Biolumineszenz in der Arktis: Ruderfußkrebse lassen Schnee leuchten

Zum ersten Mal wurde beobachtet, dass der Schnee am Weißen Meer in der Arktischen Zone Russlands blau leuchtet. Forschungen haben ergeben, dass der Auslöser für das Phänomen im Wasser zu finden ist.

Von Elizabeth Anne Brown
Veröffentlicht am 28. Dez. 2021, 13:45 MEZ
Forscher haben erstmals beobachtet, dass der Schnee in der Nähe der Belomorskaya-Forschungsstation in der Russischen Arktis ...

Forscher haben erstmals beobachtet, dass der Schnee in der Nähe der Belomorskaya-Forschungsstation in der Russischen Arktis blau leuchtet.

Foto von Alexander Semenov, White Sea Biological Station WSBS MSU

Hoch im Norden der Arktischen Zone der Russischen Förderation (AZRF) liegt an der Küste des Weißen Meeres auf der Landzunge Kartesh eine abgelegene Forschungsstation der Russischen Akademie der Wissenschaften. Von hier aus bricht die Biologin Vera Emelianenko in einer eiskalten Dezembernacht zu einem Spaziergang auf, begleitet von Mikhail Nerentin, dem Sohn des Molekularbiologen der Station, und zwei Hunden: einem Riesenschnauzer und einem Soft Coated Wheaten Terrier.

Als die Gruppe sich durch den harschen arktischen Wind entlang der vereisten Ufer der Gezeitenzone kämpft, fällt Mikhail Nerentin ein blaues Leuchten im Schnee auf, das aussieht, als hätte jemand sein Handy dort verloren. Die Spaziergänger gehen durch den Schnee auf die Stelle zu, um das Leuchten genauer zu untersuchen. Dabei hinterlassen ihre Schritte hellblaue Streifen am Boden. „Wie blaue Weihnachtslichter im Schnee“, sagt Vera Emelianenko.

Sie blieb stehen, nahm etwas Schnee in die Hand und drückte ihn sanft zusammen: Das Leuchten des Balls intensivierte sich. Auch die Hunde hinterließen schimmernde Spuren, während sie einander durch den Schnee jagten. Es sah aus, als wären die Polarlichter vom Himmel auf die Erde gerutscht.

Schnee, den die Forscher bei ihrem nächtlichen Spaziergang mit den Füßen aufwirbelten oder zerdrückten, leuchtete blau.

Foto von Alexander Semenov, White Sea Biological Station WSBS MSU

Die Entdeckung versetzte sowohl die Biologen der Forschungsstation als auch eine über Russland verteilte Gruppe von Meeresbiologen, die davon erfuhren, in helle Aufregung. Vera Emelianenko und Mikhail Neretin brachten den Fotografen der Station, Alexander Semenov, an die Stelle, an der sich das Phänomen zeigte, damit er die Lichter im Bild festhalten konnte. „Wir sind gute zwei Stunden durch den Schnee getrampelt“, sagt er.

Um die genaue Ursache für die Biolumineszenz zu finden, untersuchte Vera Emelianenko einen leuchtenden Schneeball unter dem Stereomikroskop. Während das Eis schmolz, drückte sie mit einer Nadel auf die winzigen Partikel, die darin enthalten waren, was jedoch keinen Effekt zeigte. Dann aber entdeckte sie einige klitzekleine Ruderfußkrebse in dem Matsch in der Petrischale, die auf ihre Berührung mit einem blauen Leuchten reagierten.

Die Wissenschaftlerin ist es damit gelungen, die erste nachweisbare Erklärung für die Biolumineszenz von arktischem Schnee zu erbringen. Diese wurde zwar zuvor schon von Zeit zu Zeit schon beobachtet, aber nie grundlegend erforscht.

Ruderfußkrebs: Das Leben als Plankton

Ruderfußkrebse sind winzige Krustentiere, die nur wenige Millimeter lang werden. „Sie sind die Insekten des Meeres“, erklärt Steven Haddock, Meeresbiologe mit dem Fachgebiet Tiefseeplankton am Monterey Bay Aquarium Research Institute in Moss Landing, Kalifornien. „Sie sind klein, in großer Zahl vorhanden und dienen einer Vielzahl anderer Meeresbewohner als Futter.“

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    Außerhalb der Wissenschaft wird den Tierchen nicht viel Beachtung geschenkt – und das obwohl die passiven Schwimmer, die der Strömung hilflos ausgesetzt sind, Schätzungen zufolge den größten Teil der Biomasse in unseren Ozeanen ausmachen. Bei der Spezies in Vera Emelianenkos Petrischale handelte es sich um Metridia longa, die von der Küste von Maine bis hin zur kanadischen Hudsonstraße und überall in der Arktis heimisch ist.

    An den Ufern des Weißen Meeres sei das Auftauchen von Metridia jedoch äußerst ungewöhnlich, sagt Ksenia Kosobovka, Expertin für arktisches Zooplankton an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau. Die Ruderfußkrebse würden sich normalerweise in größerer Entfernung zur Küste aufhalten, Im Laufe des Tages sänken sie dort bis auf eine Tiefe von 24 bis 91 Metern ab, erklärt sie. Mit Eintreten der Dunkelheit stiegen sie dann bis auf wenige Meter an die Oberfläche. Da es im Winter die meiste Zeit dunkel ist, halten sie sich hier zu dieser Jahreszeit hauptsächlich auf.

    Ksenia Kosobovka vermutet, dass die Ruderfußkrebse von einer extrem starken Strömung in der Gezeitenzone des Weißen Meeres angeschwemmt wurden. Die Flut lässt hier zweimal am Tag das Wasser und alles, was darin enthalten ist, über die Ufer treten. Ruderfußkrebse haben dem Sog nichts entgegenzusetzen.

    Am 1. Dezember 2021, als das Phänomen am Weißen Meer erstmals beobachtet wurde, war der Mond war fast neu und sollte drei Tage später sein Perigäum erreichen – den erdnahsten Punkt seiner Umlaufbahn. Beide Faktoren könnten sich verstärkend auf die Gezeiten ausgewirkt und dazu geführt haben, dass Meerwasser und Ruderfußkrebse besonders weit ins Land gezogen wurden. Da der leuchtende Schnee aber bereits am 16. Dezember ein weiteres Mal beobachtet wurde, ist diese Theorie inzwischen widerlegt.

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    Wie entsteht Biolumineszenz?

    Die meisten leuchtfähigen Organismen erzeugen ihr Licht mithilfe von kleinen Molekülen namens Luciferine, die ein schwaches aber stetiges Leuchten erzeugen, wenn sie mit Sauerstoff reagieren. Die zugehörigen Enzyme – Luciferasen – wirken als Katalysator, der die Oxidation beschleunigt und das Leuchten verstärkt.

    „Es sind also zwei Stoffe am Werk: ein Leuchtmittel und ein Beschleuniger“, erklärt Steven Haddock. Bei einigen Ruderfußkrebsarten würden die Reaktionen mit Luciferin und Luciferase im Körper stattfinden, doch Metridia longa verfüge über Drüsen an Kopf und Körper, mit denen sie ihr Glühen in die Welt abgäbe. „Dabei entsteht eine kleine Lichtwolke im Wasser.“

    Die Wissenschaftler halten es für wahrscheinlich, dass die Biolumineszenz für Metridia und andere Ruderfußkrebse eine Abwehrstrategie ist. „Das Licht soll vermutlich Fressfeinde, die einen Ruderfußkrebs erbeutet haben, dazu bringen, ihn wieder ausspucken,“ sagt Todd Oakley, Professor für Evolutionsökologie und Meeresbiologie an der University of California in Santa Barbara. Eine andere Funktion des Lichts könnte ihm zufolge sein, Angreifer abzulenken, sodass dem Ruderfußkrebs mehr Zeit zur Flucht bleibt.

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    Tot oder lebendig 

    Ksenia Kosobovka hält es für wahrscheinlich, dass die Ruderfußkrebse im Schnee am Weißen Meer noch am Leben sind. Experten für Biolumineszenz sagen hingegen, dass das geisterhafte blaue Leuchten daher rührt, dass die Ruderfußkrebse bereits abgestorben seien – auch Libellen hätten zum Beispiel die Fähigkeit, auch nach ihrem Tod noch zu leuchten.

    „Wir beobachten das in der Forschung oft“, erklärt Steven Haddock. „Organismen, die wir zu späteren Untersuchungen tiefgekühlt aufbewahren, beginnen zu leuchten, wenn wir sie der Kälte entnehmen. Die Chemikalien in ihrem Körper können auch dann noch miteinander reagieren, wenn der Organismus selbst nicht mehr am Leben ist.“

    Emily Lau, Doktorandin an der University of California in Santa Barbara, erforscht die Biochemie der Biolumineszenz bei Fischen und Muschelkrebsen – Verwandte der Ruderfußkrebse, deren Aussehen an Sesamkörner mit Augen erinnert. „Man kann tote Muschelkrebse trocknen und im Wasser zerdrücken – und sie leuchten“, sagt sie. „Solange Luciferin im Körper ist, kann Biolumineszenz entstehen.“

    Das Leuchten unter dem Meer

    Jørgen Berge, Professor an der Universität Tromsø, Norwegens Arktischer Universität, erforscht Polarlichter und arktische Meeresökosysteme. Seiner Meinung nach sei noch nicht hinreichend bewiesen, dass es wirklich Ruderfußkrebse sind, die das Lichtspektakel verursachen. Er selbst hätte schon ähnliche Einlagerungen im Schnee auf der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen beobachtet – ohne jedoch den Ursprung des Leuchtens zu erforschen. Trotzdem glaubt er, dass Klumpen aus Dinoflagellaten eine plausible Erklärung für das Licht seien.

    Die einzelligen Algen sind für teilweise spektakuläre maritime Biolumineszenzen verantwortlich: in der Bahia Fosforescente-Bucht in Puerto Rico kann man sich dank ihnen beim Baden mit Licht bespritzen, in manchen Gewässern vor der Küste Kaliforniens lassen sie die Delphine leuchtende Spuren hinter sich herziehen.

    „Größere Organismen in einer Probe können einen leicht auf die falsche Fährte bringen“, sagt Jørgen Berge. Nur weil man eine Lebensform identifizieren kann, die leuchtet, schließe das nicht die Anwesenheit eines anderen, weniger auffälligen lumineszenten Organismus aus. Er räumt jedoch ein, dass das Leuchten des Schnees selbst für Dinoflagellaten außergewöhnlich hell sei.

    Leuchtender Schnee wurde bis zu dem Spaziergang von Vera Emelianenko und Mikhail Neretin seit der Inbetriebnahme der Forschungsstation vor 80 Jahren noch kein einziges Mal beobachtet. Grund dafür könne Ksenia Kosobokova zufolge sein, dass bisher niemand einen nächtlichen Spaziergang durch den arktischen Dezember gemacht habe. Die Gegend würde zu solchen Aktivitäten schließlich nicht unbedingt einladen. „Es besteht hier oben immer die Gefahr, auf Bären oder Wölfe zu treffen“, sagt Alexander Semenov.

    Doch in diesem Fall wurde der Ausflug in die eiskalte Polarnacht belohnt. „Für die, die mit kindlicher Neugier an die Dinge herangehen, gibt es dort draußen viel zu entdecken“, sagt Steven Haddock.

    Alexander Semenov gibt ihm Recht. „Oft liegt einem eine Schönheit zu Füßen, von deren Existenz man bisher gar nichts wusste.“

    Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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