Aktueller denn je: Die kontroverse Geschichte des Passes

Das Konzept eines weltweiten Reisepass-Standards ist relativ neu und entstand in den Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs.

Von Giulia Pines
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:33 MEZ

Aus Schwarz-Weiß-Fotos und rauschenden Filmaufnahmen entsteht das klassische Bild der USA zur vorletzten Jahrhundertwende: ein steter Strom von Einwanderern, von denen die meisten über Ellis Island einreisen würden. Sie wurden einer flüchtigen Gesundheitskontrolle unterzogen, befragt und in den meisten Fällen durften sie dann ihre Reise ins Land fortsetzen. Ohne einen weltweiten Standard für Dokumente zur Identifikation war die Prozedur denkbar einfach. Heutzutage, da die Einwanderungspolitik im Zentrum der weltweiten Aufmerksamkeit steht, ist es schwer vorstellbar, wie man je ohne solche Dokumente zurechtkam.

Mit ihren Mikrochips und Hologrammen, biometrischen Fotos und Strichcodes gehen die heutigen Pässe als Meisterleistungen moderner Technologie durch – besonders, wenn man bedenkt, dass ihre Ursprünge aus biblischer Zeit stammen. Vor Jahrhunderten diente der sauf conduit bzw. der Geleitbrief dazu, Feinden „die Passage in das und aus dem Königreich zu Verhandlungszwecken zu gewähren“, erklärt der Historiker Martin Lloyd in seinem Buch „The Passport: The History of Man’s Most Travelled Document“ (dt. Der Pass: Die Geschichte des meistgereisten Dokuments der Menschheit). Ein solcher Brief war kaum mehr als ein schriftlicher Appell, der als eine Art Verabredung unter Ehrenleuten fungierte: Zwei Herrscher erkannten ihre Autorität gegenseitig an und eine Grenzüberschreitung würde keinen Krieg auslösen.

“Zusätzlich zu einem Schwarzmarkt voller gestohlener und gefälschter Pässe haben manche Länder ihre Grenzen auch freiwillig für die Höchstbietenden geöffnet. ”

Natürlich ist es nicht ganz so einfach, Regeln durchzusetzen, wenn über diese keine Einigkeit besteht. All das änderte sich 1920, als in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs die Idee eines weltweiten Standards für Pässe aufkam. Für den Vorschlag setzte sich der Völkerbund ein – jene Vereinigung, die die schwierige Bürde der Friedenswahrung trug. Ein Jahr später erließen die Vereinigten Staaten – die womöglich eine politische Gelegenheit erkannt haben – das Not-Quotengesetz von 1921, das wenig später vom Immigration Act von 1924 abgelöst wurde. Der Grund? Zu viele Neuankömmlinge aus Ländern, die als Bedrohung „des Ideals der amerikanischen Hegemonie“ angesehen wurden. Und wie konnte man das Herkunftsland eines Einwanderers bestimmen? Natürlich mit einem frisch gedruckten Pass.

Die Kinder festgehaltener oder wartender Immigranten wedeln mit amerikanischen Flaggen auf einem begrünten Dach auf Ellis Island, circa 1900.
Foto von Jacob A. Riis, Museum of the City of New York/Getty Images

Der Reisepass entstammte der Idee einer Organisation, die auf die westliche Welt zentriert war und versuchte, die Nachkriegswelt in den Griff zu bekommen. Daher war der Pass fast schon von vornherein dazu bestimmt, den Begünstigten mehr Freiheit zu gewähren und eine Bürde für alle anderen zu sein. „Ein Pass ist eine Art Schild – wenn man ein Bürger einer westlichen Demokratie ist“, erklärt Atossa Araxia Abrahamian, Autor von „The Cosmopolites: The Coming of the Global Citizen“ (dt. Die Kosmopoliten: Die Entstehung des globalen Bürgers).  Der in Kanada geborene Schweizer iranischer Eltern ist verblüfft von dem Konstrukt der Staatsbürgerschaft: „Ich habe keine besonders starke Verbindung zu irgendeinem meiner Pässe. Ich sehe sie als Zufälle meiner Geburt an und würde mich nicht mit irgendeiner Nationalität identifizieren, wenn ich es nicht muss.“

Wie Abrahamian bemängelten schon 1920 Kritiker des Passes, dass es dabei weniger darum ging, eine demokratischere Gesellschaft von Weltreisenden zu schaffen, sondern eher um Kontrolle, selbst innerhalb der Grenzen eines Landes. Im frühen 20. Jahrhundert waren verheiratete amerikanische Frauen sprichwörtlich bloß eine Fußnote in den Pässen ihrer Ehemänner, berichtet Atlas Obscura. Sie konnten die Grenze nicht allein überqueren, während es verheirateten Männer natürlich freistand, umherzureisen.

Eine Einwandererfamilie läuft mit ihrem Gepäck 1905 über Ellis Island.
Foto von Glasshouse Images/Alamy Stock Photo

Einige Länder erahnten die düsteren Konsequenzen des Passes und sprachen sich dagegen aus. Sie betrachteten ihn als Zeichen westlicher Dominanz, erklärt Mark Salter in „Rites of Passage:  The Passport in International Relations“ (dt. Übergangsriten: Der Pass in internationalen Beziehungen). „Obwohl viele Länder sich des Passes entledigen wollten, konnte sich das kein einziges Land leisten – weil ein paar wenige Länder den Pass behalten wollten.“ Dieses Dilemma – gepaart mit einer gewaltigen Ladung Angst – hatte ein paar gerissene, stille Auftritte in der Reiseliteratur des 20. Jahrhunderts, darunter auch Werke von Paul Bowles und Joan Didion. Es schien, als wäre niemand besonders angetan von der Idee, von den Seiten eines Passes beschriftet, verpackt und entmenschlicht zu werden. Aber niemand konnte es sich leisten, keinen zu haben.

In den letzten Jahren haben Pässe eine für das 21. Jahrhundert typische Identitätskrise erfahren. Sie wurden zu heiß begehrten Handelsobjekten, fast wie Immobilien oder Kunstgegenstände. Zusätzlich zu einem Schwarzmarkt voller gestohlener und gefälschter Pässe haben manche Länder ihre Grenzen auch freiwillig für die Höchstbietenden geöffnet. „Als ich [während meiner Recherchen] entdeckte, dass es einen ganz legalen Markt für Pässe gibt, bestätigte das meinen Eindruck, dass Staatsbürgerschaft eine ziemlich willkürliche Sache ist“, sagt Abrahamian. Malta und Zypern zum Beispiel verkaufen Staatsbürgerschaften – Malta für mehr als 1 Million Dollar, Zypern im Gegenzug für erhebliche Investitionen.

Jenseits der 1 Prozent haben die sich verändernden globalen Landschaften neuer Staaten, wechselnde Grenzen und diskriminierende ethnische Politik das Problem der Staatenlosigkeit verschärft. Laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen haben etwa zehn Millionen Menschen weltweit keinerlei offizielle Staatsangehörigkeit. Diesen Menschen werden Pässe oft verweigert – und damit auch ihre Bewegungsfreiheit. Diese Extreme verdeutlichen, wie unklar unsere Vorstellung von Staatsangehörigkeit eigentlich ist.

In den USA wurden laut einer Statistik des U. S. State Department 18,6 Millionen Pässe allein im Jahr 2016 ausgestellt – die höchste jährliche Zahl, die je verzeichnet wurde. Auf der Webseite Passport Index kann man auf verschiedene Arten Pässe über interaktive Werkzeuge miteinander vergleichen (Deutschland und Singapur befinden sich in den Bereichen Global Passport Power und Individual Passport Power auf Platz 1). US-Magazine wie „Travel & Leisure“ verkünden jedes Jahr die „Gewinner“ und „Verlierer“ von Pass-Ranglisten. Während nun auch andere Länder genau wie die USA mit dem Gedanken spielen, ihre Grenzen zu schließen, lohnt es sich, wieder über die grundlegende Beliebigkeit von Pässen nachzudenken.

Je nach Ursprungsland kann einem ein Pass extreme Privilegien gewähren oder extreme Verzweiflung bereiten. Er kann eine schützende Decke sein oder eine schlimme Last. In jedem Fall wird er so schnell nicht verschwinden. Da sich unsere Welt verändert, müssen sich allerdings auch die ausgeklügelten Richtlinien anpassen, die den Pass über Jahrzehnte hinweg zu einem nahezu perfekten Dokument geformt haben. Wie also wird die Zukunft des Passes aussehen?

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