Tiefsee: Abtauchen für ein sicheres Morgen

Bremer Wissenschaftler erkunden den Grund des Mittelmeers auf der Suche nach einem Energieträger der Zukunft: Methanhydrat birgt enorme Chancen, aber auch große Risiken. Auf Expedition an Bord des Forschungsschiffs „Meteor“.

Von Siebo Heinken
Foto von Philipp Spalek

Zusammenfassung: Wie in Frank Schätzings Roman "Der Schwarm“ suchen Bremer Geologen vor der Küste Kalabriens den Energieträger der Zukunft: Methanhydrat. Das Gas birgt viele Chancen, aber auch große Risiken. Zwischendurch drohte die Mission jedoch zu scheitern: die Technik streikte. Letztendlich fanden die Forscher keine Spur von Methanhydrat. Dennoch schafften sie etwas, das bisher noch kaum jemandem geglückt ist: Sie fertigten präzise Karten des Meeresboden an.

Die Tiefsee stinkt nach faulen Eiern. Als das graue Plastikrohr auf den Tisch gehoben wird, fliehen die Matrosen aus dem Labor. Aber Gerhard Bohrmann lächelt. „Super“, sagt der Geologe „genau getroffen! Direkt in den Vulkan, 1600 Meter unter uns.“

Wir sind knapp 50 Kilometer vor der Küste Kalabriens. Es ist der siebte Tag unserer Expe­dition, kurz nach neun Uhr abends. Nacht um­hüllt uns, nur vom italienischen Stiefel schim­mert in der Ferne das Licht der Küstenorte. Das Mittelmeer hat Ruhe gegeben, die „Meteor“ liegt still auf dem Wasser. Sie ist „eingeparkt“, ihr Navigationssystem hält sie auf 38 Grad 36,45 Minuten Nord, 17 Grad 11,24 Minuten Ost: ge­nau oberhalb von zwei Schlammvulkanen. Aus einem haben die Wissenschaftler gerade die Sedimentprobe genommen und ins Labor ge­bracht. Sie soll ihnen Auskunft darüber geben, wann und wie dieser Vulkan zuletzt ausgebro­chen ist und was er aus dem Erdinneren an die Oberfläche gebracht hat.

Schlammvulkane? Seit wenigen Jahrzehnten erst erforschen Wissenschaftler dieses geolo­gische Phänomen. Aus Öffnungen in der Erd­kruste wird kein Magma, sondern eine Mi­schung aus Ton und Wasser ausgespuckt. Solche Formationen kommen vor allem dort vor, wo sich eine Erdplatte unter die andere schiebt und dadurch Schlamm nach oben gepresst wird. 50 solcher Vulkane gibt es allein hier, im Kalabri­schen Bogen, wo die Afrikanische auf die Eura­sische Erdplatte trifft, mehr als 500 bekannte im östlichen Mittelmeer, wohl Zehntausende welt­weit. Die meisten verborgen in der Tiefsee.

Gerhard Bohrmann und sein Team von 30 Wissenschaftlern interessieren nicht nur die Vulkane selbst, sondern besonders die Gase, die sie in großer Menge freisetzen: Schwefelwasser­stoff und Propan, vor allem aber – Methan. In großen Tiefen bildet es zusammen mit Wasser­molekülen eine Substanz ähnlich wie Schnee­matsch, die Forschern noch immer Rätsel auf­ gibt: das Methanhydrat. Es löst Hoffnungen wie Ängste aus. Manche sehen es als Superstoff für unsere Gesellschaft, die wie ein Junkie an der Energiespritze hängt, andere fürchten den gol­denen Schuss für die Menschheit.

Methan entsteht über Millionen Jahre im Meer, wenn Bakterien abgestorbenes organisches Material abbauen, das auf den Boden gesunken ist und von Sediment bedeckt wurde. Kommen hoher Druck und tiefe Temperaturen zusammen, dann bildet Methan mit Wassermolekülen das Gashydrat. In Polargebieten findet man es schon in 250 bis 300 Metern, in wärmeren Gewässern in größerer Tiefe, wo der Druck höher ist. Besonders oft kommt es an den Kontinentalrändern vor, wo sich weit mehr Nährstoffe ablagern als in der Tiefsee. Wissenschaftler schätzen die Menge des Methanhydrats in allen Weltmeeren auf 100 Gigatonnen (entspricht 100 Milliarden Tonnen), manche sogar auf bis zu 530.000 Gigatonnen. Es könnte ein Mehrfaches der Energie liefern als alle weltweit noch zur Verfügung stehenden Vorräte an Erdöl, Erdgas und Kohle. Ein Kubikmeter Methanhydrat enthält 164 Kubikmeter Methan. In Japan wurde bereits damit begonnen, es versuchsweise zu fördern. Energiekonzerne wittern ihr nächstes großes Geschäft.

Doch Forscher warnen. „Wir wissen zu wenig über die Folgen des Abbaus für Umwelt und Ökosystem“, sagt Gerhard Bohrmann, 59, Professor für Geologie an der Universität Bremen und stellvertretender Direktor des Zentrums für Marine Umweltwissenschaften (Marum), eine Kapazität seines Fachs. Der Wissenschaftler ist das Vorbild der gleichnamigen Figur in Frank Schätzings Ökothriller „Der Schwarm“. Ein Buch über eine geschundene Natur, die Rache an den Menschen nimmt. Schätzing lässt Bohrmann als Held im Kampf gegen Würmer auftreten, die dieses Hydrat auflösen, wodurch unterseeische Hänge abrutschen. Tsunamis zerstören daraufhin halb Nordeuropa und bedrohen Amerika.

Die Würmer waren Fantasie des Autors, die Flutwelle ist Realität. Man weiß, dass Methanhydrat die Kontinentalhänge stabilisiert wie Zement den Mörtel. Vor 8000 Jahren gab es durch die sogenannte Storegga-Rutschung an der norwegischen Küste einen bis zu 20 Meter hohen Tsunami, der das Leben auf den Shetland- und Faröer-Inseln vernichtete und Island erreichte. Ein wahrscheinlicher Auslöser, das weiß man heute: instabil gewordenes Methanhydrat am Meeresboden.

Noch gravierender sind die möglichen Folgendes Klimawandels auf das Methanhydrat. Wirddas Wasser in der Tiefe zu warm, löst der Matsch sich auf. Methan wird freigesetzt und steigt nach oben. In der Atmosphäre wirkt dieses Gas 23-mal stärker als Kohlendioxid und kann die Erderwärmung dramatisch beschleunigen. Wie zuletzt vor 56 Millionen Jahren. Möglicherweise als Folge gewaltiger Vulkanausbrüche stieg die Temperatur der Atmosphäre stark an, die Wärme gelangte in große Meerestiefen und destabilisierte riesige Vorkommen von Methanhydrat. Das aufsteigende Methan verstärkte den Treibhauseffekt – eine Kettenreaktion. Es gab ein großes Artensterben.

„Über all diese Dinge müssen wir noch viel mehr erfahren“, sagt Bohrmann. „Deshalb ist unsere Grundlagenforschung so wichtig.“ Weltweit erforschen Wissenschaftler wie er Schlammvulkane und Methanhydrat. Wie bildet und zersetzt es sich? Was passiert, wenn als Folge der Klimaerwärmung auch die Ozeane wärmer werden? Steigt das Methan zur Wasseroberfläche, oder wie viel davon wird im Meer von Mikroorganismen zersetzt? Dürfen wir diese fossile Energie überhaupt nutzen? So soll auch diese Reise mit der „Meteor“ ein neues Puzzleteil liefern. Irgendwann, so hoffen die Forscher, können sie das ganze Bild zusammensetzen. Aber wie erforscht man eine Welt der völligen Dunkelheit?

Sizilien, erster Abend der Expedition: Vor zwölf Stunden haben wir mit dem Forschungsschiff von Catania aus östlichen Kurs genommen und fahren nun ins Nirgendwo der rabenschwarzen Nacht. Zwei Wochen werden wir hier, im Ionischen Meer, unterwegs sein. Auf der Brücke hält der leitende Offizier Tilo Birnbaum-Fekete, 39, Wache. Die Digitalanzeigen werfen einen roten Schimmer auf sein schmales Gesicht. Leise summt die Klimaanlage.

Ein Deck darunter liegt ein karger, zweckmäßiger Raum. Ein paar Fenster und 17 Monitore: die Schaltzentrale der Forscher. Seit wir am späten Vormittag die italienische Zwölfmeilenzone verlassen haben, tastet das Fächerecholot der „Meteor“ den Meeresboden in einem fast fünf Kilometer breiten Streifen ab und liefert die Daten in den Lotraum. Die 32-jährige Geologin Miriam Römer starrt konzentriert auf einen der Bildschirme. Sie wartet. Das Echolot sendet alle zwei Sekunden fächerförmig ein akustisches Signal zum Meeresboden, nimmt dessen Echo auf, wenn es auf Widerstand stößt, und misst die Distanz dorthin. Aus der Summe der Signale erstellen die Kartografen an Bord topografische Karten der Tiefsee mit einer Genauigkeit von 25 Metern. Das Echolot reagiert auch auf Gasblasen, die vom Meeresboden aufsteigen. Von französischen und italienischen Expeditionen wissen die Forscher zwar, wo sich die 50 bekannten Schlammvulkane dieses Meeresgebiets befinden, nicht aber, welche aktiv sind. Darauf geben die Gasblasen Hinweis – und diese müssen die Wissenschaftler zunächst in der Tiefe des Mittelmeers finden.

Miriam Römer schüttelt den Kopf: „Noch kein Gas in Sicht.“ Wir suchen die Nadel im Heuhaufen. Erst wenn die Forscher aufsteigendes Gas entdeckt haben, werden sie das „Marum-Seal“ zu Wasser lassen: ein 5,5 Meter langes, knallgelbes, torpedoförmiges Tauchgerät, dessen Echolot Daten aus größerer Nähe liefern soll, mit denen präzise Karten in einer Auflösung von einem halben Meter erstellt werden. Danach soll der Roboter „Marum-Quest“ zum Einsatz kommen, Bilder aus der Tiefsee nach oben schicken und überdies Proben nehmen. So wollen sich die Wissenschaftler an ihren Forschungsgegenstand anderthalb Kilometer unter ihnen heranzoomen.

Sie hoffen auf gutes Wetter. Nur bei einigermaßen ruhiger See sendet das Echolot klare Signale, nur bei wenig Wellengang können die Forscher ihre Geräte aussetzen. Sturm! Am nächsten Morgen rollt die „Meteor“, 97,5 Meter lang, blauer Rumpf und weiße Aufbauten, ein schwimmendes Labor für Geologen, Biologen und Ozeanologen, sie stampft und schüttelt sich. Vier bis fünf Meter hohe Wellen. Tief taucht ihr Bug in die Täler, Gischt hüllt das Vorschiff ein. „Was willst du in meinem Reich?“, scheint das Meer ihr zuzubrüllen.

In der Dusche schwappt das Wasser von einer Seite zur anderen und findet den Abfluss nicht. Vom Kabinendeck gehen wir wie auf Eiern drei Treppen – Niedergänge in der Seemannssprache – hinunter zur Messe, eine für die Schiffsführung und die Wissenschaftler aus vier Ländern, eine andere für Techniker und Matrosen. Punkt 7.15 Uhr, Frühstück. Rührei, Pfannkuchen, Obst. Die Bullaugen sind durch „Panzerblenden“ verschlossen, wie Peitschenhiebe knallen die Wellen gegen die Bordwand. Einer der beiden Köche hockt blass vor Übelkeit in der Kombüse und mag nicht kochen.

Blick in den Lotraum. Die Bürostühle rutschen vor und zurück, draußen schäumt das Meer, aber Miriam Römer sitzt unbeeindruckt von Sturm und Wellen vor dem Bildschirm. Betrübt schüttelt sie den Kopf: „Immer noch keine Gasfahnen.“ Gerhard Bohrmann gibt die Losung für den Tag aus: weiter den Meeresboden kartieren und nach Gasfahnen Ausschau halten. Dazu „Matratzen“ fahren, also ein von den früheren Expeditionen bekanntes Gebiet genauer untersuchen. Indem die „Meteor“ dort ihre Bahnen zieht, liefert sie weitere Daten für Karten. Nach knapp 40 Fahrten als Expeditionsleiter lässt Bohrmann sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, von Sturm schon gar nicht.

Am nächsten Morgen hat sich die See beruhigt. Blick in den Lotraum. Miriam Römer hat die halbe Nacht gewacht, aber sie strahlt. „Hey, wir haben eine Gasfahne gefunden!“ Die Aufnahme des Echolots zeigt einen weißen Strahl, der etwa 150 Meter hoch vom Meeresboden aufsteigt – direkt aus einem Schlammvulkan, den die italienische Expedition einige Jahre zuvor gefunden und Venere, „Venus“, getauft hatte. Der Kartograf Paul Wintersteller, 44, hat bereits eine topografische Darstellung erstellt, aber sie zeigt noch zu wenige Details.

Die Expedition nimmt Tempo auf. Gerhard Bohrmann möchte eine genaue Karte der beiden Vulkane. Das gelbe „Seal“, ein autonom operierendes Unterwasserfahrzeug (AUV), soll zu Wasser gelassen werden und die Region scannen. Doch Teamleiter Gerrit Meinecke, 55, schüttelt den Kopf. Computerfehler. Das „ Seal“ wird so programmiert, dass es selbstständig etwa 80 Meter über dem Meeresboden „Matratzen“ fährt und dann wieder aufsteigt – aber die Probeläufe der Software sind fehlgeschlagen.

Das Risiko, das zwei Millionen Euro teure Fahrzeug zu verlieren, ist Meinecke zu groß. „Manchmal geht alles glatt, manchmal bastelst du dir einen Wolf und musst andauernd improvisieren“, sagt der Geologe und zündet ein neues Zigarillo an. Dann, als habe er eine Vorahnung: „Du kannst dieses Gerät in anderthalb tausend Meter Tiefe nicht mal eben anschieben.“ Gerhard Bohrmann drängt. Das Barometer fällt, der nächste Sturm kündigt sich an. Der Tauchroboter „Quest“ soll vorher noch ins Wasser, dann eben ohne genaue Karte. Start am Abend, Dauer acht Stunden.

Wie ein Tauchgerät sieht dieses ferngesteuerte Fahrzeug (ROV) auf den ersten Blick nicht aus. Ein quaderförmiges Gerät, etwas größer als ein Smart, 3,5 Tonnen schwer, bestehend aus einigen Motoren und Propellern, Schläuchen und mehrfarbig blinkenden Steckern, die den Kasten ein wenig wie eine Kirmesbude aussehen lassen. Im unteren Bereich befinden sich Schubladen und diverse Behälter für die Proben vom Meeresgrund. An der Vorderseite sind sieben Kameras befestigt, Scheinwerfer und zwei etwa 1,50 Meter lange Kombizangen: die Greifarme.

Ein leistungsfähiger Roboter, 3,5 Millionen Euro teuer, gebaut für bis zu 4000 Meter Wassertiefe. Der Druck dort unten ist 400-mal so hoch wie an der Oberfläche. Viele Tiere überleben ihn nur, weil sie zum großen Teil selbst aus Wasser bestehen, das sich nur wenig zusammendrücken lässt. Die Konstrukteure des „Quest“ haben dieses bionische Prinzip übernommen und viele Bauteile mit Öl gefüllt. So bleiben sie immer stabil. Falls doch etwas leckschlagen sollte, entweicht etwas Öl, es kann kein Wasser eindringen und die empfindliche Elektronik beschädigen.

Ein 5000 Meter langes, gut fingerdickes Kabel verbindet den Roboter mit der „Meteor“, darin acht Glasfaserkabel, drei Stromleitungen für 3000 Volt und ein Stahlseil. Der Meeresgeologe Christian Reuter ist Leiter des „Quest“-Teams und einer der Piloten. Er hat ein herzliches Lachen und bringt gern einen derben Spruch. Technisches Gerät, um die Tiefsee zu erkunden, hat ihn schon während seines Studiums interessiert. „Das ist alles unglaublich faszinierend“, sagt der 38-Jährige und strahlt wie ein Junge über seine Carrerabahn. „Man taucht in eine bizarre, außerirdisch scheinende Welt.“

Er erinnert sich genau an den ersten Tauchgang, in der Antarktis. „Plötzlich sah ich einen Schwamm mit einer Garnele, die mit ihm in einer symbiotischen Beziehung lebte. Es war eine Szene wie von einem anderen Stern. Wenn ich daran zurückdenke, bekomme ich immer noch feuchte Hände.“

Jetzt sitzt er in einem Container, von dem aus er das „Quest“ dirigiert. Über den Heckgalgen der „Meteor“ zu Wasser gelassen, sinkt der Roboter mit einem halben Meter pro Sekunde in die Tiefe. Für jede Kamera des „Quest“ ist ein Bildschirm im Container installiert, die Nasa-Kommandozentrale im Kleinformat. Fahles blaues Licht umgibt uns, helle Schwebkörper huschen vorbei. Auf einer Anzeige verfolgen wir die Tauchtiefe, mit ruhiger Stimme macht Christian Reuter seine Ansagen.

1489 Meter. „Alles nach Plan.“

1553 Meter. „Ich glaube, da kommt was.“

1560 Meter. „Bodenkontakt. Alles läuft top.“

Das Schiff schwankt in der sanften Dünung, fast im gleichen Rhythmus wie das „Quest“ anderthalb Kilometer unter uns. Sind wir hier oben? Oder selber mit da unten? Nie zuvor hat ein Mensch diesen Ort gesehen. Die vier bis fünf Meter in die Finsternis leuchtenden Scheinwerfer und die Kameraaugen zeigen eine karge Landschaft. Dort gibt es kein Sonnenlicht, keine Fotosynthese und daher auch keine Pflanzen. Plötzlich schwebt eine farblose Garnele wie eine Balletttänzerin über den Bildschirm. Ein nadelförmiger Fisch gleitet über weiße Flecken – Bakterienmatten, von denen sich das Tier ernährt. Alles hier beruht auf Chemosynthese: Bakterien leben von chemischen Substanzen wie Methan, andere Tiere wiederum von den Bakterien. Dann, als das „Quest“ gerade eine Probe der Mikroorganismen nehmen soll, passiert es: Der Roboterarm schlägt nach links und lässt sich nicht mehr bewegen.

Eine Stunde später ist das Gerät wieder an Deck. Mit ernstem Gesicht kommt Christian Reuter aus dem Kontrollraum. also: „Wat’n Mist“, schimpft einer aus seinem Team. Fehlersuche. Anschlüsse werden gelöst, der Arm wird demontiert. Drei Stunden später wissen sie: nur ein gebrochenes Kabel. Christian Reuter atmet auf. „So etwas ist bei Expeditionen ganz normal.“ Es bleibt nicht das einzige Problem. Kaum repariert, versagt der Arm am nächsten Tag schon wieder. Mit versteinerter Miene kommt der Teamleiter aus dem Container. Erneut müssen sie suchen, Teile zerlegen. Nach Stunden finden sie den Fehler: eine verstopfte Düse der Hydraulik.

Stress. Gerhard Bohrmann wird ungeduldig, die Zeit läuft ihm davon. Wie sollen sie zu Ergebnissen kommen, wenn die Technik versagt? Jeder Tag mit der „Meteor“ kostet 30.000 Euro nur für den Schiffsbetrieb. Wenigstens ist das „Seal“ jetzt einsatzbereit und wird zu Wasser gelassen. Einige Hundert Meter entfernt taucht es zum Venere-Vulkan ab und fährt wie vorgesehen seine Bahnen. Sieben Stunden später kommt der Torpedo zur Oberfläche zurück. Als die Techniker die Daten auslesen, werden sie blass. Die Aufzeichnung wurde abgebrochen. Ratlose Gesichter. Ist die Festplatte defekt? Es ist Wochenende, vom norwegischen Hersteller können sie erst am Montag Hilfe erwarten.

Immerhin deutet die mit den wenigen Daten erstellte Karte an, dass dort unten vor nicht langer Zeit noch Schlamm geflossen ist. Noch mehr Stress. Nicht eine Maschine einsatzbereit. Bohrmann entscheidet: Wir nehmen Wasser- und Sedimentproben. Können sie Aufschluss darüber geben, was dort unten passiert? Für Wasserproben haben sie den Kranzwasserschöpfer an Bord, eine Batterie aus 21 Flaschen mit Deckeln auf beiden Seiten. Er wird zum Meeresgrund gelassen und wieder hochgezogen. Auf dem Weg nach oben strömt das Wasser durch die Flaschen. In regelmäßigen Abständen wird eine nach der anderen geschlossen. So werden Proben in unterschiedlichen Tiefen gesammelt. Im Labor kann gleich darauf analysiert werden, wie sich der Methananteil in der Wassersäule verändert.

Oft müssen die Forscher grobes Werkzeug einsetzen – etwa, um Sedimentproben zu nehmen. Wir sind auf Position 38 Grad 36,45 MinutenNord, 17 Grad 11,24 Minuten Ost, exakt oberhalb des einen Venere-Vulkans. Neun Uhr abends. Vor drei Stunden hat sich die Dunkelheit über das Meer gelegt, auf der einsam dümpelnden „Meteor“ sorgt ein Dutzend Scheinwerfer für taghelles Licht. Ein lauer Abend, einige Wissenschaftler und Matrosen plaudern beim Bier hinten auf dem Arbeitsdeck.

Der Biologe Heiko Sahling, 46, auch ein Wurmjäger in Frank Schätzings „Schwarm“, schiebt ein graues Plastikrohr in das Metallrohr des Schwerelots, dann wird die Konstruktion mit dem Kran außenbords geschwenkt und an einem Stahlseil langsam in die Tiefe gelassen. Das Schwerelot besteht aus einem 1,5 Tonnen schweren Eisenblock, an dem das Metallrohr angebracht ist. Das Gewicht soll es drei Meter tief in den Meeresgrund drücken. Ein Signalgeber am Stahlseil ist direkt mit dem Navigationssystem der „Meteor“ verbunden – so kann das Schiff das Pendel präzise zum Ziel führen.

Das Schwerelot müsste mitten in den Schlammvulkan stechen. Anderthalb Stunden später zieht der Kran das Gerät wieder aus dem Wasser. Vorsichtig nehmen die Forscher das Plastikrohr aus der Metallhülle, bringen Markierungen an, portionieren es mit einer kleinen Flex und tragen die Abschnitte wie ihren Schatz ins Labor. Dort schneiden sie die Röhre längs auf und öffnen sie.

Die Tiefsee stinkt nach faulen Eiern. Schwefelwasserstoff, die Zutat für Stinkbomben, die neugierigen Matrosen stürmen aus dem Labor. Aber die Forscher gehen begeistert ans Werk. „Der erste Kern ist immer ein riesiger Moment“, sagt Miriam Römer. „Zum ersten Mal sehen wir, was dort unten ist.“ Sie schnüffeln an der Probe, fühlen die Zusammensetzung des Tons zwischen den Fingern, analysieren die Grautöne, graben mit Spateln nach Muschelschalen und kleinem Gestein. Gerhard Bohrmann nimmt ein Stück, so groß wie eine Fingerkuppe. „Das ist ganz klar aus dem Schlammvulkan. An der Größe sieht man, dass es mit großem Druck nach oben gedrückt wurde, vielleicht aus einer Tiefe von zehn oder zwölf Kilometern unter dem Meeresboden“, sagt er. „Volltreffer.“

Der Geologe hat Feuer gefangen, will den Venere-Vulkanen auf den Grund gehen. Doch die Tiefsee bleibt widerspenstig. Immer wieder frischt der Wind in den nächsten Tagen so stark auf, dass die Wissenschaftler keine Geräte einsetzen können. Dann verlassen wir unsere Position oberhalb der Schlammvulkane und sammeln Daten für Tiefseekarten. Stunde um Stunde fahren wir über ein Meer ohne Anfang und ohne Ende, insgesamt 1500 Seemeilen, knapp 3000 Kilometer. Zurück bei den Venere-Vulkanen, nehmen die Forscher weitere Wasserproben und ziehen Sedimentkerne.

Die Tage vergehen. Das „Seal“ ist repariert und liefert einige Daten. Aber die Stimmung bleibt angespannt. Das „Quest“ konnte immer noch nicht wieder eingesetzt werden wie geplant. Wie sieht es am Meeresboden genau aus? Der Morgen des 13. Tags, die See ist fast glatt. Unsere zweiwöchige Expedition neigt sich dem Ende zu. Aufregung. In der Nacht haben die Wissenschaftler das „Seal“ fast verloren. Während es über dem Meeresgrund eine „Matratze“ fuhr, erkannten die Techniker auf ihrem Bildschirm plötzlich Unregelmäßigkeiten. Erst fuhr das Tauchgerät eine unvorhergesehene Schleife, dann wich es noch weiter vom Kurs ab. Schließlich stieg es erst sehr langsam, dann plötzlich ganz schnell auf. Als es an der Oberfläche war, sah das Team, dass sich eine Perlonschnur in der Antriebsschraube verfangen hatte und dann durchschlagen worden war. Wohl die Langleine eines Fischerboots. „Nicht auszudenken, wenn es ein Stahlseil gewesen wäre“, sagt Teamleiter Gerrit Meinecke.

Endlich wird das „Quest“ zu Wasser gelassen. Zwei Stunden später kommt Gerhard Bohrmann über den Gang gelaufen. „Kommt schnell, ein großes Blasenfeld!“ Zwei Treppen nach unten, der Forscher nimmt zwei Stufen auf einmal. Im Labor, wohin die Bilder aus der Tiefsee übertragen werden, blicken die Wissenschaftler gebannt auf den Bildschirm. Es blubbert, als hätte jemand eine Sprudelflasche geschüttelt. Methan. Miriam Römer sitzt mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl und strahlt.

Nun staunen wir. Wie von selbst öffnen sich die Schubladen, der per Joystick aus dem Kontrollcontainer geführte Greifer schwebt herbei und nimmt ein Instrument nach dem nächsten: den Temperaturfühler, ein Gefäß für die Sedimentproben. Mit einem nach unten gedrehten Becher sammelt er eine Probe des aufsteigenden Gases, dann legt der andere Roboterarm einen Hebel um, und das Methan wird in einen Vakuumbehälter gesaugt. Ein Rochen schwebt vorbei und wirbelt etwas Sand auf. Christian Reuter kommt ins Labor. „Echt geil, wie gut das Ding jetzt funktioniert.“ Gerhard Bohrmann hält eine Karte hoch. Sie entstand mit den Daten, die das „Seal“ aufgezeichnet hatte, bevor es in die Leine geriet. Wir sehen die beiden Venere-Vulkane im Detail. Ihre Kegel ragen 150 Meter vom Meeresboden auf.

Einer scheint nicht mehr aktiv zu sein, beim anderen ist zu erkennen, wo der Schlamm vor nicht allzu langer Zeit den Kegel hinabgeflossen ist. Südlich von ihnen verläuft eine tiefe Rinne, offenbar eine Schlucht, gerissen bei einem Erdbeben oder durch einen Erdrutsch. Eine wilde, zerklüftete Landschaft. „Wäre toll, wenn man dort wandern könnte“, sagt Heiko Sahling. „Man käme aus dem Staunen gar nicht mehr raus.“ Anders als erhofft haben die Forscher auf dieser Expedition keine Spur von Methanhydrat gefunden. „Entweder ist es verschwunden oder doch nicht so verbreitet wie gedacht“, sagt Gerhard Bohrmann. Aber sie haben gelernt, dass Methan hier am Meeresgrund der Tiefsee austritt und sich im Wasser löst. Und eine klarere Vorstellung davon, wie Schlammvulkane funktionieren. Zum Beispiel, dass Eruptionen mit großer Wucht passieren. Alles weitere Teile im großen Puzzle der geologischen Tiefseeforschung. Vor allem haben sie jetzt präzise topografische Karten von Schlammvulkanen. Das ist bisher kaum jemandem geglückt. Gerhard Bohrmann lächelt. „Hier machen wir weiter. Es wird immer interessanter.“

(NG, Heft 4 / 2015, Seite(n) 44 bis 65)

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