Spielend glücklich: Die überlebenswichtige Rolle des Spiels in der Evolution

Spielen ist Kinderkram, glauben erwachsene gern. Ein Irrtum: Scheinbar zielloses Tun ist für unsere Art überlebenswichtig.

Von Sadie Dingfelder
Veröffentlicht am 16. Jan. 2024, 13:01 MEZ
Spielende Kinder

Spielen ist Kinderkram, glauben erwachsene gern. Ein Irrtum: Scheinbar zielloses Tun ist für unsere Art überlebenswichtig.

Foto von Pxhere.com

An jenem Dezembermorgen hatte ein Schneesturm Washington über Nacht verwandelt. Die National Mall mit ihren Denkmälern glich einer Mondlandschaft; das Kapitol schien wie ein Schloss auf Wolken zu schweben. In meine wärmste Kleidung gepackt, lief ich hinaus – jetzt einen Schneemann bauen! Doch so sehr ich mich bemühte, die Kugel wollte nicht wachsen. Frustriert ließ ich mich in den Schnee fallen. Als ich so mit weit ausgestreckten Armen und Beinen dalag, kam mir die nächste Idee: Rudernd malte ich einen Schneeengel ins glitzernde Weiß. Plötzlich bemerkte ich, dass ich Zuschauer hatte – ein Paar stand da, Coffee-to-go in den Händen, Missbilligung im Blick. Ich errötete vor Scham. Bestimmt fragten die zwei sich: Hat die nichts Besseres zu tun? Eine Frau mittleren Alters, die selbstvergessen alleine im Schnee spielt, wirkt seltsam. Dabei ist uns der Spieltrieb angeboren, und der scheinbar sinnlose Zeitvertreib scheint evolutionär gesehen durchaus sinnvoll zu sein. Trotzdem unterdrücken wir modernen Erwachsenen unseren natürlichen Spieltrieb.

​Evolution: Spieltrieb hat seinen Ursprung im Stammhirn

Das schafft allerhand Probleme – für uns selbst, für unsere Kinder, letzten Endes für unseren Planeten. „Das Gegenteil von Spiel ist nicht Arbeit, sondern eine Depression“, sagt Stuart Brown, Psychiater und Spielforscher. „Der Mangel an Verspieltheit unter Erwachsenen entwickelt sich zu einer Krise der öffentlichen Gesundheit.“ Spielen mag trivial wirken, doch tatsächlich scheint es für die Gesundheit von Säugetieren, vielleicht sogar aller Wirbeltiere genauso wichtig zu sein wie Schlaf. Im vergangenen Sommer fanden Wissenschaftler heraus, dass der Spieltrieb seinen Ursprung im Stammhirn hat, genauer im periaquäduktalen Grau, auch „zentrales Höhlengrau“ genannt. Es ist eines der evolutionär ältesten Teile unseres Nervensystems. Man kann einer Ratte die gesamte Großhirnrinde entfernen – sie wird trotzdem spielen wollen. Viele junge Tiere lernen im Spiel, ihren Körper und ihre Umgebung zu verstehen. Im adulten Stadium hören die meisten damit auf. Einige Tierarten spielen allerdings weiter: Wölfe, Krähen, Delfine, Affen und andere Primaten, auch wir Menschen.

Biologen verstehen erst allmählich, warum. Spielerisches Verhalten scheint den Weg für wichtige Entdeckungen und Erfahrungen zu bereiten. Die Tierforscherin Camilla Cenni stellte für ihre Doktorarbeit an der kanadischen Universität Lethbridge einer Gruppe Langschwanzmakaken zwei Arten von Rätselboxen zur Verfügung. Um an Futter zu gelangen, mussten die Tiere entweder einen Stein in die Box fallen lassen oder mit einem Stein daraufschlagen. Die Makaken, die zuvor dadurch aufgefallen waren, dass sie gerne Steine runterfallen ließen, lösten einfacher das Steinwurfrätsel, während Makaken, die Spaß daran hatten, Steine laut gegeneinander zu klacken, eher das Schlagrätsel lösten.

​Die Schöpferische Kraft des Spiels: Kunst, Erfindung und Soziales Miteinander

Von Experimenten wie diesen kann man ableiten, dass tief in unserer Entwicklungsgeschichte irgendein Urmensch aus purer Spielerei und ganz nebenbei das Konzept „Steinwerkzeug“ entdeckt haben muss. Zweckfreies Spielen dürfte zu den meisten unserer besten Erfindungen geführt haben. Stuart Brown meint, bis heute hätten die meisten großen Erfindungen, Kunstwerke und wissenschaftlichen Durchbrüche ihren Ursprung im Bedürfnis zur Spielerei. „Als ich Nobelpreisträger befragte, fiel mir auf, dass die meisten von ihnen Arbeit und Spiel nicht trennten. Ihre Labors waren ihre Spielplätze“, sagt er.

Das Spiel hat auch einen ganz allgemeinen Nutzen, sagt Tierverhaltensforscher Marc Bekoff. „Bei den meisten Spielformen geht es darum, sich auf das Unerwartete vorzubereiten, indem man sein Verhaltensrepertoire erweitert.“ Tiere, die spielen – etwa Ziegen, die beim Herumspringen scheinbar ungelenk landen –, lernen zweierlei: Fehltritte zu bewältigen und ruhig zu bleiben, wenn mal etwas schiefgeht. Tiere, die in einem berechenbaren Habitat leben, spielen ausgewachsen kaum mehr. Wer sich etwas einfallen lassen muss, um zu überleben, spielt. Oktopoden sind dafür das beste Beispiel: Sie schützen ihren weichen Körper vor allem mit Kreativität und Improvisation vor Fressfeinden. Allerdings sind sie Einzelgänger und als solche eine Ausnahme. Die Mehrzahl der Tiere, die noch im adulten Alter spielen, lebt in kooperativen sozialen Gruppen. Diese Beobachtung sehen Biologen als Beleg für die vielleicht wichtigste Funktion des Spiels: Aufbau und Pflege von Beziehungen und das Einüben sozialer Kompetenz.

Um von einem Rudel akzeptiert zu werden, müssen Wölfe zeigen, dass sie zu spielen verstehen. Eine komlexe Aufgabe: Damit aus Raufereien keine gefährlichen Kämpfe werden, müssen die Raubtiere ständig den emotionalen Zustand ihres Spielgefährten im Auge behalten. Mit der Zeit lernen sie beim Herumtollen, was dem anderen zusagt und was nicht. „Ein zentrales Merkmal des sozialen Spiels ist die Selbstbeherrschung“, sagt Verhaltensforscher Bekoff. „Beim spielerischen Kampf rollen sich die stärkeren Tiere gelegentlich auf den Rücken und entblößen ihren Bauch, damit auch die schwächeren Tiere eine Chance haben zu gewinnen.“ Das soziale Spiel ist immer kooperativ; das Ziel ist nicht zu gewinnen, sondern das Spiel am Laufen zu halten. Wer nicht will, dass der Spielkamerad aufgibt, muss fair spielen.

National Geographic Magazin 1/24.

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