„Deutsche haben ein manisches Verhältnis zu Native Americans“

Der emeritierte Professor für Amerikanistik Hartmut Lutz spricht über das Stereotyp des Indianers und indigene Reaktionen auf deutsche Indianertümelei.

Von Andrea Henke
Veröffentlicht am 17. Juni 2019, 14:36 MESZ
Charlie little Horse und Isa Yellow Hair in Hamburg.
Charlie little Horse und Isa Yellow Hair. Die Aufnahme entstand 1910 in Hamburg im Rahmen der "Völkerschau Sioux" im Tierpark Hagenbeck. Sogenannte Völkerschauen trugen oft zur Verfestigung von Klischees fremder Kulturen bei.
Foto von Slg. Breda, Inv. Nr. 1.21.3, © MARKK

Herr Lutz, eine Hamburger Kita hat während des vergangenen Faschings große Aufmerksamkeit erhalten. Die Erzieher hatten unter anderem Indianerkostüme verboten, weil sie keine Stereotype bedienen wollten. Wie sieht das Stereotyp eines Indianers aus?

Er ist halbnackt, trägt Lendenschurz, „Kriegsbemalung“, Stirnband, langes Haar und Federhaube. Charakterlich ist es ein doppeltes Stereotyp: einerseits das Bild des „edlen Wilden“, eines Menschen, der stoisch, körperlich stark und tüchtig ist – aber auch ehrlich, fair und wunderschön. So hat ihn schon Jean-Jacques Rousseau beschrieben. Auf der anderen Seite das Bild des primitiven, blutrünstigen Wilden, wie zum Beispiel „Caliban“, ein Unhold in Shakespeares „Sturm“. James Fenimore Cooper machte diese Polarisierung in seinen „Lederstrumpf“-Romanen unsterblich. Das Herumlaufen in Indianerkostümen würde man jedenfalls im nicht-indigenen Nordamerika nicht erleben.

Weil dort die Debatte über kulturelle Aneignung weiter ist?

Die Debatte ist bei uns noch in den Anfängen. Und das Interesse an Native Americans, auch die Indianertümelei, sind besonders ausgeprägt. Deutsche haben ein geradezu manisches Verhältnis zu den amerikanische Ureinwohnern.

Wie kommt es dazu?

Es gab in Europa schon im 17. Jahrhundert bildliche Darstellungen, auf denen amerikanische Ureinwohner gezeigt wurden, auch literarisch wurden sie verarbeitet. Aber anders als bei den Kolonialmächten England und Frankreich gab es in Deutschland keinerlei Berührung mit Indianern. Man konnte also auf sie projizieren: Der Dreck in den Städten und das Leben in bedrückenden Verhältnisse bei uns führten im 19. Jahrhundert zu Träumen eines weiten, schöneren Landes, in dem sich jeder frei entfalten konnte. Das machte Amerika und indirekt auch die Native Americans so attraktiv für Deutsche.

Welche Gemeinsamkeiten bestanden zwischen beiden Volksgruppen?

1871 war das Gründungsjahr der jungen Nation – Deutschland suchte nach seiner Entstehungsgeschichte. Man konzentrierte sich auf den römischen Historiker Tacitus und seine Schrift „Germania“. Tacitus lobte darin die Freiheit der Germanen von den Fesseln der zivilisierten Gesellschaft, ihre Nähe zur Natur, ihren Geist der Unabhängigkeit und ihre Ehrlichkeit, beschrieb sie aber auch als grausam.

Nun machte man eine Gleichsetzung und setzte anstelle der Römer als Eroberer die Franzosen ein, an die Stelle der reinen, wilden germanischen Stämme traten die Deutschen. Dann zog man Parallelen zu den Kolonialkriegen, in denen Indigene gegen Franzosen und Engländer kämpften. Deren Kämpfe gegen die Einwanderer hat man besonders später im Faschismus mit den germanischen Kämpfen gegen die Römer verglichen.

In diese Zeit des frühen Nationalismus trat Karl May mit seinen Romanen. Er wurde  einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren...

...und erfand den deutschen Helden Old Shatterhand, der alle anderen Kolonialherren überflügelte. Old Shatterhand traf den attraktiven und klugen Winnetou, der ihn liebte. Das war erst mal eine sehr schöne und ungewohnte Botschaft für einen Deutschen, dass er von anderen geliebt wurde. In diese kolonialen Fluchtfantasien wurde so ziemlich alles hineinprojiziert, was Deutsche als Kolonialherren bestätigte. Es entstand der Mythos, dass die Kolonialisierten die Kolonialherren lieben würden: Winnetou hilft Old Shatterhand sogar beim Bau einer Eisenbahnlinie durch das Gebiet der Apachen. Wer sich mit dem Verhältnis zwischen Deutschen und Native Americans beschäftigt, kommt an Winnetou und Karl May nicht vorbei. Dieser hat das Stereotyp des Indianers wesentlich geprägt.

Dem stereotypen Indianer wird auch Liebe zur Natur und Wissen über sie zugesprochen. Ist die Nähe zur Natur ein Grund, warum sich auch heute viele Deutsche für die amerikanischen Ureinwohner interessieren?

Das positive Bild des edlen Wilden, der frei im Einklang mit der Natur lebt, kehrt jetzt wieder als Bild vom Ökoindianer. Nun wohnt jedem Stereotyp auch ein Stück Wirklichkeit inne: Aus indigenem Wissen kann man sehr viel über Ökologie und Naturwissenschaft lernen – man muss sich allerdings auf andere Denk- und Beobachtungsweisen einlassen.

Bob Boyer
"Selbstbildnis des Künstlers, der einen rothaarigen Winnetou vor den Kreidefelsen spielt" Der Metis Cree Künstler Bob Boyer macht sich hier über die deutsche Indianertümelei lustig. Gleichzeitig ist das Bild ein Tribut an den von ihm verehrten Caspar David Friedrich.
Foto von Bob Boyer

Das Interesse an Indianern ist in Ostdeutschland besonders ausgeprägt. Warum?

Zur Zeit der DDR boten Indianer-Camps einen relativ großen politischen Freiraum, der von der Regierung gut geheißen wurde, weil er gegen imperialistisches Verhalten gerichtet und in dem Sinne antiamerikanisch war. Andererseits wurde aber auch diese Bewegung von der Stasi infiltriert.

Ist dieses Interesse eine Form der kulturellen Aneignung?

Das ist zweischneidig. In Deutschland gehören religiöse Traditionen wie Schwitzhüttenzeremonien dazu – dafür wird viel Geld verlangt. Andererseits gibt es Gruppen deutscher Hobbyisten, die sich einer bestimmten indigenen Gruppe zugehörig fühlen und sie in einer Weise imitieren, dass daraus so etwas wie ein ethnologisches Wiederaufleben resultiert. Es gibt in diesen Gruppen zum Beispiel ausgezeichnete Perlenkünstler. Ich bin einmal mit mehreren Kollegen im Zug gefahren. Eine Kollegin, die auch zu so einer Indianistik-Gruppe ging, holte Leder und Perlen heraus und begann zu sticken. Ein Kollege fragte sie dann naserümpfend, was sie dort mache, als Wissenschaftlerin. Sie hat es ihm ganz ruhig erklärt: Was für ein Design sie verwendet, welche Bedeutung es hat, aus welcher Kultur es stammt, woher die Farben kommen... Mir wurde dadurch klar, dass man durch Nachahmen eine ganze Menge über eine Kultur erfahren kann. Das wird auch von einigen Indigenen anerkannt.

Wie wird Deutschland mit seiner Indianertümelei insgesamt von Indigenen in Nordamerika wahrgenommen?

Ich gebe mit zwei anderen Wissenschaftlern dieses Jahr ein Buch in Kanada heraus, das den Titel „Indianthusiasm“ tragen wird. Das ist ein Begriff, den ich geprägt habe, und der in seiner ironischen Verkürzung dem ebenfalls ironischen deutschen Begriff „Indianertümelei“ entsprechen möchte. Für dieses Buch haben wir indigene Kulturschaffende und Wissenschaftler nach ihrem Deutschlandbild und ihren Deutschlanderfahrungen befragt. Das Bild ist viel differenzierter, als ich es erwartet hätte. Das „Indianerspielen“ und die Tipi-Dörfer werden vorwiegend mit Befremden betrachtet. Indigene sagen aber auch, dass die Indianertümelei die Menschen dazu bringt, Indigene überhaupt wahrzunehmen. Dadurch können sie Wissen über sich nach Deutschland bringen, das dann – über diesen Umweg – wieder zurück nach Nordamerika gelangen kann.

Passiert das wirklich?

Ich kenne mehrere Indigene, die deshalb bewusst nach Deutschland gegangen sind. Der indigene Schriftsteller und Wissenschaftler Jack Forbes hat sein Buch „Die Wétiko-Seuche. Eine indianische Philosophie von Aggression und Gewalt“ zuerst in Deutschland publiziert und erst mehr als zwanzig Jahre später in den USA. Ähnlich ist es indigenen Wissenschaftlerinnen gegangen: Ich hatte zwei Doktorandinnen, die lieber in Greifswald promovierten – weil sie hier auf mehr Verständnis für ihre Arbeit stießen. Insgesamt überwiegt ein positives Deutschlandbild bei Native Americans, vor allem schätzen sie das ökologische Bewusstsein in Europa und besonders in Deutschland.

BELIEBT

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    Hartmut Lutz
    Hartmut Lutz, emeritierter Professor für Nordamerikanische Literatur und Kultur an der Universität Greifswald.
    Foto von Kerstin Knopf

    Sie klingen überrascht.

    Ich bin Jahrgang 1945 und habe viel im Ausland gelebt und mich dort für die faschistische Vergangenheit Deutschlands geschämt. Bei Indigenen habe ich sehr viel Anerkennung für die deutsche Geschichtsaufarbeitung erfahren. In Nordamerika ist das Verhältnis zwischen Indigenen und denen, die auf ihrem Land sitzen, doch noch sehr viel ungeklärter.

    Lesen Sie auch die Reportage "Wie wir uns selbst sehen" in Heft 6/2019 des National Geographic Magazins. Sie zeigt einen indigenen Blick auf das Leben heutiger Native Americans.

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