Tor zur Welt: Wie National Geographic Autoren inspiriert

Für die Autorin bot NATIONAL GEOGRAPHIC in der Kindheit ein Tor zu den unendlichen Weiten der Welt. Es lieferte auch eine Inspiration für ihr neues Buch.

Von Tara Conklin
Veröffentlicht am 22. Mai 2024, 22:31 MESZ
Spielende Kinder

Für die Autorin bot NATIONAL GEOGRAPHIC in der Kindheit ein Tor zu den unendlichen Weiten der Welt. Es lieferte auch eine Inspiration für ihr neues Buch.

Foto von pxhere

Bevor es an die Uni ging, arbeitete mein Vater auf einem Frachtschiff, das ihn in die Sowjetunion, nach Dänemark, Finnland, Großbritannien und Frankreich brachte. Als kleines Kind saß ich oft neben ihm auf dem Sofa, einen Bildband oder NATIONAL GEOGRAPHIC auf dem Schoß, betrachtete die Fotos von fernen Orten und Menschen und hörte ihm zu, wenn er von seinen eigenen Reisen erzählte. Am besten gefielen mir Bilder, die Geschichten erzählten, wie das Bild einer tibetanischen Hirtin, deren leuchtend farbige Kleidung sich von einem kahlen Hintergrund abhebt; Harriet Tubmans grimmiger Blick in einem Artikel über die Underground Railroad; oder Dorothea Langes ikonisches Bild einer Migrant Mother. Jedes dieser Bilder deutete eine gewisse Intimität an, einen Einblick in das einzigartige, geheimnisvolle Innenleben eines anderen Menschen. In meiner Erinnerung vermischen sich die Fotos und die Geschichten meines Vaters. Habe ich ein Bild von der Hängebrücke über den Sambesi gesehen, oder hat mir mein Vater erzählt, wie er sie überquert hat? Hat mein Vater einen Japanmakaken gesehen, oder haben wir ein Foto dieses außergewöhnlichen Tieres mit den traurigen Augen angeschaut?

Geschichten zu erzählen, sollte zu meinem Lebensinhalt werden. Die Bilder gaben mir das Gefühl, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein. Wir sind alle miteinander verbunden, dachte ich. Wir sind alle auf der Suche nach den gleichen wesentlichen Dingen: Liebe, Geborgenheit, Familie, Glück. 30 Jahre, nachdem ich das Foto von Harriet Tubman gesehen hatte, schrieb ich meinen ersten Roman „The House Girl“, der von der Underground Railroad handelte und ein Überraschungserfolg wurde. Mitten im Corona-Lockdown begann ich „Community Board“, meinen dritten Roman. Er handelt von einer jungen Frau, die sich in ihr Elternhaus im winterlichen Neuengland zurückzieht, wo sie einen unerwarteten Verlust verarbeitet und ihren Weg zurück ins Leben findet. Als ich meine Figur Darcy erschuf, dachte ich an die längst vergangenen Nachmittage zu Hause auf dem Sofa.

​Vom Fernweh erfasst

Ich wuchs in einer Kleinstadt im Westen von Massachusetts auf, wo der Schnee meterhoch lag und wir im Sommer Himbeeren vom Strauch aßen. Es war ein wunderschöner, friedlicher Ort. Aber die Geschichten meines Vaters hatten in mir den Samen des Fernwehs gepflanzt, der schnell und stark wuchs. In der Pubertät wurden mir meine Familie und die Stadt zu eng und zu klein. Wenn das Wetter es zuließ, kletterte ich aus meinem Zimmerfenster auf das steile Dach und schob mich empor zu einem flacheren Stück, von dem aus ich die Sterne sehen konnte. Ich fragte mich: Wohin werde ich gehen? Wen werde ich kennenlernen? Wer möchte ich sein? Ich verließ Massachusetts so schnell wie möglich.

Ich reiste, studierte und arbeitete in Costa Rica, Neuseeland, Moskau, London und an vielen Orten in Europa. Ich liebte das Nomadenleben, die Begegnungen mit neuen Menschen und die verschiedenen Jobs in unterschiedlichen Städten. Aber schließlich sehnte ich mich nach einem Zuhause und dauerhaften Beziehungen. Vor 15 Jahren ließ ich mich mit meiner Familie in Seattle nieder. Dort wuchsen meine Kinder zu Teenagern heran, und meine Karriere als Schriftstellerin begann. Als ich 2020 mit „Community Board“ anfing, hatte die Welt sich plötzlich und unwiderruflich verändert. Ich machte mir Sorgen – wie alle. Um unsere Kinder, unser Auskommen, die Sicherheit von Verwandten, älteren Menschen und anderen gefährdeten Bevölkerungsgruppen.

Das Buch spielt in einer Zeit vor der Pandemie, aber ich stellte meiner Protagonistin die gleichen Fragen, die ich mir damals selbst stellte: Wie finden wir Inspiration, wenn wir allein und bedrückt sind? Wie bauen wir Verbindungen auf, wenn die Angst uns lähmt? Wie lassen wir uns auf eine Welt ein, die grausam und gefährlich erscheint? Als aus den ersten Tagen des Lockdowns Wochen, schließlich Monate wurden, geschah Unerwartetes in meiner Nachbarschaft. Es fing klein an: Nachbarn schwenkten Wunderkerzen entlang unserer Straße, um den Geburtstag eines Fünfjährigen zu feiern. Dann wurde es immer größer: Wir brachten uns gegenseitig Lebensmittel, sahen nacheinander, es gab improvisierte Freiluftkonzerte, Weinflaschen auf der Türschwelle und stundenlange Telefongespräche. Kleine Akte der Freundlichkeit und Barmherzigkeit überall, zwischen Freunden, Nachbarn und Fremden. Das Gefühl, Teil einer größeren Gemeinschaft zu sein, erinnerte mich daran, wie ich mich als Kind zu Hause auf dem Sofa gefühlt hatte. Wir sitzen alle im selben Boot – auf der anderen Straßenseite, der anderen Seite der Stadt oder der anderen Seite der Welt. Das war die Botschaft, die ich mit der Geschichte vermitteln wollte.

​Die Suche nach Erneuerung

Als ich mir Darcys Elternhaus vorstellte, sah ich vor meinem inneren Auge Stapel von NATIONAL-GEOGRAPHIC-Heften. In ihrer selbst auferlegten Isolation während eines langen, kalten Winters liest Darcy sie alle. Sie liest von Wikingerschiffen und Forschern vor der Küste Chiles, von Pablo Neruda und dem leuchtenden Quetzal-Vogel. In diesen Geschichten findet sie neue Orientierung und Verbindung zur Außenwelt. Eine der letzten Geschichten, die sie liest, handelt von Djenné, einer Stadt in Mali. Deren Bewohner kommen jedes Jahr vor der Regenzeit zusammen, um die Große Moschee, die um 1200 aus sonnengetrockneten Lehmziegeln erbaut wurde, neu zu verputzen und zu reparieren, wohl wissend, dass sie das im nächsten Jahr wieder tun müssen. Es ist ein Akt der Erneuerung, eine Aufgabe, die von Einzelnen zum Wohl der Gemeinschaft übernommen wird. „Architektur ist sowohl ein Verb als auch ein Substantiv“ in Djenné, heißt es in der Bildunterschrift. Dasselbe gilt für Begriffe wie Zusammenleben, Verbinden, Erleben und Lieben.

Darcy wagt sich aus dem Haus, um ihre Trauer zu überwinden und wieder mit Menschen zusammenzukommen. Sie begegnet einer rüstigen Witwe, die nicht mehr im Altersheim bleiben will, einem Vater von drei Söhnen, der in seinem Garten einen Spielplatz für die Nachbarschaft bauen will, einem jungen Polizisten, der die Besitzerin einer Drohne aufspürt, die ständig über Darcys Haus kreist. Einer seltsamer und wunderbarer als der andere. Im Lauf des Buches wird Darcy klar, dass sie nicht allein ihre Trauer überwinden und zu sich selbst finden kann – sie braucht die Verbindung zu den Menschen um sie herum. Unser Zuhause bleibt immer ein Teil von uns. Egal, wie lange wir anderswo gelebt haben oder seit wann wir das Haus, den Ort oder die Stadt das letzte Mal betreten haben. Ich klettere nicht mehr auf das Dach, um die Sterne zu sehen. Aber ich stelle mir immer noch Fragen über mich selbst und meinen Platz in der Welt. Die nie endende, frustrierende, aber auch schöne Suche nach uns selbst und unserem Platz in der Welt ist der Grund, warum ich schreibe. Wer sich eine Vorstellung vom Leben anderer macht, kann sich so auch für sich selbst ein reicheres und erfüllteres Leben ausmalen.

Die Autorin Tara Conklin lebt in Seattle. Auf Deutsch ist ihr Roman „Die letzten Romantiker“ erschienen (Harper Collins, 22 Euro). 

Cover National Geographic 4/24

Foto von National Geographic

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