“, sagt Jörg Ullmann, Biologe und Leiter der Algenfarm. „Sie wachsen zehn- bis 30-mal schneller als Landpflanzen und enthalten alle wichtigen Nährstoffe.“ Mikroalgen wie Chlorella und Spirulina bestehen zu 50 bis 60 Prozent aus reinen Proteinen – damit sind sie deutlich eiweißreicher als Fleisch, Fisch oder Eier.

Das ist besonders interessant, weil neben den klimaschädlichen Aspekten der Rinderzucht, wie dem Methangasausstoß, auch die wachsende Nutzung von Ackerflächen für den Futtermittelanbau höchst problematisch ist. Weideflächen und Anbauflächen für die Produktion von Futtermitteln machen laut Welternährungsorganisation FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) fast 80 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche aus. Zudem isst ein Drittel der Menschen zu viel und immer mehr Fleisch, ein anderes Drittel hat dauerhaft zu wenig Nahrung. Für die Erzeugung von einem Kilo Fleisch braucht man laut FAO drei Kilo Getreide. Amerikanische Forscher veröffentlichten in der Zeitschrift PNAS der Akademie der Wissenschaften, dass man für eine Kalorie aus Rindfleisch 160mal mehr Land als für Kartoffeln, Reis und Weizen benötigt. Weil die Zahl der Ackerflächen nicht steigt, entsteht so Nahrungsmittelknappheit.

Algen können eine wichtige Rolle als alternative Proteinquelle einnehmen, sie benötigen zudem sehr viel weniger Anbaufläche als Getreide. Bei einem Ertrag von 30 bis 50 Tonnen Biomasse jährlich und einem Gewächshaus von 1,2 Hektar Größe können in Klötze in der Altmark pro Hektar mindestens 25 Tonnen Algen im Jahr geerntet werden. Demgegenüber steht der Ertrag des benachbarten Weizenfelds pro Hektar im Jahr zwischen sieben und acht Tonnen.

In Ullmanns Gewächshaus wachsen die Algen in haushohen Wänden aus übereinander liegenden Röhren. Die Chlorella-Mikroalge, die den größten Teil des Anbaus ausmacht, ist nur etwa so groß wie ein rotes Blutkörperchen und mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Die Alge färbt das Wasser des Röhrensystems grün, wird hauptsächlich genährt von Kohlenstoffdioxid und stetig herumgewirbelt von einer Pumpe. Im Vergleich mit dem gängigen offenen Anbau, wie er besonders in Asien und den USA praktiziert wird, ist die Algenfarm in Klötze im Vorteil: Das Glasröhrensystem lässt von allen Seiten Licht an die Algen und ist nicht nur unabhängig von fruchtbaren Böden, sondern kann auch nicht wie diese mit Pestiziden, Schwermetallen oder anderen Schadstoffen kontaminiert werden. Insekten werden ebenfalls ausgesperrt. Hinzu kommt das für den Anbau in Klötze verwendete sehr reine Grundwasser, das aus 45 Metern Tiefe stammt. In offenen Systemen kann dagegen nicht immer kontrolliert werden, welche Stoffe durch Regen oder Staub in den Kreislauf gelangen.

Bevor die Chlorella ins Gewächshaus kommt, wird sie im Reagenzglas kultiviert und in eine Pflanzennährlösung – Süßwasser angereichert mit Stickstoff, Kalium, Magnesium und Kohlendioxid – gegeben. Im Gewächshaus wird diese Lösung mit den Algen in einem ständigen Kreislauf durch die Röhren gepumpt. Die Algen bekommen so genügend Licht und bei einer optimalen Temperatur von 25 bis 28 Grad teilen sie sich einmal am Tag in zwei bis 16 Tochterzellen. Nach einer Woche hat die Algenmenge sich etwa verzehnfacht und kann geerntet werden. Etwa zwei Drittel der Algen fließen aus den Röhren heraus in eine Zentrifuge, der Rest bleibt im System und ist die Starterkultur für die nächste Ernte. Aus der Zentrifuge wird der jetzt von der Nährlösung getrennte Algenbrei in einen gekühlten Edelstahlbehälter geleitet und direkt eingefroren oder in einem Sprühtrockner zu Pulver blitzgetrocknet. Saison ist von März bis November. Im Winter sind die Energiekosten zu hoch, um die für die Algen optimale Wachstumstemperatur zu halten. In Mecklenburg-Vorpommern baut Roquette gerade eine zweite Mikroalgenfarm für die Spirulina Alge auf. Mit Hilfe der dort vorhandenen Erdwärme will die Firma versuchen, Algen auch im Winter wachsen zu lassen.

Das gesundheitsfördernde Potenzial der Algen ist groß: „Bei einem Gugelhupf lassen sich zum Beispiel drei Eier und 200 Gramm Butter mit einem paar Gramm Chlorella-Pulver ersetzen. Chlorella ist in Geruch und Geschmack relativ neutral, unseren Testpersonen hat es geschmeckt“, erklärt Ullmann. Tierische werden durch pflanzliche Fettsäuren ersetzt – das ist nicht nur für Veganer interessant, sondern auch für alle, die Kalorien reduzieren wollen.

Photobioreaktoren für Algen – wie das Glasröhrensystem aus der Altmark – sind unabhängig vom Klimawandel und können fast überall angebaut werden. In der unwirtlichen Aravawüste in Israel findet man eine Mikroalgenfarm – oder im vertikalen Anbau, wie zum Beispiel an der Fassade eines Gebäudes in Hamburg. Prädestiniert für den Anbau ist ihr natürlicher Lebensraum, das Wasser. Man schätzt, dass es ausreichen würde, zwei Prozent der weltweiten Wasseroberfläche mit Algen zu bebauen, um zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Zwei Prozent entsprechen in etwa der vierfachen Größe Portugals.

Heute werden weltweit 30 Millionen Tonnen Algen angebaut und verarbeitet. In sehr vielen Lebensmitteln steckt Alge –  oft Extrakte wie Agar-Agar (E406) und Carrageen (E407) aus Rotalgen oder Alginate (E401 bis 405) aus Braunalgen, die als Gelier- und Verdickungsmittel genutzt werden. Carrageen findet man zum Beispiel in Ketchup, Puddingpulver oder Eiscreme, Alginate in Mayonnaise oder Backwaren. Algenanbau ist mit etwa 60 Jahren zwar ein junger Zweig der Landwirtschaft, aber schon in vielen Bereichen des Marktes etabliert – bei jährlichen Wachstumsraten von zehn Prozent.

Ähnliche Wachstumsraten hat der Verkauf von Algen für die Fischzucht. Wir essen zunehmend mehr Fisch aus Aquakulturen als aus Wildfang. Die gesunden, mehrfach ungesättigten Fettsäuren, die wir beim Speisefisch erwarten, nimmt dieser nur über die Nahrungskette auf – und dort stehen Algen an erster Stelle. Algen sind nicht nur eine hervorragende Quelle für Proteine, sondern auch für mehrfach ungesättigte Fettsäuren.

Bei all den Vorteilen haben Algen auch Schattenseiten: Sie filtern neben Nährstoffen auch Schadstoffe wie Blei, Cadmium und Arsen aus dem Wasser. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) warnt zudem vor dem zu hohen Jodgehalt einiger getrockneter Meeresalgen und fordert eine Höchstgrenze von 20 Milligramm Jod pro Kilogramm. Auch auf europäischer Ebene wird an einheitlichen Standards für Algenprodukte gearbeitet. Künftig soll auf allen der Jodgehalt angegeben werden und die Algen müssen auf Schwermetalle untersucht worden sein. Mikroalgen sind jodarm und stellen in der Regel kein Problem da, solange sie in geschlossenen Systemen wie in Klötze gezogen werden, wo der Nähr- und Schadstoffgehalt kontrolliert werden kann.

Ullmann ist fest vom großen Leistungsvermögen der Algen überzeugt:„Wir kennen etwa 40 000 Algenarten und vermutlich gibt es zehn Mal mehr. Weltweit nutzen wir nur gut hundert Algenarten. Wir stehen also noch völlig am Anfang und werden noch viel zur Ressource Alge entdecken.“

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