Das Geheimnis der Muschelschale: Warum Weichtiere Schutzhüllen haben
Das Zusammenspiel von Mathematik, Physik und Evolution erschafft faszinierende Gebilde: die Schalen von Weichtieren.
Das Zusammenspiel von Mathematik, Physik und Evolution erschafft faszinierende Gebilde: die Schalen von Weichtieren. Im Bild: eine Große Tonnenschnecke.
Man kann es in den logarithmischen Windungen der Schale eines Perlboots sehen, im milchigen Schillern einer Abalone, im stacheligen Häuschen einer Riesen-Flügelschnecke: Präzision, Eleganz, Stärke. Muschelschalen und Schneckenhäuser vereinen Form und Funktion. Sie regen die menschliche Kreativität an – von Botticellis „Geburt der Venus“ bis zu Frank Lloyd Wrights Entwurf für das Guggenheim-Museum in New York. Unsere Faszination für diese Gebilde ist sogar noch älter als die Schrift.
Archäologen haben in Israel vor Kurzem die Überreste einer 120 000 Jahre alten Muschelkette ausgegraben. Die mannigfaltigen Behausungen von Muscheln oder Schnecken bezaubern die Menschheit seit jeher und bergen noch immer viele Geheimnisse. Wie sind solch komplexe Strukturen überhaupt entstanden? Die Evolutionstheorie kann zwar leicht erklären, warum harte Schalen für Weichtiere vorteilhaft sind. Doch warum hat die Natur so etwas Exquisites wie das stachelige Häuschen einer Venuskammschnecke erschaffen?
Schale aus Proteinen
Um dies zu begreifen, müssen wir die zugrunde liegen den mathematischen und physikalischen Gesetze verstehen. Studien von Derek Moulton, Professor für Angewandte Mathematik an der University of Oxford, haben gezeigt, dass ein Großteil der erstaunlichen Vielfalt durch einige einfache mathematische Prinzipien erklärt werden kann. Der Körper jedes Weichtiers ist von einem Mantel umgeben, einem hautartigen Organ, das Kalziumkarbonat absondert und es mit einem Gerüst aus Proteinen vermischt. So baut es seine Schale nach und nach auf. Dabei ergänzt das Tier neues Material immer nur an der Schalenöffnung, dem Mantelrand.
Man stelle sich dies als einen Kreis vor. Wenn ein Weichtier mit jeder neuen Schicht einen Ring hinzufügt, der genauso groß wie die Öffnung ist, verlängert sich seine Schale zum Zylinder. Wenn das Tier stattdessen den Umfang jedes neuen Rings vergrößert, baut sich seine Schale zu einem Kegel auf. Indem das Weichtier mehr Material auf einer Seite der Öffnung als auf der anderen ablagert, kann es ein zylindrisches Gehäuse zu einem Kringel formen. Stellen Sie sich nun vor, Sie kleben einen Stapel einseitiger Ringe übereinander, von denen jeder auf der linken Seite dicker ist als auf der rechten.
Anstatt einen sauberen zylindrischen Turm zu erschaffen, würde sich das Gebilde zu einer Seite hin wölben und schließlich eine Schleife bilden. Durch das Drehen der Punkte, an denen der Mantel mehr oder weniger Material absondert, kann ein Weichtier die Schleife schließlich in eine spiralförmige Röhre verwandeln. Während diese einfachen Regeln für viele grundlegende Formen von Schalen verantwortlich sind, entwickeln sich die auffälligsten Merkmale durch kompliziertere Wechselwirkungen. Stacheln entstehen durch ein Missverhältnis zwischen den Wachstumsraten des weichen Mantels und der starren Schale. Das führt zu Ausbuchtungen, die mit jeder neuen Schicht größer werden.
Die relative Wachstumsrate und Steifigkeit des Mantels bestimmt die Länge, Dicke und Krümmung der Stacheln oder Vorsprünge. Diese Abweichungen bilden sich zwar anfangs zufällig, doch wenn sie sich für das Überleben und die Fortpflanzung des Tiers von Vorteil erweisen, werden sie genetisch fixiert und sind schließlich ein vorherrschendes Merkmal der Art.
Schutzhüllen gegen Räuber
Obwohl wir Muschel- und Schnecken schalen in erster Linie wegen ihrer Ästhetik schätzen, haben sie für die Tiere, die sie beherbergen, einen eher pragmatischen Grund: Schutz. Vor etwa 540 Millionen Jahren, während eines evolutionären Innovationsschubs, der als kambrische Explosion bekannt ist, wurden räuberische Tiere zahlreicher und geschickter. Weichtiere entwickelten einfache, aber robuste Schalen, um ihr empfindliches, freiliegendes Gewebe zu schützen. Selbstverständlich rüsteten Krebstiere, Fische und andere Raubtiere als Folge mit immer ausgefeilteren Jagdtechniken nach. Diese Koevolution von Räuber und Beute trug schließlich zu einer dramatischen Zunahme der Vielfalt von Schalen bei. Einige entwickelten besonders große und dicke Gehäuse, die nur die stärksten oder geschick testen Tiere knacken konnten.
Enge Öffnungen, die manchmal durch Türen, sogenannte Opercula, verstärkt waren, erschwerten es Raubtieren, ihre Beute zu erreichen. Hohe, gewundene Türmchen ermöglichten es einigen Mollusken, sich noch weiter vor den Räubern in ihr Gehäuse zurückzuziehen. Stacheln vereitelten das Eindringen von Zangen und Kiefern ebenso wie glatte und rutschige Oberflächen. Manche Arten verloren aber auch ihre Schalen ganz, eroberten neue Lebensräume und entkamen so den Fressfeinden. Die Schönheit der Weichtierschalen ent steht durch das Zusammenspiel von Geometrie, Ökologie, Evolution und Zufall. Jede Muschel, jedes Häuschen, das Sie je aus dem Sand gefischt oder in einem Museum bewun dert haben, ist voller Geheimnisse – eine physische Manifestation der Komplexität und Pracht unseres Planeten.
Cover National Geographic 9/24
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