Gerd Ludwigs langjährige Dokumentation der Tschernobyl-Katastrophe
„Tief im Inneren, in einem dunklen Gang, stoppten wir vor einer schweren Metalltür. Der Techniker bedeutete mir, dass ich nur einen kurzen Moment zum Fotografieren hätte. Er brauchte eine geschlagene Minute, um die verklemmte Tür zu öffnen. Der Adrenalinstoß war extrem. Der Raum war vollständig dunkel, beleuchtet nur durch unsere Kopflampen. Kabel versperrten den Blick. Am anderen Ende des Raumes konnte ich eine Uhr ausmachen. Nach wenigen Aufnahmen wollte ich auf das Aufladen meines Blitzes warten. Doch er zog mich schon wieder heraus. Ich kontrollierte meine Bilder. Unscharf! Ich bettelte darum, nochmals hinein zu dürfen. Er gab mir ein paar weitere Sekunden, um die Uhr zu fotografieren, die 1:23:58 Uhr anzeigte – der Moment am 26. April 1986, an dem im Gebäude von Reaktorblock 4 die Zeit für immer stehen bleiben sollte.“ – Bericht von Gerd Ludwig über seine Fotoarbeiten an Reaktor 4, wo eine Explosion eine katastrophale Kernschmelze verursacht hatte. Für Ludwig gehören die Umstände seiner Arbeit am Tschernobyl-Projekt zu den schwierigsten Herausforderungen, denen er sich in seiner Laufbahn als Fotograf stellen musste.
Als im März 2011 der Tsunami fatale Schäden am japanischen Kernkraftwerk „Fukushima Daiichi“ verursachte, versuchten Fotoredakteure des Time-Magazin, den deutschen Fotografen Gerd Ludwig über dessen Agentur „Institute“ zu kontaktieren. Die Fotoredaktion wollte ihn mit der Dokumentation des Unglücks beauftragen. Ludwig war aber nicht erreichbar. Er hielt sich in einem Hotel ohne Internetzugang auf, am Ort einer anderen Katastrophe, die 25 Jahre vorher stattgefunden hatte: in Tschernobyl.
Ludwig fotografierte Tschernobyl zum ersten Mal 1993 und kehrte danach noch dreimal in die Region zurück – 2005, 2011 und 2013. Dabei kam er dem Reaktor näher als jeder andere westliche Fotograf.
„Von allen menschengemachten Umweltkatastrophen gilt Tschernobyl als das Desaster mit den schwerwiegendsten langfristigen Folgen. Als ich das volle Ausmaß der Zerstörungen im Inneren des Reaktors sah und mit den drastischen gesundheitlichen Konsequenzen konfrontiert wurde – nicht nur in der Ukraine, sondern auch im benachbarten Weißrussland –, spürte ich, dass ich Tschernobyl regelmäßig besuchen musste“, beschreibt er seine Motivation.
Ludwig arbeitet zurzeit an einem Fotoband mit dem Titel „Der lange Schatten von Tschernobyl“. Er dokumentiert seine Erkundungen der letzten 20 Jahre. Was er gesehen hat, beschreibt der renommierte Wissenschaftler Alexei Okeanov als „ein Feuer, das zu unseren Lebzeiten nicht gelöscht werden kann“.
Ludwig gab Proof vor Kurzem ein Interview:
Alexa Keefe: Warum ist es so wichtig, diese Geschichte zu erzählen?
Gerd Ludwig: Die Bilder erinnern uns daran, dass die Nutzung von Kernenergie zu Unfällen wie in Tschernobyl führen kann – jederzeit und überall. Mein Projekt soll diese menschengemachte Katastrophe dokumentieren. Es soll an die zahllosen Opfer von Tschernobyl erinnern und zukünftige Generationen vor den tödlichen Konsequenzen menschlicher Selbstüberschätzung warnen.
Alexa: Gab es Momente, in denen Ihre eigene Gesundheit in Gefahr war?
Gerd: Dass der eigene Körper im Inneren des Reaktors Strahlung ausgesetzt wird, ist nur eine von vielen Gefahren. Andere Gefahren entstehen zum Beispiel durch radioaktive Staubkörnchen, die sich sehr leicht in weichen Materialien festsetzen können. Wenn ich sie einatme, können sie im Körper verbleiben und Krebs verursachen.
Nach jedem Besuch im Reaktor führe ich eine gründliche Reinigungsprozedur durch: Ich lasse den Schutzanzug zurück, ich dusche lange und heiß und ziehe dann saubere Kleidung an. Als ich nach meinem letzten Aufenthalt im Inneren des Reaktors eine Sicherheitsexpertin bat, meine Ausrüstung zu prüfen, konnte ich in ihrem Gesicht lesen, dass sie mich für paranoid hielt. Widerwillig prüfte sie meine Technik. Aber von einem Augenblick auf den anderen wandelte sich ihr Gesichtsausdruck. Sie rief immer wieder „Oh mein Gott! Oh mein Gott! Sie müssen Ihre Kameras reinigen. Sie müssen sie waschen.“
Offenbar waren meine Kameragurte kontaminiert. In dieser Nacht reinigte ich meine Kameras sehr gründlich, bis mein Geigerzähler nicht mehr anschlug. Und ich kaufte neue Kameragurte.
Alexa: Ein Kapitel Ihres Buches widmen Sie den menschlichen Opfern, insbesondere den Kindern, die in den Jahren nach der Katastrophe geboren wurden. Wie haben Sie die Arbeit mit diesen Kindern erlebt?
Gerd: Ein großer Teil des radioaktiven Niederschlags ist in die weißrussische Region Homel gezogen. 2005 wollte ich im Auftrag von National Geographic Kinder in Waisenhäusern fotografieren. In einem der Waisenhäuser fotografierte ich den fünf Jahre alten Igor. Er war körperlich und geistig schwer behindert und von seinen Eltern aufgegeben worden. Seitdem lebt er in einem Heim für ausgesetzte Kinder und Waisenkinder mit Behinderungen. Ich wurde auf ihn aufmerksam, weil er die meiste Zeit bewegungslos gegen eine Wand gelehnt dasaß. Weil er nur schlecht hören und sehen konnte, war ihm keinerlei Interaktion mit den anderen Kindern möglich. Hin und wieder wanderten seine leeren Augen in Richtung der anderen Kinder im Raum, aber wenn sie ihn umarmen wollten, begann er zu weinen. Nachdem ich ihn fotografiert hatte, gab ich ihm die Hand. Als ich das Lächeln sah, mit dem er reagierte, hätte ich fast losgeheult.
Alexa: Sie haben auch Menschen fotografiert, die in die Sperrzone zurückgekehrt sind, weil sie lieber auf ihrem eigenen kontaminierten Boden sterben wollen als an gebrochenem Herzen in einer anonymen Plattenbausiedlung. Wie reagierten sie darauf, dass jemand ihre Geschichte erzählen wollte?
Gerd: Kein Journalist kann sich in der Sperrzone frei bewegen. Wir dürfen nur in Begleitung eines Betreuers hinein, der für die Behörden arbeitet, und wir müssen seine Arbeitszeit bezahlen. Weil bisher nur wenige Hundert Zurückgekehrte in der Sperrzone leben, kennen die Betreuer fast jeden dort persönlich. Die einzigen Fahrzeuge, die in der Sperrzone fahren, stehen unter der Kontrolle der Behörden. Es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr, und die Zurückgekehrten haben keine eigenen Fahrzeuge. Deshalb freuen sich viele von ihnen über Besuche von Journalisten. Sie sind eine willkommene Abwechslung in ihrem vergleichsweise ereignislosen Alltag. Die Betreuer empfehlen, dass Journalisten Waren des täglichen Bedarfs wie frisches Brot, Käse und Süßigkeiten mitbringen, die den Heimgekehrten fehlen, weil sie ihre Dörfer nur selten verlassen können.
Die meisten sind sehr gastfreundlich und bieten alles an, was sie auf ihrem eigenen Land anbauen und herstellen, von Tomaten bis zu Erdbeeren, von illegal gefangenem Fisch bis zu illegal gebranntem Schnaps. Ich fühle mich manchmal unwohl dabei, wenn ich Nahrungsmittel von kontaminiertem Boden esse. Aber als Fotograf bewege ich mich auf einem schmalen Grat: Ich möchte sicher sein, aber ich bin auch auf Vertrauen und Mitarbeit angewiesen, damit ich meine Bilder machen kann.
Alexa: Die Landschaft von Tschernobyl verändert sich. Werden Sie diese Geschichte auch in Zukunft fortsetzen? Oder halten Sie etwas fest, bevor es in Vergessenheit gerät?
Gerd: Der Reaktor wird vielleicht bald unter einer Hightech-Kuppel verschwinden. Die Gebäude in Prypjat werden zusammenbrechen. Die älteren Zurückgekehrten werden irgendwann tot sein. Aber ich fürchte, die Tragödie von Tschernobyl wird noch lange nach unserem Tod weitergehen. Ein Wissenschaftler in Tschernobyl sagte mir: „In bestimmten Gebieten könnten wir Zäune aufstellen, auf denen steht: In den nächsten 24.000 Jahren keine Besiedelung möglich. Und das ist lediglich die Halbwertszeit von Plutonium 239.“
Die bevorstehende Veröffentlichung des Fotobands ist ein Einschnitt, ein Innehalten, aber sie wird nicht das Ende meines Dokumentationsprojekts sein. Ich bin neugierig, wie es weitergeht.
Alexa: Warum fühlen Sie sich von dieser Weltregion so stark angezogen?
Gerd: Meine persönliche Beziehung mit Russland begann in meiner Kindheit. Ich wuchs im Deutschland der Nachkriegszeit auf. Mein Vater war zur 6. Armee der Wehrmacht eingezogen worden, die 1941 die Sowjetunion überfiel und sich durch Südrussland bis nach Stalingrad vorkämpfte, wo die Deutschen von den Sowjets vernichtend geschlagen wurden. Er hatte Glück und wurde als einer der letzten Soldaten noch evakuiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden meine Eltern aus ihrem Haus in Böhmen vertrieben.
In der Dunkelheit unseres kleinen Flüchtlingszimmers lauschte ich den Gutenachtgeschichten meines Vaters. Mit trauriger, aber beruhigender Stimme beschwor er Bilder von endlosen Winterlandschaften herauf, von Soldaten, die sich ihren Weg durch Schneestürme bahnten, und Menschen, die sich vor diesen Soldaten in Ställen und Scheunen versteckten. Erst Jahre später wurde mir die dunkle Seite dieser Geschichten bewusst: dass die Landschaften blutgetränkt waren, dass die Soldaten starben und dass die Menschen, die sich versteckten, verängstigte Russen waren. Mein Vater hat diese Gutenachtgeschichten erzählt, um seine grausamen Erinnerungen an den Krieg zu verarbeiten.
Als junger Teenager Mitte der 1960er Jahre gehörte ich zur ersten deutschen Nachkriegsgeneration. Ich war voller Schuldgefühle für die Taten meiner Eltern. Und ich kompensierte sie, indem ich jene verherrlichte, die Deutschland hatte vernichten wollen. Insbesondere idealisierte ich Russland und das kommunistische Sowjetsystem. Letztendlich konfrontierte mich die Glasnost-Politik von Gorbatschow – sein Ruf nach Offenheit in allen Aspekten des Lebens – mit den sozialen und politischen Realitäten eines Landes, das sieben Jahrzehnte lang unter einer totalitären Herrschaft gestanden hatte.
Alexa: Möchten Sie noch etwas hinzufügen?
Gerd: Als engagierte Fotografen berichten wir oft über menschliche Tragödien im Zusammenhang mit Katastrophen. Wir bringen unsere Kameras in unsichere Gebiete und sind uns bewusst, dass unsere Arbeit nicht gefahrlos ist. Wir tun dies, weil wir uns dafür verantwortlich fühlen, wichtige Geschichten im Namen der Opfer zu erzählen, die ohne uns keine Stimme hätten. Bei meiner Arbeit an dieser Geschichte habe ich viele engagierte und couragierte Menschen getroffen, die es mir nur deshalb erlaubt haben, ihr Leiden zu fotografieren, weil sie darauf hoffen, dass Tragödien wie in Tschernobyl in Zukunft verhindert werden können.
Ludwig veröffentlichte seine Geschichte zunächst im Jahr 2011 in der iPad App „Der lange Schatten von Tschernobyl“. Heute arbeitet er an einem Fotoband mit dem gleichen Titel. Die Retrospektive wird durch eine Kickstarter-Kampagne ermöglicht.
Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 26. März 2014