Als der Krieg ihre Heimat zerstörte, fand sie Trost in der Fotografie

Von Aurora Almendral
Veröffentlicht am 28. Jan. 2021, 12:12 MEZ

Es war 2017 – drei Jahre nach dem Beginn des Bürgerkriegs im Jemen –, als die damals 28-jährige Fotografin Thana Faroq in den Niederlanden um Asyl bat.

In Sanaa, der Hauptstadt des Jemen und Thanas Heimatstadt, hatten bewaffnete Houthi-Rebellenmilizen die Kontrolle übernommen und marschierten durch die Straßen. Wenige Monate später töteten Luftangriffe der von Saudi-Arabien angeführten Koalition, die die abgesetzte jemenitische Regierung unterstützt, Hunderte von Zivilisten und legten ganze Stadtteile in Schutt und Asche. Währenddessen wurde in der südlichen Stadt Taizz das Haus ihres Großvaters durch Granaten beschädigt. Verwandte flohen vor den dortigen Kämpfen und suchten Zuflucht im Haus ihrer Mutter in der Innenstadt von Sanaa. Dort ließen Bomben Fensterglas splittern, das die Straßen übersäte.

„Mein Mann und ich waren in großer Gefahr“, sagt Thana. In ihrer Wohnung, etwa fünf Kilometer vom Haus ihrer Mutter entfernt, zogen sie ihre Matratze in den Flur zwischen dem Badezimmer und der Küche. Es war der einzige fensterlose Ort, an dem sie vor umherfliegenden Glassplittern sicher sein konnten. „Wir gingen schlafen, ohne zu wissen, ob wir am nächsten Morgen noch leben würden“, sagt sie.

Dieses Selbstporträt habe ich im März 2020 in einem Antiquitätenladen in Den Haag gemacht. Ich mag es nicht, fotografiert zu werden, und Selbstporträts sind für mich ein Akt der Konfrontation: Es wird so viel offenbar, wenn ich mein Gesicht auf einem Foto betrachte, dass es mir Angst macht. Ich habe manchmal das Gefühl, dass ich durch das, was ich in den letzten zweieinhalb Jahren erlebt habe, sehr gealtert bin.

Foto von Thana Faroq, National Geographic

Thana sagt, dass sie sich 2013 zum ersten Mal der Fotografie widmete, als sie nach ihrem Studienabschluss in Massachusetts nach Sanaa zurückkehrte.

Sie richtete ihre Kamera auf die Straßen ihrer Stadt und auf die Gesichter ihrer jemenitischen Mitbürger. Die Fotografie wurde zu einem Weg, „wieder eine Verbindung zu dem Ort herzustellen“, nachdem sie sich an das Leben auf ihrem liberalen College-Campus in den USA gewöhnt hatte. Der Jemen ist „eine sehr, sehr männerdominierte Gesellschaft“, sagt sie. Aber die Kamera gab ihr ein Gefühl der Freiheit und erlaubte es ihr, eine Identität jenseits der konventionellen, einengenden Erwartungen an Frauen als Ehefrauen, Mütter und Töchter zu behaupten.

Nachdem der Krieg 2014 ausbrach, vermied es Thana, den „Wahnsinn und die Zerstörung“ zu dokumentieren. „Wenn ich es fotografiere, dann ist es real“, sagt sie. Stattdessen suchte sie nach der Normalität des täglichen Lebens, um die düstere Realität zu leugnen – und ihr zu trotzen: körnige Schwarz-Weiß-Fotos von verschleierten Frauen, die gemeinsam auf der Straße spazieren gehen; ein alter Mann, der den Koran liest; warmes Brot, das in einer Bäckerei gestapelt wird; das Lächeln eines Kindes, das von einer Wunderkerze erhellt wird. So, sagt Thana, machte sie den Krieg „nicht real – er ist nie passiert“.

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    Als 2016 die Luftangriffe in Sanaa eskalierten, schliefen mein Mann und ich zwischen der Küche und dem Badezimmer, um nicht von splitterndem Fensterglas getroffen zu werden. Später bekamen wir beide Stipendien, um unsere Masterstudien in Europa fortzusetzen. Wir dachten, dass der Krieg im Jemen am Ende des akademischen Jahres vorbei sein würde und wir zurückkehren könnten. Aber 2017 hatten wir keine andere Wahl, als in den Niederlanden Asyl zu beantragen.

    Foto von Thana Faroq, National Geographic

    2016 verließ Thana ihre Heimat, um an der University of Westminster in London einen Master-Abschluss in Dokumentarfotografie zu machen. Sie glaubte, dass der Krieg am Ende ihres Studienjahres vorbei sein würde und sie in den Jemen zurückkehren würde.

    „Aber das war ein dummer Traum“, sagt sie. „Krieg endet nie – jedenfalls nicht so einfach.“ Anstatt in die Gewalt im Jemen zurückzukehren, flog Thana von London nach Amsterdam, wo ihr Mann Jamal Badr studierte, und beantragte im September 2017 Asyl in den Niederlanden.

    In jenem Jahr beantragten 712.250 Menschen aus Ländern wie Syrien, Irak und Afghanistan bis hin zu Nigeria und Venezuela Asyl in der Europäischen Union. Sie alle flohen vor Gewalt und Verfolgung. In den drei Jahren zuvor hatten mehr als drei Millionen Menschen in der EU Asyl beantragt. Viele von ihnen kamen zu Fuß in endlosen Reihen Geflüchteter an oder wurden in Italien, Griechenland und anderswo im Mittelmeer auf überfüllten Schlauchbooten an Land gespült.

    Der Strand leuchtet bei Sonnenuntergang in der Küstenstadt Zandvoort, westlich von Amsterdam, wo ich im vergangenen Sommer ein Wochenende verbrachte. Alles wirkt so magisch, fast unwirklich – so schön und ruhig.

    Foto von Thana Faroq, National Geographic

    Dieses Bild habe ich im August 2020 während der COVID-19-Pandemie in meinem Haus aufgenommen. Seit ich vor drei Jahren den vom Krieg zerstörten Jemen verlassen habe, habe ich das Gefühl, dass ich immer gehetzt war und nie die Chance hatte, mein eigenes Trauma zu verarbeiten. Eine Sache, die sich während der Pandemie verändert hat, ist, dass ich die Dinge mehr spüre. Ich habe jetzt ein Gefühl für Raum und Zeit. Ich will die Pandemie nicht romantisieren – sie ist grässlich, und so viele haben ihr Leben verloren.  Aber die Quarantäne selbst bringt mir den Frieden, nach dem ich mich gesehnt habe.

    Foto von Thana Faroq, National Geographic

    Lyla, eine armenische Asylsuchende, lebt seit 20 Jahren in den Niederlanden. Sie sagt, ihr Leben sei wie Obst und Gemüse gewesen, das „verdorben und ungenießbar“ ist. Mehrmals wurde ihr der formale Flüchtlingsstatus verweigert, doch Lyla hat keine andere Wahl, als sich weiter um die Anerkennung als Flüchtling zu bewerben. Ein paar Tage, bevor ich dieses Foto gemacht habe, verstarb ihr Vater. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich mein Leben nicht mehr von den Leben derer trennen kann, die ich fotografiere. Sie sind keine Fremden mehr, sondern wurden mit der Zeit Begleiter auf meinem eigenen Weg. 

    Foto von Thana Faroq, National Geographic

    Thana verbrachte ihre ersten vier Monate in den Niederlanden damit, von einem Asylzentrum zum anderen zu ziehen, während die Regierung ihren Antrag bearbeitete. Er wurde schließlich für fünf Jahre bewilligt, nach denen Thana eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung und die Staatsbürgerschaft beantragen kann.

    Als sie sich mit der Entwurzelung und der Ungewissheit ihres neuen Lebens auseinandersetzte, griff sie erneut zur Kamera. Sie fotografierte die kahlen, institutionellen Räume der Asylzentren: die schweren Stahltüren in einer Unterkunft, die früher ein Gefängnis war; die Lichtstrahlen, die auf eine Reihe von Tischen fielen; und das einfache Bett in dem Zimmer, das sie mit ein paar anderen Asylsuchenden teilte. „In gewisser Weise habe ich versucht, meine innere emotionale Landschaft durch die Körperlichkeit der Dinge zu analysieren“, sagt Thana. Die Festigkeit dieser Gebäude half ihr irgendwie dabei, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, dass nun die Niederlande und nicht der Jemen ihr Zuhause waren.

    Der Tag, an dem sie die Sicherheit des Asylzentrums verließ, um in eine Wohnung in Den Haag zu ziehen, wo Jamal zu ihr stieß, war ein Tag des Bangens und der Angst, erzählt sie. Sie musste ihr Leben neu aufbauen. „Ich muss meine Existenz neu aufbauen, ich muss mich von traumatischen Erinnerungen erholen, ich muss mich an die Abwesenheit von geliebten Menschen gewöhnen“, erinnert sie sich. „Die Liste war damals lang“, sagt sie.

    Ein junges Mädchen, das in meinem Asylzentrum in Utrecht wohnte, sieht zum ersten Mal echten Schnee. An diesem Tag hat mich der Duft von Kaffee geweckt, den meine Mitbewohner aus Syrien und dem Jemen gekocht hatten. Wir saßen beim Frühstück, als auf einmal Schnee zu fallen begann. Es war ein besonderer Moment für mich und das Mädchen.

    Foto von Thana Faroq, National Geographic

    Das ist der Blick aus dem Fenster meines Zimmers im Flüchtlingsheim in Utrecht. Ein Eintrag in meinem Tagebuch aus dem Jahr 2017 vermittelt, wie es dort war: „Ich war heute schockiert, als ich aufwachte und feststellte, dass es bereits Freitag war. Die Wahrheit ist, dass man sich als Geflüchtete kaum der Zeit oder der Tage bewusst ist. Es ist nicht wichtig, ob es Samstag oder Montag ist, ob es 7 Uhr morgens oder 21 Uhr abends ist. Wichtig ist, dass jeden Abend gegen 22 Uhr unsere Namen auf einer Liste stehen: entweder für einen Transfer, für eine weitere Anhörung oder für irgendeinen anderen Zweck. Die Leute warten unruhig und nervös darauf, was als nächstes kommt.“

    Foto von Thana Faroq, National Geographic

    Thanas Fotografie hat es ihr ermöglicht, die Unterbrechungen und das Chaos in ihrem Leben zu akzeptieren. Drei Jahre nach ihrer Ankunft in den Niederlanden hat ihre Tätigkeit ihr außerdem einen Weg zur Akzeptanz in der niederländischen Gesellschaft geebnet. Wenn sie Aufträge erhält – selbst so banale wie das Fotografieren einer Brücke oder einer Universitätsreise für ein Magazin –, zeigt ihr das, dass sie zumindest auf professioneller Ebene keine Außenseiterin ist.

    Thana kämpft immer noch damit, die Sprache zu lernen, aber sie staunt über die Toleranz der Niederländer, die sie kennenlernt, über ihre Bereitschaft, sich ihr gegenüber so zu öffnen, sodass sie sich ihnen verbunden fühlt. „Ich kann mir hier ein Zuhause schaffen. Nicht sofort, aber irgendwann“, sagt sie. „Ich bin glücklich.“

    Als Thana einen Fotoworkshop für Geflüchtete leitete, der vom Centraal Museum in Utrecht finanziert wurde, konnte sie einer weiteren Bedeutung Ausdruck verleihen, die die Kamera für sie hatte: als ein Hilfsmittel zur Heilung. Wenn sie ihre Fotografien mit anderen teilte – die genau wie sie von Erinnerungen verfolgt werden, von erschütternden Reisen gezeichnet sind oder unter Heimweh leiden –, half ihnen das, sich mit ihrem Schmerz auseinanderzusetzen.

    Dieser einfache Akt gab ihnen Mut, sagt Thana. „Wenn du deinen Schmerz mit anderen teilst, kann es passieren, dass du dich bestärkt fühlst. Du bist damit dann nicht allein.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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