Exklusiv: Erstaunliche neue Fotos des isolierten Stammes liefern überraschende Erkenntnisse

Tief im brasilianischen Regenwald pflegen die geschützten Indios eine zeitlose Lebensweise.

Von Scott Wallace
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:21 MEZ
Foto eines Stammesangehörigen im brasilianischen Amazonas, der mit einem Pfeil zielt.
Ein einzelner Stammesangehöriger bereitet sich im abgelegenen Dschungel Brasiliens darauf vor, einen Pfeil auf einen tief fliegenden Helikopter loszulassen.
Foto von Ricardo Stuckert

Luftaufnahmen eines isolierten Stammes im brasilianischen Regenwald gewähren einen spektakulären Einblick in eine steinzeitliche Lebensweise, die es sonst nirgends auf der Erde mehr gibt.

Die hochauflösenden Bilder wurden letzte Woche aus einem Hubschrauber heraus vom brasilianischen Fotografen Ricardo Stuckert aufgenommen und liefern einen beispiellosen Einblick in die lebendige Gemeinschaft von Ureinwohnern, die in völliger Isolation in den Tiefen des Amazonas-Dschungels leben. National Geographic hat von Stuckert die Erstrechte an der Publikation einer Auswahl seiner Aufnahmen erworben.

„Ich hab mich gefühlt, als wäre ich ein Maler aus dem letzten Jahrhundert“, sagt Stuckert über seine Reaktion, als er die Ureinwohner gesehen hat. „Der Gedanke, dass es im 21. Jahrhundert noch Menschen gibt, die nie Kontakt zu einer Zivilisation hatten und noch wie ihre Vorfahren vor 20.000 Jahren leben – das ist ein sehr mächtiges Gefühl.“

Stuckerts Nahaufnahmen, die er nahe der brasilianischen Grenze zu Peru geschossen hat, lassen Details über die Indios erkennen, die den Beobachtungen von Experten bisher entgangen waren, wie zum Beispiel die kunstvollen Körperbemalungen und die Art, wie sie ihre Haare schneiden. „Wir dachten, dass sie ihre Haare alle auf dieselbe Weise tragen“, sagt José Carlos Meirelles, der Brasiliens Ureinwohner seit mehr als 40 Jahren studiert und mit ihnen gearbeitet hat. „Aber das ist falsch. Man kann sehen, dass sie viele verschiedene Frisuren haben. Ein paar davon sehen ziemlich punkig aus.“

Nahaufnahme eines Indios, der seinen Bogen spannt.
Foto von Ricardo Stuckert

Derselbe Stamm erregte 2008 weltweit Aufmerksamkeit, als Mitarbeiter von Brasiliens Nationaler Stiftung der Indigenen, Fundação Nacional do Índio (abgekürzt FUNAI), Fotos von Stammesmitgliedern mit roter Körperbemalung veröffentlicht haben, die Pfeile nach einem tieffliegenden Flugzeug werfen.

Der Stamm hat sich seit der Sichtung einige Male bewegt, sagt Meirelles, der selbst ein langjähriger FUNAI-Kundschafter und Experte für die indigenen Gruppen der Region ist. Meirelles war auf dem Flug am letzten Sonntag dabei, ebenso wie auch auf vergangenen Missionen 2008 und 2010, auf denen ebenfalls außergewöhnliche Bilder entstanden. „Diese Gruppen wechseln ihren Standort etwa alle vier Jahre“, erklärt Meirelles National Geographic in einem Telefoninterview von seinem Zuhause aus. „Sie wandern umher. Aber es ist dieselbe Gruppe.“

Stuckert traf im Zuge seines Jahresprojekts, Stämme von Ureinwohnern in ganz Brasilien zu fotografieren, Anfang des Monats in dem westlichen Bundesstaat Acre ein. Am vergangenen Sonntag stieg er mit Meirelles in den Hubschrauber, um den Dschungel-Außenposten Jordão an der peruanischen Grenze zu besuchen. Als Gewitter den Helikopter zwangen, mitten im Flug einen Umweg zu nehmen, fand sich dessen Besatzung plötzlich direkt über einer abgelegenen Siedlung aus strohgedeckten Hütten wieder, die in den dichten Dschungel gebaut war. Die nackten Einwohner waren offensichtlich genauso überrascht und zerstreuten sich in den umliegenden Wald, als sich das Fluggerät näherte.

Die anfängliche Panik schien der Neugier gewichen zu sein, als das Team ein paar Stunden später für einen zweiten Blick zurückkehrte. „Sie schienen eher neugierig als ängstlich“, erzählt Stuckert National Geographic per Telefon. „Ich hatte das Gefühl, dass es da eine beiderseitige Neugier gab, sowohl von ihnen als auch von mir.“

Eine Strohhütte, Maloca genannt.
Foto von Ricardo Stuckert

Das augenscheinliche Wohlbefinden des Stammes fand Meirelles erfreulich. Er sagte, die Menschen sähen wohlgenährt und gesund aus. Beete mit Mais, Maniok und Bananen, die die Ansammlung von Langhäusern – Maloca genannt – umgaben, machten den Eindruck, als könnten sie 80 bis 100 Menschen ernähren. Zusammen mit nahegelegenen Malocas desselben Stammes ergibt sich für Meirelles die Schätzung, dass die Populationsgröße bei über 300 liegt.

Ebenso beeindruckend war für Meirelles der Hagel aus Pfeilen, den die Stammesangehörigen dem Hubschrauber entgegenschleuderten. Für ihn war das ein gesundes Zeichen von Wehrhaftigkeit. „Das war eine Botschaft“, sagt er. „Diese Pfeile sagen ‚Lasst uns in Frieden. Bitte nicht stören.‘“

Im Gegensatz zu anderen Gebieten im brasilianischen Amazonas setzt der Bundesstaat Acre strikte Regelungen für seine Wälder und indigenen Einwohner durch. Die abgeschiedenen Stämme Acres scheinen also sicher – für den Moment. Der Dschungel hinter der Grenze zu Peru ist jedoch voll von illegalen Abholzungstruppen, Goldsuchern und Drogenschmugglern – genau jene Gefahren, die in der Vergangenheit ganze Stämme ausgerottet haben.

Nahaufnahme eines Indios mit außerordentlich aufwendiger Körperbemalung
Foto von Ricardo Stuckert

 „Sobald erst mal Holzfäller oder Goldsucher in ihr Territorium eingegriffen haben, sind diese isolierten Gruppen erledigt“, sagt Meirelles. „Sie könnten vom Antlitz der Erde verschwinden und wir würden es nicht mal bemerken.“ 

Auch wenn sie direkten Kontakt mit Außenseiten vermeiden wollen, benutzen die Indios an den Oberläufen der Flüsse Envira und Humaitá schon längst Werkzeuge aus Stahl. „Es gibt Berichte aus dem Jahr 1910 darüber, wie sie Siedlungen überfallen und sich mit Macheten und Äxten davongemacht haben“, erzählt Meirelles. „Die benutzen sie also schon seit einer ganzen Weile. Sie sind praktisch Teil ihrer Kultur.“ Diese Werkzeuge haben es ihnen ermöglicht, ausreichend große Stellen im Wald abzuholzen, um die Lebensmittelproduktion zu steigern. Da die Gruppe nie friedlichen Kontakt mit der Außenwelt unterhalten hat, ist der Name des Stammes nicht bekannt. Die brasilianischen Beamten bezeichnen sie einfach als „die abgeschiedenen Indios des oberen Humaitá“.

Stuckert, der früher als Fotograf bei großen brasilianischen Medien wie Veja und O Globo angestellt war, erzählt, dass seine vier Kinder sein wichtigstes Publikum sind. „Sie sind sehr neugierig und stellen dauernd Fragen“, sagt er. „Sie sind sehr interessiert daran, wie diese Indios leben, diese Menschen, die die ersten Einwohner unseres Landes waren. Da wollen sie jedes Detail kennen.“

Indios verharren schussbereit
Foto von Ricardo Stuckert

Stuckert hofft, dass sein in Kürze erscheinendes Buch, Índios Brasileiros, an die Neugier und das Gewissen künftiger Generationen appellieren wird, damit auch sie das Gänsehautgefühl erleben können, das er selbst hatte, als er das Dorf aus dem Hubschrauber heraus gesehen hat.

„Es war überraschend kraftvoll und emotional“, erinnert er sich. „Die Erfahrung dieses einzigartigen Ereignisses hat mich tief berührt. Wir leben in einer Zeit, in der Menschen auf dem Mond waren. Und trotzdem gibt es hier in Brasilien noch Menschen, die weiterhin so leben, wie es die Menschheit seit Zehntausenden Jahren tat.“

Scott Wallace, der regelmäßig Beiträge für National Geographic schreibt, ist der Autor des Buches „The Unconquered: In Search of the Amazon's Last Uncontacted Tribes“. Man kann ihm auf seiner Website und auf Twitter folgen.

Artikel in englischer Sprache veröffentlicht am 21. Dezember 2016

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