Steigender Meeresspiegel: Der Kampf hat begonnen

Deutsche Küstenschützer rüsten mit allen Mitteln gegen das steigende Meer. Doch mancherorts bleibt Rückzug die einzige Option.

Von Jürgen Nakot
Foto von Bodo Marks, Picture Alliance

Deutsche Küstenschützer rüsten mit allen Mitteln gegen das steigende Meer. Doch mancherorts bleibt Rückzug die einzige Option.

Till Scherzinger nimmt sich dann doch noch Zeit für einen Spaziergang zum Geeste-Sperrwerk. Gleich tagt zwar der Jugendklimarat der Stadt Bremerhaven, eine Sitzung, die er nicht verpassen will. Aber das alte Sperrwerk zu zeigen ist ihm auch wichtig. Es wird künftige Sturmfluten nicht aus der Innenstadt fernhalten können und soll ein Stück flussab neu gebaut werden. Größer. Höher. Scherzinger, 51, leitet das Klimastadtbüro Bremerhaven, „ein Experiment“, wie er selbst sagt. Bremerhaven ist mit 100.000 Einwohnern die einzige deutsche Großstadt an der Nordsee.

Scherzingers Büro soll hier alle Bemühungen zur Anpassung an den Klimawandel planen und steuern. Und das politische Klima schaffen, das es ermöglicht, Entscheidungen durchzusetzen, die erst der nächsten oder übernächsten Gene­ ration nützen werden. Deshalb hat er auch den Jugendklimarat angeregt. Der darf im Magistrat der Stadt nicht nur mitreden, sondern auch mit­ entscheiden. „Ich selbst werde ja vieles nicht mehr erleben“, sagt der Vater von drei Töchtern.

Das neue Geeste­-Sperrwerk soll allerdings schon in fünf Jahren die Stadt vor höheren Sturmfluten schützen. Zuständig für den Bau ist bremenports, die Hafenmanagementgesellschaft für Bremen und Bremerhaven. Nach ihren Plä­nen wird das neue, größere Sperrwerk fluss­abwärts verlegt und soll 250 Meter oberhalb der Geestemündung das Zentrum Bremerhavens abschirmen. Am Weserufer sind die Deiche schon um bis zu zwei Meter erhöht und ver­stärkt worden. Bis spätestens 2020 soll auch die Deichverstärkung südlich der Geestemündung abgeschlossen sein. Dann, sagt bremenports, sei die Stadt bis 2030 sicher.

Der Meeresspiegel wird allerdings auch da­nach weiter steigen. In den vergangenen hun­dert Jahren waren es rund 30 Zentimeter, mit der zunehmenden Erwärmung der Atmosphäre werde sich der Prozess wahrscheinlich beschleu­nigen, sagen Klimaforscher voraus. Die Mes­sungen scheinen ihnen recht zu geben: 2014 war weltweit das wärmste Jahr seit Beginn der regel­mäßigen Aufzeichnungen, das Eis auf Grönland und in der Antarktis taut immer schneller.

Alle deutschen Küstenlinien sind davon be­droht. In Mecklenburg­-Vorpommern gelten 1000 von 2000 Kilometern als sturmflutgefähr­det, 180.000 Menschen leben dort. In Schleswig-­Holstein liegt kein Ort weiter als 60 Kilometer von der Küste entfernt. Ein Viertel der Landesfläche mit insgesamt 350.000 Einwohnern ist potenziell gefährdet, 433 Kilo­meter Deiche sollen sie derzeit schützen.

In Niedersachsen zählt die Küstenschutz­behörde auf dem Festland und auf den Inseln zusammen 1000 Deichkilometer und insgesamt 200 aktuelle Projekte, die die Sicherheit von Land und Leuten gewährleisten sollen.

Relativ wenig Sorgen muss man sich ausge­rechnet um die Inseln machen. In der Ostsee ist es vor allem die Nordküste von Fehmarn, die besser geschützt werden muss, bei den Ostfrie­sischen Inseln in der Nordsee besorgt das Meer diese Aufgabe zum Teil selbst: Mit steigendem Wasserspiegel wird mehr Sand von der hollän­dischen Küste Richtung Borkum, Juist und Nor­derney verfrachtet, die Inseln würden deshalb mit dem Meeresspiegel steigen, sagt Peter Fröhle, Professor für Wasserbau an der TU Hamburg­ Harburg. Bis zu welchem Wasserstand sie aber mitwachsen, kann heute niemand sagen.

Nur auf der – nach Mallorca – liebsten Insel der Deutschen muss man nachhelfen: auf Sylt. Dort schwemmen Wind und Strömungen fortlaufend Sand weg. Rømø im Norden und Amrum im Süden profitieren davon. Um den Verlust auszugleichen, werden vor Sylt jedes Jahr eine Million Kubikmeter Sand mit Schläuchen vom Meeresgrund hochgesaugt und auf die Strände gespült. Das kostet zwar pro Jahr rund sechs Millionen Euro, werde aber wegen des wirtschaftlichen und ökologischen Wertes der Insel – Tourismus, Schutz von Watten und Festland – nicht infrage gestellt, sagt Fröhle. „Bis zum Jahr 2100 werden wir Sylt sicher halten können. Falls wir uns das leisten wollen.“

Etwas kleiner ist momentan noch der Aufwand in Bremerhaven. „Für alle Fälle“, sagt Scherzinger, während ihm der Seewind auf dem Deich die Frisur zerstrubbelt, „haben wir voriges Jahr im Überseehafen eine Hochwasserschutzhalle angelegt. Dort lagern Sandsäcke und anderes Material, mit dem Hafengebiet und angrenzende Wohnsiedlungen geschützt werden können.“ Dass das nicht reicht, um sich beruhigt zurückzulehnen, weiß er natürlich. Bis zum Jahr 2100 rechnen alle Experten mit einem Anstieg des Meeresspiegels um 80 bis 100 Zentimeter. Es können auch mehr werden. Deswegen hatte der Leiter des Klimastadtbüros in der ersten Februarwoche alle beteiligten Einrichtungen von Stadt und Hafen zu einer Strategiesitzung zusammengerufen, Thema: „Was müssen wir tun?“ Antworten werden bis 2016 erwartet.

Ob die so ausfallen, wie eine „Vision 2050“ für den „klimaangepassten Raum der Metropolregion Bremen-Oldenburg“ beschreibt? In dieser Zusammenfassung vieler Arbeitskreise legen die Autoren ihrer Fantasie keine Zügel an: Da stehen Häuser auf Stelzen, auf den Flüssen wohnen fröhliche Familien in modernen Hausbooten. Die Strategie der Deicherhöhung wird fortgesetzt, es wird aber auch Bereiche des „flexiblen Zurückweichens“ geben. Dort sollen eine zweite Deichlinie im Hinterland errichtet und der vordere Deich punktuell geöffnet werden. Das würde neue Überflutungsräume schaffen, die bei Sturmfluten das Wasser aufnehmen.

Es bleibt abzuwarten, wie realistisch die Vorstellung ist, auf diese Art „multifunktionale Öko-Kulturreservate“ zu schaffen, in denen sich Touristen vergnügen und Fische, Muscheln und essbare Algen in Aquakulturen gezüchtet werden. Die Vision gibt aber einen Überblick über die vier Strategien, sich auf den steigenden Meeresspiegel vorzubereiten:

Die erste, die Vorwärtsverteidung, bei der die Deichlinie näher ans Meer verlegt wird, gilt an der Nordsee nicht mehr als zeitgemäß, ist aber an der Ostsee stellenweise noch eine Option.

Eine zweite Strategie ist die Erhöhung und Ertüchtigung bestehender Deiche. Rein technisch, sagen die Ingenieure, ließe sich damit einem Anstieg des Meeresspiegels von bis zu zwei Metern begegnen, ehe die Deiche zu schwer und im Boden versinken würden.

Die dritte Strategie ist die flexible Anpassung. Man kann etwa Entlastungspolder schaffen, also Auffangbecken, die das Flutwasser aufnehmen, wenn es über die Deiche schwappt. Und man kann Deiche weiter ins Hinterland verlegen. Das kann sinnvoll sein, wo das Gelände im Hinterland ansteigt, so wie in Schleswig-Holstein und entlang der Unterweser zwischen Bremerhaven und Bremen. In großen Teilen Niedersachsens, in Ostfriesland etwa, wird diese Strategie skeptisch gesehen. Dort liegt das Land hinter den Deichen oft tiefer als vorne an der Wasserlinie. Würde man die Deiche nach hinten verlegen, müssten sie entsprechend höher sein als die alten. Das wäre aufwendig. Und teuer.

Auch ein Rückzug aus der bedrohten Fläche und die Rückgabe von Siedlungsflächen an das Meer – die vierte mögliche Strategie – käme hier nicht infrage, es beträfe zu große Areale mit zu vielen Menschen.

Trotzdem wird deutschlandweit betrachtet keine Option ausgeschlossen, dafür sind die Küstenregionen zu unterschiedlich. An der Nordsee liegt das Land generell tiefer, an der Ostsee sind die Küsten steiler, selbst der Anstieg des Meeres um einen Meter würde im Binnenland kaum Konsequenzen haben. Auf einer Website des Zentrums für Küstenforschung in Geesthacht kann jeder dieses Szenario selbst durchspielen.

Am meisten Geld zum Schutz vor Sturmfluten nimmt man fern von allen Küsten in die Hand: in Hamburg, 115 Kilometer von der Mündung der Elbe in die Nordsee entfernt. Schon an normalen Tagen schwankt der Wasserstand im Hafen zwischen Ebbe und Flut um mehr als zwei Meter, ein Orkan aus Nordwest kann das Hochwasser gar um vier Meter ansteigen lassen. In ein paar Jahrzehnten, bei dann höherem Meeresspiegel, könnten es bei einer ungünstigen Konstellation von Flut, Wind und Mond auch sechs Meter werden. In der architektonisch spektakulären Hafencity rechnet man deswegen nicht mit Millionen-, sondern mit Milliardenbeträgen.

Der Tourist, der etwa im Chilli-Club seinen Latte Macchiato schlürft und durch grünes Spezialglas auf die weißsteinerne Treppenlandschaft der Magellanterrassen hinausschaut, säße bei Sturmflut schon unter der Wasserlinie. Falls ihm die Drahtseile draußen an den Häusern auffallen, hält er sie vermutlich für Dekoration. Dabei dienen sie dem Hochwasserschutz. An den Drahtseilen sind unten in einem Kanal Hohlkörper befestigt. Wenn das Hochwasser kommt, drückt es die von den Seilen geführten Hohlkörper an der Fassade nach oben. Sie schützen so die Fenster vor Treibgut. Das exklusive Vorzeigeviertel der Stadt liegt nämlich außerhalb der Hauptdeichlinie und ist auf zwei Ebenen angelegt. Die untere darf überflutet werden.

Gewärmt vom Milchkaffee schlendert der Tourist bei seinem Rundgang zunächst auf der Promenadenebene an Bars und Bistros vorbei. Die massiven Stahltore, mit denen man hier alle Hauseingänge binnen Minuten wasserdicht abschließen kann, bemerkt er vermutlich erst, wenn man ihn darauf aufmerksam macht. Ebenso wie die hier und da sichtbaren grauen Außenwände der Tiefgaragen. Die Garagen sind von mächtigen Betonwannen umgeben und können deshalb nicht volllaufen.

Von der Promenadenebene führen Treppen mehr als zwei Meter hinauf zum Kaiserkai, auf die selbst bei extremem Hochwasser trocken bleibende Straßenebene. Am östlichen Ende des Kaiserkais, vorbei an den Schaufenstern von Nobelmaklern und Läden mit maritimem Tinnef, hat der Tourist die Wahl: Er kann den Weg über eine Rampe wieder hinab in die viel- besuchte Speicherstadt fortsetzen. Dort durften die Straßen aus Denkmalschutzgründen nicht angehoben werden. Oder er geht über eine Brücke Richtung Innenstadt. Dass diese vermeintliche Fußgängerbrücke ungewöhnlich breit und für Einsatzfahrzeuge bis zu 30 Tonnen zugelassen ist, fällt kaum auf. Sie gehört zu einem von mehreren hochwassersicheren Flucht- und Evakuierungswegen raus aus der Hafencity.

Am Ende der Brücke hat der Tourist die Speicherstadt im Rücken und geht eine ebenso breite Rampe wieder hinab. Wenn er dann auf der anderen Straßenseite im Weinrestaurant Schoppenhauer auf dem Fotohandy seine Bildausbeute aus der Hafencity bestaunt, hat er vermutlich nicht gemerkt, dass er auf den Rampen gerade über den Hauptdeich gewandert ist, der Hamburgs Innenstadt vor der Flut schützt.

Die Hafencity liegt außerhalb. Zum Schutz vor Sturmfluten wurden ihre Gebäude nach dem Warftenprinzip konstruiert. Warften sind Erdaufschüttungen, auf die man Häuser baut, damit sie höher liegen. In der Hafencity dienen die Tiefgaragen als Warft: die Wohnungen und Büros stehen sicher auf den hohen Betonwannen der Garagen – acht bis neun Meter über Normalnull und gut zwei Meter über dem höchsten je gemessenen Hochwasser. Die Promenadenebene verläuft zwar auch noch zwei Meter über dem Mittleren Tidehochwasser, ist aber so angelegt, dass sie volllaufen darf, und sie tut es auch: bei Orkan „Felix“ im Januar stieg das Hochwasser drei Meter über das Niveau des mittleren Hochwassers, im Jahr 2013, leckte die von „Xaver“ erzeugte Sturmflut sogar an der Vier-Meter-Marke. Dann wird die Hafencity zur Insel, ohne dass jemand zu Schaden kommt.

Ganz ohne hanseatische Zurückhaltung testieren sich die Erbauer des Viertels denn auch „das beste urbane Hochwasserschutzkonzept in Europa – ein Vorbild für andere Städte“. „Verständlich“, kommentiert Till Scherzinger in Bremerhaven trocken. „Den Hamburgern steckt immer noch ihr Trauma von 1962 in den Knochen“ Damals kamen bei einer Sturmflut 315 Menschen im Stadtgebiet um, eine Katastrophe, die sich nie wiederholen soll, auch nicht bei einem höheren Meeresspiegel. „Das Meer kommt“, sagt Scherzinger, „aber es kommt langsam. Wir haben die Chance zu reagieren, uns anzupassen.“

Jetzt will er den Jugendklimarat nicht länger warten lassen. Er kehrt der grauen Nordsee den Rücken und geht Richtung Hochschule, wo die 15- bis 21-Jährigen zusammensitzen. Wie selbstverständlich anders viele von den jungen Leuten denken als ihre Eltern aus der Konsum- und Haben-wollen-Generation, verblüfft den Leiter des Klimastadtbüros immer noch ab und zu. Dass, nur ein Beispiel, nicht mehr das eigene Auto ganz oben auf der Wunschliste steht, dass sie eher in den Kategorien von Teilen denken als im Besitz von immer Neuem. „Da sitzen die Entscheider der nächsten Generation“, sagt Scherzinger. „Sie wissen: „Die Folgen des Klimawandels betreffen vor allem sie. Noch haben wir gemeinsam Zeit, uns vorzubereiten“, wiederholt er. „Aber wir stehen erst am Anfang.“

(NG, Heft 3 / 2015, Seite(n) 134 bis 139)

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