Ein farbenblinder Künstler wurde zum ersten Cyborg der Welt

Neil Harbisson kann ultraviolette Strahlung sehen. Das ermöglicht ein antennenähnliches Implantat, welches seine Lichtwahrnehmung verbessert und ihm Supersinne verleiht.

Von Michelle Z. Donahue
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:30 MEZ
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Der Künstler Neil Harbisson trägt eine Antenne, die es ihm ermöglicht, Farben durch Vibrationen in seinem Schädel zu „hören“.
Foto von Marek Zakrzewski, Epa

Von Prothesen bis zu Pharmazeutika haben Menschen seit Jahrtausenden Technologien genutzt, um ihre physischen und mentalen Fähigkeiten zu verändern. Mit den rasanten Entwicklungen der Technologien unserer heutigen Zeit nehmen einige Menschen die Möglichkeiten der Augmentation wahr, um ihrer Individualität Ausdruck zu verleihen und die Welt auf eine völlig neue Art und Weise zu erleben.

Der 33-jährige Neil Harbisson ist so ein Mensch. Der Künstler wurde mit Achromasie geboren, also vollständiger Farbenblindheit. Für Harbisson ist seine natürliche Sicht auf die Welt eine Bereicherung und keine Behinderung, trotzdem wollte er in der Lage sein, verschiedene Dimensionen des Sehvermögens zu begreifen.

Seit 13 Jahren kann er mittlerweile die sichtbaren und unsichtbaren Wellenlängen des Lichts „hören“. Ein antennenähnlicher Sensor in seinem Kopf übersetzt verschiedene Wellenlängen in Vibrationen an seinem Schädel, die er dann als Geräusche wahrnimmt.

Er wird oft als der erste offizielle Cyborg der Welt bezeichnet, nachdem die britische Regierung ihm gestattet hat, seine Kopfbedeckung auf seinem Passfoto zu tragen. Laut Harbisson sind solche technischen Augmentationen eine natürliche und vielleicht sogar notwendige Strategie für Menschen, um sich an ihre ungewisse Zukunft anzupassen.

In einem Telefoninterview von einem Café in Spanien aus sprach er mit uns über die Vorteile von zusätzlichen Sinnen.

Wie würden Sie das Gefühl beschreiben, ein Cyborg zu sein?

Es gibt keinen Unterschied zwischen Software und meinem Gehirn oder zwischen meiner Antenne und einem anderen Körperteil. Eins mit der Kybernetik zu sein, gibt mir das Gefühl, dass ich selbst Technologie bin.

Die Definition, die [der Wissenschaftler] Manfred Clynes 1960 für den Begriff „Cyborg“ aufstellte, besagte Folgendes: Um neue Umgebungen zu erforschen und darin zu überleben, müssen wir uns selbst ändern anstatt unsere Umgebung zu ändern. Jetzt haben wir die Werkzeuge, um uns zu verändern. Wir können neue Sinne und neue Organe hinzufügen.

Warum haben Sie diesen Sinn für sich erschaffen?

Ich wollte damit nie irgendwas überwinden. Es hat viele Vorteile, nur in Graustufen zu sehen. Ich habe eine bessere Nachtsicht. Ich kann mich besser an Formen erinnern und werde nicht so leicht durch Tarnmuster getäuscht. Und Schwarz-Weiß-Kopien sind billiger. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ein körperliches Problem habe, und ich wollte nie etwas an meiner Sicht ändern. Ich wollte ein neues Organ zum Sehen erschaffen.

Was ist der außergewöhnlichste Aspekt Ihrer übersinnlichen Wahrnehmung?

Zuerst konnte ich nur das sichtbare Lichtspektrum wahrnehmen, aber ich habe dann aufgerüstet, um auch Infrarot und Ultraviolett einzuschließen. Damit kann ich zum Beispiel sagen, ob es ein guter oder schlechter Tag ist, um in der Sonne zu liegen. Wenn ich spüre, dass es gerade viel ultraviolettes Licht gibt, ist es kein guter Tag dafür. Also weiß ich, dass ich etwas warten oder extra viel Sonnencreme auftragen sollte.

Wenn ich Waldspaziergänge mache, mag ich die mit viel UV. Sie sind laut und klingen sehr hell. Man sollte meinen, Wälder seien ruhig und friedlich, aber wenn es dort viele ultraviolette Blumen gibt, ist es ganz schön laut.

Welche sind die einprägsamsten Fragen, die Sie zu Ihrer Antenne bekommen haben?

Es gibt keine ganz typischen Fragen, aber es ändert sich mit der Zeit, für was die Leute meine Antenne halten. 2004 dachten sie, es wäre ein Leselicht, und fragten mich, ob ich es anschalten könnte. 2007 war es ein Freisprechgerät, 2008 und 2009 eine GoPro-Kamera. 2015 dachten viele Kinder, es wäre so eine Art ausziehbarer Selfie-Stick. Letztes Jahr fingen Leute an, mir „Pokemon!“ entgegenzurufen. In einem kleinen italienischen Dorf hat mich ein alter Mann gefragt, ob ich damit Cappucchinos machen kann.

Wenn die Leute stattdessen anfangen zu fragen: „Was kannst du damit wahrnehmen?“, weiß ich, dass es zur Normalität geworden ist und dass die Leute verstehen, dass es ein Sinnesorgan ist.

Wie hat sich Ihr Erleben der Welt verändert, seit Sie das Implantat haben?

Mein Verständnis der Welt ist tiefgreifender geworden. Je mehr man seine Sinne erweitert, desto mehr existiert, das man wahrnehmen kann. Wenn man seit Jahren im selben Haus lebt, wiederholen sich die Dinge, die man dort wahrnimmt. Wenn man einen neuen Sinn hinzufügt, wird das Haus aber völlig neu.

Wie hat sich Ihre Selbstwahrnehmung verändert?

Ich fühle mich stärker mit der Natur verbunden. Ich sehe mich selbst als Trans-Art: Eine Antenne zu haben ist für viele Arten normal, ebenso wie die Wahrnehmung von Infrarot und Ultraviolett, aber für Menschen ist es nicht üblich.

Welche anderen Technologien könnten die Grenzen dessen durchbrechen, was als menschlich betrachtet wird?

Die meisten Projekte, die ich sehe, sind Chips, Software oder Apps, die einem Informationen liefern, aber keine Sinne. Wir haben all diesen Maschinen die Sinne verliehen statt uns selbst, wie zum Beispiel Autos, die wissen, was sich hinter ihnen befindet, während wir das nicht können.

Man stelle sich etwas wie einen Ohrring vor, der einem eine 360°-Wahrnehmung seiner Umgebung geben könnte und vielleicht summt, wenn jemand hinter einem steht. Ich finde es merkwürdig, dass so simple Dinge nicht passieren.

Sollte es Beschränkungen dafür geben, wie sich Leute modifizieren können?

Ich denke, wir sollten alle die Freiheit haben, uns selbst so umfassend zu designen, wie wir wollen. Jeder Sinn hängt vom Individuum ab. Genau so haben wir ja alle Augen oder Ohren und benutzen die auf verschiedene Art, und Menschen benutzen sie für gute und für schlechte Dinge.

Denken Sie, dass Augmentation letztendlich die menschliche Evolution beeinflussen wird?

Wenn wir irgendwann zum Ende dieses Jahrhunderts damit anfangen, unsere eigenen Sinnesorgane zu drucken und diese mit DNA statt mit Chips implantieren, gibt es eine reale Möglichkeit, Kinder zu gebären, die diese Sinne haben. Wenn die Eltern der Kinder ihre Gene modifiziert oder neue Organe geschaffen haben, dann ja, das wäre dann gerade erst der Anfang einer Renaissance für unsere Art.

Das Interview wurde zugunsten von Deutlichkeit und Länge bearbeitet.

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