Kann der Fotojournalismus überleben? Die Branche meldet sich zu Wort

Von Lucy Fulford
Veröffentlicht am 30. Apr. 2018, 10:12 MESZ
Nigerianische Migranten weinen und umarmen sich im August 2016 in einem Auffanglager für Flüchtlinge und Migranten ...
Nigerianische Migranten weinen und umarmen sich im August 2016 in einem Auffanglager für Flüchtlinge und Migranten in Surman in Libyen. Hier befinden sich Hunderte von Frauen, die mit prekären Bedingungen klarkommen müssen – die meisten von ihnen haben versucht, mit Schmugglerbooten über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Der Fotograf Daniel Etter gewann mit diesem Bild, „The Libyan Migrant Trap“ (dt.: Die libysche Migrantenfalle) beim WPPh-Wettbewerb 2017 den dritten Preis in der Kategorie „Contemporary Issues Singles“. Aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark III und einem Canon EF 24-70mm f/4L IS USM Objektiv.
Foto von Daniel Etter

Schrumpfende Redaktionsbudgets, ein zunehmender Konkurrenzkampf sowie Pressemisstrauen sind nur einige der Faktoren, die sich negativ auf die Zukunft des Fotojournalismus auswirken. Doch die Macht der Fotografie bleibt ungebrochen und neue Technologie bietet Fotografen größere kreative Freiheit als je zuvor. Die Welt verlangt begierig nach Visual Storytelling, doch wird auch der Fotojournalismus überleben?

Der Ansicht des berühmten Fotojournalisten Sir Don McCullin nach hat sich die Landschaft seit damals, als seinen Fotogeschichten Dutzende von Printseiten gewidmet wurden, unwiederbringlich verändert. Er sagt: „Der Fotojournalismus liegt im Sterben. Junge Leute werden dazu ermutigt, Fotojournalisten zu werden, doch es gibt kein Medium mehr dafür – Zeitungen und Zeitschriften haben ein wesentlich höheres Interesse an Reichen, Schönen, Stars und Sternchen. Sie wollen nicht, dass die Leute beim Lesen ihrer Zeitung oder Zeitschrift leiden – das bringt den Eigentümern kein Geld ein. Der Fotojournalismus ist nicht verloren gegangen, musste aber Zweckdienlicherem Platz machen.“

Wir haben uns mit Fotojournalisten und Influencern aus der Branche unterhalten, um mehr über die aktuelle Sachlage sowie ihre Meinung zur Zukunft des Fotojournalismus im digitalen Zeitalter zu erfahren.

BELIEBT

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    Ein nach dem Ende der Apartheid 1994 in Südafrika geborener Junge hat festgestellt, dass sich der Rassismus in seinem Heimatland nicht so einfach ausrotten lässt. Aus der Reihe „Afrikaner Blood“ der Fotografin Ilvy Njiokiktjien – dieses Foto belegte beim WPPh-Wettbewerb 2012 den zweiten Platz in der Kategorie „Contemporary Issues Singles“. Aufgenommen mit einer Canon EOS 5D Mark II und einem 40mm Objektiv.
    Foto von Ilvy Njiokiktjien

    ILVY NJIOKIKTJIEN

    „Die Aufträge haben sich verändert. Man wird jetzt nicht mehr unbedingt irgendwohin geschickt, um monatelang an einem Projekt zu arbeiten. Wenn man heutzutage längerfristige Projekte angehen möchte, muss man in der Regel auch eigenes Geld investieren.“

    “Ich glaube nicht, dass Fotos je an Aussagekraft und Wirkung verlieren werden – ich kann mir ein einziges Bild ansehen und es nie wieder vergessen.”

    von Ilvy Njiokiktjien

    „Als Don McCullins Bilder in Zeitungen erschienen, machten sie Schlagzeilen. Wenn ich heute zum Beispiel ein Bild bei der Beerdigung von Nelson Mandela mache, sind da neben mir noch 300 andere Fotografen. Es werden heutzutage so viele Fotos gemacht, dass ein wirklich symbolträchtiges Bild zu machen schier unmöglich ist. Da hat sich viel verändert. Man ist nicht der Einzige – es sind noch viele Kollegen vor Ort, ganz zu schweigen von all den Leuten mit Handys.“

    „Ich glaube nicht, dass Fotos je an Aussagekraft und Wirkung verlieren werden. Ich finde einzelne Bilder unheimlich ausdrucksstark – ich kann mir ein einziges Bild ansehen und es nie wieder vergessen. Heutzutage gibt es aber neue Möglichkeiten, um Geschichten zu erzählen– mit Handys, interaktiven Online-Erfahrungen und Virtual Reality. Man muss sich einfach überlegen, was am besten zu der jeweiligen Geschichte passt.“

    Über Ilvy Njiokiktjien

    Canon Ambassador Ilvy aus den Niederlanden ist freischaffende Nachrichten- und Dokumentarfotografin. Sie hat für NGOs und große Medien weltweit über Zeitgeschehen und soziale Brennpunkte berichtet. Ihre Arbeit wurde unter anderem mit einem Canon AFJ Award und einem World Press Photo Multimedia Award ausgezeichnet.

    JÉRÔME SESSINI

    „Ich glaube, dass wir jetzt freier sind als zuvor. Zum einen aufgrund von Technologie und zum anderen, weil Zeitungen weder jungen Fotografen noch mir selbst so wichtig sind, wie sie das den Leuten früher waren. Wir haben uns von den Zeitungen freigemacht und können jetzt Geschichten genau so erzählen, wie wir sie erzählen möchten.“

    „Zu den Gefahren gehört unter anderem, dass Fotografen jetzt selbst zur Zielscheibe in Konflikten werden. Und ich habe das Gefühl, dass ich meine Arbeit nicht gut machen kann, wenn ich Angst haben muss.“
     

    “Wir sind jetzt freier als zuvor – wir können Geschichten genau so erzählen, wie wir sie erzählen möchten.”

    von Jérôme Sessini

    „Ich bin ein absoluter Verfechter von Geschichten – ich denke immer an die ganze Geschichte, nicht an ein einzelnes Bild. Ich versuche nicht, Dinge mit Fotografie zu erklären, weil dieses Medium einfach nicht alles widerspiegeln kann. Es kann aber Gefühle vermitteln – meiner Meinung nach sind Gefühle stärker als rationale Argumente. Ich will den Leuten nicht vorpredigen, dass etwas so oder so ist. Mir ist in erster Linie wichtig, Gefühle zu wecken – und die fuhren dann hoffentlich dazu, dass die Leute Fragen stellen. Die Antworten darauf müssen sie selbst finden.“

    Über Jérôme Sessini

    Canon Ambassador Jérôme Sessini hat an einigen der wichtigsten Nachrichtenbeiträge der vergangenen 20 Jahre mitgewirkt und Bilder aus Krisengebieten wie dem Kosovo, Syrien und der Ukraine beigesteuert.

    Uppgivenhetssyndrom, das sogenannte „Resignationssyndrom“, gibt es angeblich nur in Schweden und nur bei Flüchtlingen. Die Patienten scheinen jeden Lebenswillen verloren zu haben. Djeneta ist bereits seit zweieinhalb Jahren bettlägerig und reagiert nicht, ihre Schwester Ibadeta seit mehr als sechs Monaten. Magnus WennmansBild wurde beim WPPh-Wettbewerb 2018 in der Kategorie „People Singles“ nominiert. Aufgenommen mit einer Canon EOS-1D X Mark II und einem Canon TS-E 45mm f/2.8 Tilt-Shift-Objektiv.
    Foto von Magnus Wennman

    MAGNUS WENNMAN

    „Als ich angefangen habe, war die Fotografie ein ziemlich altmodischer Beruf, aber heutzutage ist das vollkommen anders. Es geht jetzt nicht mehr um technische Perfektion, sondern darum, Geschichten zu erzählen – und da hat man heute unzählige Möglichkeiten. Wie früher als Fotograf in der Zeitungsredaktion zu sitzen und darauf zu warten, dass einem ein Auftrag in den Schoß fällt – diese Zeiten sind vorbei. Aber wenn man sich auf Storytelling konzentriert, dann hat man eine strahlende Zukunft vor sich.“

    „Weil es nicht mehr viele Anstellungen in diesem Bereich gibt, ist der Fotojournalismus heutzutage demokratischer – jeder kann hier aktiv werden, nicht nur Mitarbeiter von Zeitungen.“

    “Visual Storytelling wird immer wichtiger – wenn man das gut beherrscht, hat man definitiv gute Überlebenschancen.”

    von Magnus Wennman

    „Man kann sich heutzutage zudem entscheiden, ob man visuell eine Geschichte erzählen, Video- oder Tonaufnahmen machen oder eine Geschichte schreiben möchte. Die neue Generation von Fotojournalisten arbeitet auf völlig andere Art und Weise als die Fotojournalisten von früher. Sie kennen die Möglichkeiten im Zusammenhang mit Social Media und sind nicht ausschließlich auf Standbildfotografie festgelegt. Wie man überall sieht, wird Visual Storytelling immer wichtiger – wenn man das gut beherrscht, hat man definitiv gute Überlebenschancen.“

    Über Magnus Wennman

    Canon Ambassador Magnus Wennman begann mit 17 Jahren, für eine schwedische Lokalzeitung zu arbeiten, und ist seitdem als Fotojournalist tätig. Jetzt ist er als Fotograf bei Aftonbladet, der größten Tageszeitung in Skandinavien, angestellt. Er hat World Press Photo Awards gewonnen.

    TOM JENKINS

    „Dem Fotojournalismus bleibt aktuell nicht viel Luft zum Atmen, muss ich sagen. Technologie und das digitale Zeitalter haben den Fotojournalismus in seinen Grundfesten erschüttert: Jeder hat ein Handy, jeder macht Bilder, jeder hält sich für einen Fotografen. Das hat einen Riesenunterschied für den Fotojournalismus ausgemacht.“

    “Technologie hat den Fotojournalismus in seinen Grundfesten erschüttert – heutzutage hält sich jeder für einen Fotografen.”

    von Tom Jenkins

    „Der Markt wird jetzt geradezu mit Bildern überschwemmt. Dies hat die Preise in Grund und Boden gefahren – was man heutzutage online für ein Bild bezahlt bekommt, ist unglaublich wenig. Zeitungen haben jetzt so viele Möglichkeiten, an Bilder zu kommen, dass sich das enorm darauf ausgewirkt hat, wie sie Fotografen beschäftigen. Es gibt weniger fest angestellte Fotografen und der Verdienst von Fotografen sinkt immer weiter. Dies gilt insbesondere für die redaktionelle und die Sportfotografie.“

    „Wenn man sich damit wirklich seinen Lebensunterhalt verdienen möchte, muss man verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten ausloten. Man kann zum Beispiel ein paar kommerzielle Aufträge annehmen, um sich später einen Monat lang Zeit nehmen und die Flüchtlingskrise fotografisch dokumentieren zu können.“

    Über Tom Jenkins

    Canon Ambassador Tom Jenkins berichtet für die britischen Zeitungen The Guardian und Observer über Sportveranstaltungen in aller Welt. Der hochgelobte Fotograf ist für spannende Geschichten vom Spielfeld sowie darum herum bekannt.

    DANIEL ETTER

    „Der Fotojournalismus wird schon seit einer ganzen Weile für tot erklärt und ist irgendwie nach wie vor da. Er ist weiterhin am Leben und weiterhin aktiv – vielleicht nicht mehr ganz so wie zu Don McCullins Zeiten, aber er ist definitiv weiterhin relevant. So wichtig, wie er einmal war, ist er nicht mehr und das wird er auch nie wieder sein. Das liegt daran, dass er zwar nicht von anderer Technologie ersetzt, aber durch sie erweitert wurde. Ich glaube, dass die Fotografie immer eine Rolle spielen wird. Wenn es aber andere, bessere Möglichkeiten gibt, auf visuelle Art und Weise Geschichten zu erzählen, dann finde ich das vollkommen in Ordnung.“

    “Unsere größte Herausforderung besteht im Kampf darum, dass uns Glauben geschenkt wird.”

    von Daniel Etter

    „Unsere größte Herausforderung besteht im Kampf darum, dass uns Glauben geschenkt wird. Sehen Sie sich nur einmal an, wie heutzutage sogar grundlegende Tatsachen infrage gestellt werden. Sich in diesem Umfeld zurechtzufinden und sich als vertrauenswürdige, zuverlässige Informationsquelle zu positionieren – darin besteht unsere größte Herausforderung. Ich habe noch keinen Weg gefunden, um Nachrichten glaubwürdiger zu machen – das Einzige, was wir tun können, ist gute Arbeit zu leisten. Das bedeutet, die entsprechenden Nachforschungen anzustellen, die richtigen Fragen zu stellen und zu versuchen, Ereignisse stets wahrheitsgetreu darzustellen.“

    Über Daniel Etter

    Canon Ambassador Daniel ist Fotograf, Feuilletonist und Filmemacher. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit dem Thema soziale Ungleichheit, insbesondere im Hinblick auf Kinderarbeit sowie mit der Migrations- und Flüchtlingsproblematik entlang der Grenzen der Europäischen Union sowie in den Krisengebieten im Mittleren Osten.

    Um das Video anzuschauen und mehr über die Zukunft des Journalismus zu erfahren, klicke hier.

     

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