17 Jahre danach
Der Mann war ein Fremder, und sie erinnert sich noch gut an ihren Unmut - nie zuvor war sie fotografiert worden. Und nie danach nahm jemand ein Bild von ihr auf. Bis Steve McCurry und Sharbat Gula sich in diesem Januar wieder begegneten.
Sharbat Gula – besser bekannt als „Das afghanische Mädchen“ – ist wieder in den Schlagzeilen: Gestern wurde bekannt, dass sie von der Polizei in Pakistan verhaftet wurde. Ihr wird vorgeworfen, einen falschen pakistanischen Ausweis zu besitzen. Nun drohen Gula bis zu 14 Jahre Haft sowie eine Geldstrafe. Gulas Foto auf dem Cover von NATIONAL GEOGRAPHIC ging 1984 um die Welt, ihr durchdringender Blick berührte viele Leser. 2001 traf Fotograf Steve McCurry Sharbat Gula erneut - lesen Sie im Folgenden die Geschichte des Wiedersehens der beiden (27.10.2016).
Der Mann war ein Fremder, und sie erinnert sich noch gut an ihren Unmut - nie zuvor war sie fotografiert worden. Und nie danach nahm jemand ein Bild von ihr auf. Bis Steve McCurry und Sharbat Gula sich in diesem Januar wieder begegneten. Auch der Fotograf erinnert sich an jenen Augenblick vor 17 Jahren in einem pakistanischen Flüchtlingslager. Ein Meer von Zelten. Mildes Licht. Im Schulzelt fiel sie ihm sofort auf. Er spürte ihre Scheu, ließ ihr Zeit. Dann erlaubte sie ihm, ein Foto zu machen. "Ich ahnte nicht, dass diese Aufnahme sich so sehr von meinen anderen Fotos unterscheiden würde", erinnert sich McCurry an jenen Morgen im Jahr 1984, als er das Schicksal der afghanischen Flüchtlinge dokumentierte.
Das Porträt des Mädchens traf ins Herz. Im Juni 1985 war es Titelbild von NATIONAL GEOGRAPHIC und ging um die Welt. Traurige grüne Augen fesseln den Betrachter. Sie erzählen vom Leid eines vom Krieg gegen die sowjetischen Besatzer gezeichneten Landes. Bei NATIONAL GEOGRAPHIC hieß sie immer nur "das afghanische Mädchen". Niemand kannte ihren Namen; niemand wusste, was aus ihr geworden war. Bis Anfang diesen Jahres. Im Januar bringt ein Fernsehteam des NATIONAL GEOGRAPHIC Explorer McCurry nach Pakistan, um das Mädchen mit den grünen Augen zu suchen. Das Flüchtlingslager in der Nähe von Peschawar - Nasir Bagh - gibt es immer noch. Das Team zeigt McCurrys Foto herum. Ein Lehrer sagt, er wisse, wer das Mädchen sei. In einem nahen Dorf spürt man eine junge Frau auf. Ihr Name, Alam Bibi, geht durch die Presse, auch in Deutschland: Sie habe Osama bin Ladens Töchter unterrichtet und werde deshalb von der CIA gesucht. Alles nur Gerüchte. McCurry kommt schnell zu dem Schluss, dass Alam Bibi nicht die Gesuchte ist.
Ein weiterer Informant schaltet sich ein. Er kenne das Mädchen auf dem Foto. Als Kinder hätten sie zusammen im Lager gelebt. Sie sei vor Jahren in ihr Land zurückgekehrt und lebe in einem Dorf in den Bergen nahe Tora Bora, sechs Stunden mit dem Auto und weitere drei zu Fuß entfernt. Er werde sie holen. Es dauert drei Tage, bis sie da ist.
Als McCurry sie in den Raum kommen sieht, weiß er sofort: Das ist die Richtige. Sie heißt Sharbat Gula und ist Paschtunin. Von den Paschtunen sagt man, dass sie nur in Frieden leben, wenn sie im Krieg sind. Gula ist jetzt 28, vielleicht auch 30. Aber niemand, nicht einmal sie selber, weiß es genau. Die Zeit und die Not haben ihre Jugend ausgelöscht. Ihre Haut sieht jetzt aus wie gegerbt. Die Konturen ihres Kinns sind weich geworden. Aber ihre Augen haben noch immer diesen bohrenden Blick.
"Sie hat viel durchlitten", sagt McCurry. "Wie so viele in diesem Land." Die Wahrscheinlichkeit, dass Gula noch am Leben sein würde und dass man sie finden könnte, war hauchdünn. Wie hat sie es geschafft, in diesen Zeiten zu überleben? Die Antwort kommt mit unerschütterlicher Gewissheit. "Es war der Wille Gottes."
(NG, Heft 4 / 2002)