Helden ohne Heimat

Millionen Philippiner werden extra dafür ausgebildet, im Ausland Geld zu verdienen. Dort plagt sie dann das Heimweh, doch die Wirtschaft ihres Landes ist von ihren Entbehrungen abhängig.

Von Aurora Almendral
bilder von Hannah Reyes Morales
Veröffentlicht am 23. Nov. 2018, 12:36 MEZ
Philippinen
Bernadita Lopez (am Geländer) erholt sich auf einem Dachgarten in ihrer Heimatstadt Manila von ihrem Job als Kindermädchen in Hongkong. Irgendwann will sie wieder hier wohnen, doch im Moment braucht sie das Geld, das sie im Ausland verdient.
Foto von Hannah Reyes Morales

Recuerdo Morco war 22, als er zum ersten Mal Schnee sah. In vier Schichten Overalls und Parkas gehüllt, staunte er über die großen Flocken, die aufs Deck des Frachters sanken.

Er malte ein Herz in den Schnee und schrieb den Namen seiner Freundin hinein. Recuerdo ist auf den Philippinen aufgewachsen, auf einer tropischen Insel mit weißen Stränden und Kokospalmen. Dass er tatsächlich auf dem Frachter stand, der durch die eisigen Gewässer am nördlichen Polarkreis pflügte, war für ihn wie ein Traum. Im ersten Hafen steuerte Recuerdo gleich den erstbesten Laden an, der SIM-Karten verkauft. Er wollte mit seiner Mutter telefonieren.

Heute ist Recuerdo 33. Mittlerweile hat er seine Mutter Jeannie schon aus vielen Ländern zwischen Schweden und Australien angerufen. Jeannie (66) kann sich nie merken, wo ihr Sohn gerade ist. Aber sie ist froh, wenn das Telefon klingelt. Auch Recuerdo braucht die Gespräche. Ihre Stimme zu hören helfe gegen Langeweile, Heimweh und Traurigkeit, sagt er. „Meine Mutter ist die wichtigste Person in meinem Leben.“

Zehn Millionen Philippiner, etwa ein Zehntel der Bevölkerung, arbeiten im Ausland. Dort wollen sie Arbeitslosigkeit, Niedriglöhnen und den begrenzten Möglichkeiten zu Hause entkommen. Knapp 27 Milliarden Euro schicken philippinische Arbeitskräfte jährlich aus dem Ausland nach Hause – das entspricht rund zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Sie arbeiten als Hausdiener in Angola und als Bauarbeiter in Japan. Sie bemannen die Ölfelder in Libyen und versorgen die Kinder von Hongkonger Familien. Sie singen auf Bühnen in entlegenen chinesischen Provinzen und helfen in Hotelbetrieben im Nahen Osten. Ein Viertel aller Matrosen auf der Welt sind Philippiner.

Das Phänomen hat die Wirtschaft und das Bildungssystem des Landes verändert. Junge Menschen werden gezielt in Branchen gelenkt, in denen sie am ehesten eine Anstellung im Ausland finden. Es wurden Regierungsbehörden ins Leben gerufen, die sich ausschließlich um die Migration von Arbeitskräften kümmern. Sie handeln Arbeitsbedingungen aus und kommen zu Hilfe, wenn eine Krise oder ein Krieg aufzieht: Eine Delegation Regierungsbeamter reiste beispielsweise extra nach Syrien, um philippinische Hausangestellte ausfindig zu machen und sie in Sicherheit zu bringen.

Das Geld der Wanderarbeiter hat vielen Familien den Weg aus der Armut geebnet. In den Reisfeldern verschlafener Provinzen schossen plötzlich neue Häuser wie Pilze aus dem Boden, die sich die Menschen ohne die Zuwendung ihrer Verwandten nie hätten leisten können.

Philippiner feiern den Dezember als nationalen Monat der Arbeitskräfte im Ausland. Filme und Fernsehsendungen romantisieren ihre Entbehrungen und ihre Entschlossenheit. Die Menschen in der Diaspora werden bagong bayani genannt, „die neuen Helden“, weil sie sich für eine bessere Zukunft ihrer Familien und ihres Landes opfern. Wer sich für ein Leben als Wanderarbeiter entscheidet, begibt sich in einen Teufelskreis aus Sehnsucht: erst danach, in der Ferne sein Glück zu machen – und dann nach der zurückgelassenen Heimat.

Als hätte sie geahnt, dass sie ihren Lebensabend nicht im Kreis all ihrer Lieben verbringen würde, hat Jeannie vier ihrer Kinder Memorie, Souvenir, Remembrance und Recuerdo genannt – Namen, die Verlust und Sehnsucht beschreiben.

Gegenüber des Familiensitzes hat Recuerdo ein Grundstück gekauft. Es liegt brach, bis er endlich sein Haus darauf bauen kann. Er verdient rund 1100 Euro im Monat, mehrere Hundert davon schickt er seiner Mutter, darauf ist er stolz. Er spart, damit sie ihren grauen Star operieren lassen kann. Jeannie ist Witwe. Tagein, tagaus hat sie auf der Straße Essen verkauft, damit ihre Kinder die Schule besuchen können. Jetzt sorgt Recuerdo für sie. „Ich würde jede Entbehrung auf mich nehmen“, sagt er, „solange ich sparen und Geld nach Hause schicken kann.“ Früher träumte Recuerdo am Strand von einem Leben als Matrose – heute träumt er draußen auf dem Meer davon, nach Palawan zurückzukehren. Aber er findet immer einen neuen Grund, warum er noch ein paar Gehaltsschecks mehr braucht. Der Tag seiner Heimkehr scheint immer kurz hinter dem Horizont zu liegen. „Masakit na masarap“, sagt Recuerdo über sein Leben: ein „köstlicher Schmerz“.

Seine Schwester Memorie ist ausgebildete Hebamme, aber die Krankenhäuser bezahlen nicht viel. Memorie wollte ihren Sohn Ryamm auf eine Privatschule schicken. Und sie wollte nicht von Recuerdo abhängig sein. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ins Ausland zu gehen. Memorie arbeitete in einer Tankstelle in Palau, dann als Kindermädchen in Marokko. Im vergangenen Jahr kümmerte sie sich um ein Kind in Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Als Bedienstete zu arbeiten, die mit im Haushalt lebt, ist ein gefährlicher Job in der philippinischen Diaspora. Eine Studie von 2011 dokumentiert, dass es viele Fälle körperlicher oder psychischer Gewalt an Hausangestellten in Saudi-Arabien gibt. Arbeitgeber konfiszieren die Pässe, lassen ihre Angestellten hungern oder monatelang nicht das Haus verlassen. Viele Philippinerinnen erzählen nach ihrer Rückkehr von Vergewaltigungen. Memorie sagt, ihr Arbeitgeber hätte sie nicht misshandelt.

BELIEBT

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    Manchmal kommen die jungen Menschen, die mit großen Träumen ins Ausland gestartet sind, im Sarg zurück. Die Mutter (M.) von Jessica Catiis weint auf der Beerdigung um ihre Tochter. Diese hatte als Hausmädchen in Saudi-Arabien gearbeitet, als sie sich angeblich das Leben nahm – die Familie glaubt das nicht. Ihre Leiche wurde erst sieben Monate später nach Hause geschickt.
    Foto von Hannah Reyes Morales

    Diese Gefahren müssen Philippiner mit abwägen, wenn sie über ein Arbeitsleben im Ausland nachdenken. Memorie aber wischt sie beiseite. „Wenn deine Zeit gekommen ist, dann ist das so“, sagt sie am Telefon aus Abu Dhabi. „Aber das Heimweh – das geht auch nach so langer Zeit nicht weg.“

    Ihr Sohn Ryamm ist jetzt 19. Er hat einen Großteil seines Lebens ohne seine Mutter verbracht. Die leidet sehr unter dem Paradox: Sie hat einen Sohn bekommen und war dann gezwungen, ihn zurückzulassen, um für ihn zu sorgen. Sie schreiben sich täglich Nachrichten; telefonieren oder skypen sei zu traurig: „Da weinen wir beide nur die ganze Zeit.“ Ryamm habe sie gebeten, nicht so oft anzurufen – er möchte nicht, dass sie ihn weinen hört.

    Ryamm hätte eine Eliteakademie der Handelsmarine besuchen können, doch er hat sich stattdessen für ein Architekturstudium entschieden. Diese Wahl hätte er wohl nicht treffen können, wenn seine Mutter nicht im Ausland Geld für seine Ausbildung verdient hätte. Wenn er einmal in den Arbeitsmarkt eintritt, wird das Land deutlich wohlhabender sein als zu der Zeit, als seine Mutter volljährig wurde. Das hat er vor allem dem Beitrag der Philippiner im Ausland zu verdanken – und deren Opfern.

    Wenn Ryamm mit dem College fertig ist, werde sie nach Hause kommen, sagt Memorie. Zurück an die Strände von Palawan. Vielleicht wird sie mit einem Teil ihrer Ersparnisse eine kleine Kurzwarenhandlung eröffnen. Und sie wird sich um ihre Mutter Jeannie kümmern.

    Dieser Artikel wurde gekürzt. Lesen Sie die ganze Geschichte in Heft 12/2018 des National Geographic-Magazins. Jetzt ein Abo abschließen!

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