„Eigentlich ist es Folter“
Der deutsch-amerikanische Fotograf Martin Schoeller porträtierte Menschen, die zu Unrecht in der Todeszelle saßen. War das ein Job wie jeder andere?
Unschuldig in der Todeszelle: Die Spuren bleiben für immer.
Herr Schoeller, Sie haben Menschen porträtiert, die zu Unrecht in der Todeszelle saßen. Für wen war das die größere Herausforderung, für Sie oder die Porträtierten?
Ich war vor fast zwei Jahren bei dem Jahrestreffen von Witness to Innocence in Puerto Rico dabei. Das war fast so wie bei einem Treffen einer Selbsthilfegruppe. Niemand, der so etwas nicht selbst durchgemacht hat, kann ein solches Trauma verstehen. Viele der Mitglieder sind in Therapie, auch in den Interviews wurde geweint. Shujaa Graham zum Beispiel war in den Siebzigern im Gefängnis. Es ist über 40 Jahre her, dass er herausgekommen ist. Und trotzdem fängt er jedes Mal an zu weinen, wenn er davon erzählt.
War es ein Job wie jeder andere?
Ich habe an diesem langen Wochenende in Puerto Rico 15 Leute interviewt und gefilmt, jeden eine Stunde oder länger. Irgendwann war ich fix und fertig, habe das aber erst mal gar nicht so gemerkt. Dann kam die Sozialarbeiterin der Organisation zu mir und sagte: „Martin, heute Nachmittag machst du keine Interviews. Du siehst nicht gut aus.“
Wie kamen Sie auf das Thema?
Ich lebe seit 25 Jahren in New York, und natürlich war es mir immer ein Dorn im Auge, dass es in den USA die Todesstrafe gibt. Für uns mit unserer deutschen Geschichte ist es ja unvorstellbar, dass der Staat sich das Recht nimmt, Menschen umzubringen. Ich dachte immer, ich muss darüber etwas machen. Und irgendwann bin ich dann über die Organisation Witness to Innocence gestolpert.
Nachdem im August 1993 in Decatur in Alabama ein Schrotthändler ausgeraubt und getötet worden war, nahm die Polizei Gary Drinkard fest. 1995 wurde er zum Tode verurteilt. In einem neuen Verfahren im Jahr 2000 wurde seine Unschuld bewiesen.
Was fasziniert Sie an dieser Gruppe?
Wer könnte diese Geschichte besser erzählen als Leute, die selbst zum Tode verurteilt wurden? Das hat mich sofort fasziniert. Es hat dann allerdings ganz schön lange gedauert, bis ich die Verantwortlichen von meinem Fotoprojekt überzeugt habe.
Können Sie Befürworter der Todesstrafe mit Ihrer Arbeit erreichen?
Martin Schoeller ist mit seinen Close-ups bekannt geworden, für die er Menschen in eine eigens dafür konstruierte mobile Lichtkammer setzt. So entstand auch die erste Arbeit des 52-Jährigen für NATIONAL GEOGRAPHIC, die Porträtserie „Zwillinge“ (3/2012).
Ich erzähle meine Geschichten auf einer sehr emotionalen Ebene. Ich könnte auch zehn Gründe nennen, warum ich nicht glaube, dass die Todesstrafe eine gute Idee ist. Aber das bringt die Leute nur zum Gähnen. Hören sie jedoch von jemandem, der wirklich im Todestrakt gelebt hat, der beschreibt, wie schrecklich es war und dass es eigentlich Folter ist, in der Todeszelle zu sitzen, unabhängig davon, ob man schuldig oder nicht schuldig ist, dann hat das, glaube ich, einen viel größeren Effekt. Das hoffe ich zumindest. Ich denke, ich werde das Ende der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten noch miterleben.
Sie haben rund 3000 Ihrer berühmten Nahaufnahmen gemacht, von Präsidenten, Obdachlosen und Todeskandidaten. Was sieht man den Gesichtern denn an?
Es gibt Erfahrungen, die tiefe Furchen hinterlassen. Leute, die ein großes Trauma durchleben, bekommen ja manchmal eine Glatze oder ihre Haare werden grau. Trotzdem, denke ich, sieht man dem Gesicht selbst weniger an, als man glaubt. Oft findet beim Betrachter eher eine Projektion statt. Man projiziert in Gesichter das hinein, was man über die jeweilige Person weiß und vermutet.
Warum machen Sie diese immer gleichen Nahaufnahmen dann überhaupt noch weiter?
Ich mache die Close-ups seit 25 Jahren und denke, dass es eine große Berechtigung gibt, das ganz gleich zu halten und bis an mein Lebensende weiterzuführen – für einen großen Katalog von Menschen unserer Zeit. Das hat etwas von einer anthropologischen Studie.
Dieser Artikel und die große Foto-Reportage "Unschuldig im Todestrakt" erschienen ursprünglich in der März-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!
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