Präzision im OP: Wie KI die Neurochirurgie revolutioniert
Der Schädel ist geöffnet, die Uhr tickt. Ärzte im OP haben jetzt die Möglichkeit, das Gehirn auf bahnbrechend neue Art und Weise zu sehen.
Der Schädel ist geöffnet, die Uhr tickt. Ärzte im OP haben jetzt die Möglichkeit, das Gehirn auf bahnbrechend neue Art und Weise zu sehen.
„Neurochirurgie ist, dass sie keine Fehler verzeiht“, sagt Eelco Hoving. Selbst Spezialisten müssen oft buchstäblich in den Kopf des Patienten blicken, um besser zu verstehen, was sie da behandeln. Bei neurologischen Tumoren etwa weiß man häufig erst, womit man es zu tun hat, wenn Hirngewebe zur Analyse entnommen wurde.
So läuft es im Princess Máxima Center ab, einem Ableger der UMC Utrecht, einer der größten Universitätskliniken der Niederlande. Hier leitet der Kinderhirnchirurg Hoving die Neuroonkologie. Die Gewebeprobe wird an das Labor geschickt. Dort sequenzieren Pathologen das Hirngewebe und versuchen festzustellen, um welche Art von Tumor es sich handelt – ein Prozess, der eine Woche oder mehr dauern kann.
Schnellschnitte und schwierige Entscheidungen
Parallel dazu wird ein Querschnitt der Probe schockgefroren und in hauchdünne Scheiben geschnitten – quasi eine „gefrorene Momentaufnahme“, erklärt Hoving – und unter dem Mikroskop untersucht. Mit einem solchen Schnellschnitt lässt sich der Tumortyp in nur 15 bis 20 Minuten überschlägig ermitteln. Doch diese Methode ist weit weniger zuverlässig als die zeitaufwendigere.
Neurochirurgen stecken also in einer schwierigen Situation, wenn ihr Patient mit geöffnetem Schädel daliegt. Bei nur unvollständigen Informationen stehen schwerwiegende Entscheidungen an: Ist es tatsächlich ein Tumor? Wenn wirklich Krebs: Handelt es sich um eine aggressive Form, die schnellstmöglich entfernt werden muss? Oder um einen Tumortyp, der auf weniger invasive Art, etwa mit einer Chemotherapie, behandelt werden kann?
Hoving erinnert sich an einen jungen Patienten, den er vor einigen Jahren operiert hat. Der Schnellschnitt wies auf einen hochgradig malignen embryonalen Tumor hin, einen sogenannten ATRT. Da ATRTs aggressiv sind, gelangte Hoving zu dem Schluss, dass die beste Vorgehensweise darin bestünde, seinerseits aggressiv zu reagieren. Er entschied sich, eine radikale Resektion vorzunehmen und mehr als 98 Prozent des tumorösen Gewebes zu entfernen – ein mental enorm belastender Prozess, der stundenlange absolute Konzentration erfordert.
Infolge des Eingriffs verlor der Patient teilweise die Bewegungskontrolle über einen Arm. Als zehn Tage später die Laborergebnisse eintrafen, zeigte der Pathologiebericht, dass der Tumor gar kein ATRT war. „Es handelte sich um ein Germinom“, erinnert sich Hoving, „das mit Bestrahlung und Chemotherapie sehr wirksam behandelbar ist.“ Er hatte die angesichts der verfügbaren Informationen bestmögliche Entscheidung getroffen: „Ich habe in bester Absicht versucht, eine radikale Resektion durchzuführen. Rückblickend betrachtet, hätte ich das nicht tun sollen.“
KI für schnellere Diagnosen
Hoving gehört heute einem Forschungsteam am Princess Máxima Center an, das seit Sommer 2023 mit Künstlicher Intelligenz experimentiert, um Tumore binnen kürzester Zeit zu identifizieren. Das Team verwendet eine KI namens Sturgeon, die Hirntumore innerhalb von 40 Minuten mit 90-prozentiger Genauigkeit kategorisieren kann – ausreichend Zeit für den Chirurgen, eine fundierte Entscheidung zu treffen, während der Patient unterm Messer liegt.
„Pathologen begutachten weiterhin jede Probe“, sagt Bastiaan Tops, Leiter des Labors für Kinderkrebspathologie am Princess Máxima Center. Die KI liefert einfach mehr Informationen, zusätzliche Daten.
Die Projektidee entstand Anfang 2022, als Tops erfuhr, dass ein Kollege, Jeroen de Ridder, Prüfarzt und Lehrbeauftragter am Zentrum für Molekularmedizin, spektakuläre Fortschritte bei der molekularen Sequenzierung erzielte. Dabei verwendete er ein neues, relativ erschwingliches Gerät namens Nanoporen-Sequenzierer, das DNA-Stränge lesen kann.
Tops' Geistesblitz: Könnte man diesen Sequenzierer mit einem neuen Algorithmus kombinieren, um die Tumoridentifizierung zu beschleunigen? De Ridder konnte sich eine Anwendung der Nanoporen-Sequenzierung für ultraschnelle Diagnosen vorstellen. „Wir setzten uns zusammen und sammelten Ideen, wie das konkret aussehen könnte“, sagt Tops.
Der Nanoporen-Sequenzierer ist ein kleines Gerät, das ab 2000 US-Dollar zu haben ist – aus medizinischer Sicht billig, daher gut vorstellbar auch für Krankenhäuser in Entwicklungsländern. Er ähnelt einem Tacker und wird über USB an einen Laptop angeschlossen, sieht also überhaupt nicht futuristisch aus.
Im Inneren des Sequenzierers wird ein DNA-Strang durch eine Membran mit winzigen Öffnungen oder Nanoporen geführt. Jede Nanopore ist mit einer Elektrode und einem Sensor verbunden, der Schwankungen des elektrischen Stroms aufzeichnet, wenn sich der Strang an den Öffnungen vorbeibewegt. Das Ergebnis ist eine charakteristische Signatur jedes Strangs, die als eine Basissequenz entschlüsselt werden kann. Gleichzeitig können die Forscher mithilfe von Sturgeon feststellen, um welchen Tumortyp es sich handelt.
Cover National Geographic 12/24
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