Detroit steht wieder auf

Die Pleite der großen Autobauer hat die Metropole in die Armut gestürzt. Doch nun wird „Motown“ langsam wieder cool. Häuser sind billig und die Möglichkeiten für Gründer grenzenlos.Die Geschichte einer Stadt,die versucht, sich selbst zu retten.

Von Susan Ager
bilder von Wayne Lawrence
Foto von Wayne Lawrence

Zusammenfassung: Detroit ist die ärmste Großstadt der USA und führt die Gewaltstatistik an. Die Finanzkrise der 2000er traf die einstige Metropole hart und brachte die Wirtschaft zum Erliegen. Doch es gibt wieder Zeichen für einen Aufschwung: Bewohner kehren zurück, Investoren kaufen riesige Grundstücke für wenig Geld, Unternehmen siedeln sich an und täglich eröffnen neue Geschäfte.

Inmitten der ärmsten Großstadt der USA steht ein flaches, bunt gestrichenes Haus. Drinnen bringt Anthony Hatinger im Schein einer Gewächshausbeleuchtung seine Saat aus und hofft, dass sie aufgeht. Mit dem spitzen Ende einer Kugelschreiberkappe nimmt er drei winzige Basilikumsamen von seiner Handfläche auf und setzt sie auf feuchte, klumpige Erdpfropfen, „Browniehappen“ nennt er sie. Im Keller schwimmen in großen Becken Tausende junge Tilapias. Deren Ausscheidungen werden nach oben gepumpt und düngen die Pflanzen, die sich die Nährstoffe herausziehen. Das auf diese Weise gefilterte Wasser fließt wieder nach unten in die Fischbecken, und der Kreislauf beginnt von vorn.

Es passiert wieder etwas in „Kory’s Market“ in North Central, acht Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Dieser Ort war schon früher einmal eine Institution – als Schnapsladen. Im Keller, in dem heute die Fische in den Wannen schwimmen, standen früher die Whiskeyflaschen. Heute gehört der Laden zwar noch nicht wieder zu den „angesagten“ Plätzen, aber das könnte sich ändern. Denn die Stadt, in der er steht, wird auf einmal wieder cool: Detroit.

Detroit war schon immer ein Ort, auf den die Welt blickte. Einst war es Sinnbild für den wirtschaftlichen Aufstieg der Großstädte. Hier läutete Henry Ford 1913 mit der Massenproduktion des Ford T die Hochphase der Industrialisierung ein. Der Traum vom „Aufstieg für alle“ wurde hier zuerst geträumt. Genauso archetypisch war aber auch der Albtraum vom Absturz. Dieser Niedergang setzte in den 1960ern ein und erreichte in den 2000ern seinen Tiefpunkt. Als die Finanzkrise kam und weltweit auch die größten Unternehmen in die Knie gingen, traf es Detroit wie kaum eine andere Stadt der Welt. General Motors und Chrysler mussten Insolvenz anmelden, die Arbeitslosenrate betrug bald 18,2 Prozent, rund ein Drittel der Detroiter galt als arm. Die Stadt musste 2013 Insolvenz anmelden.

Und heute? Kann man Detroit schon wieder als globales Lehrbeispiel nehmen: dafür, wie sich eine Stadt selbst wiederbeleben kann. Und dies nicht nur durch staatliche Rettungsmaßnahmen, sondern durch das private Engagement der Menschen, die in ihr leben.

Hatinger, 25, schwarze Mutter, weißer Vater, ist stiller Teilhaber dieses Wandels. Er hat Religion und Gartenbau studiert; und arbeitet für einen christlichen Träger in einem der vielen Nachbarschaftsprojekte, die Detroit von Grund auf verändern. Den Fisch und das Gemüse aus eigener Produktion liefern Hatinger und seine Mitstreiter sowohl an gut besuchte neue Restaurants als auch an Lebensmittelmärkte in den ärmeren Gegenden der Stadt.

Jeden Tag läuft oder radelt Hatinger auf dem Weg zur Arbeit durch eine Art Freilichtmuseum des Niedergangs und der Wiedergeburt: verfallene Gebäude, Häuser, die wiederaufgebaut werden, brachliegende Flächen. „In Detroit habe ich viel über die menschliche Seele gelernt und über Beharrlichkeit“, sagt er. „Man hört unglaubliche Sachen, wie manche Leute immer wieder versuchen, etwas auf die Beine zu stellen. Mit so viel Herz. Ich bin hier genau richtig.“

Darf ich Ihnen hier ein paar Detroiter vorstellen? Kennengelernt habe ich sie bei meiner Rückkehr in die Stadt, in der ich geboren wurde und 25 Jahre gearbeitet habe. Ich habe mich nicht um einen Termin bei Mike Duggan bemüht, dem tatkräftigen neuen Bürgermeister, seit vierzig Jahren das erste weiße Oberhaupt in einer schwarzen Stadt. Auch nicht bei den Geschäftsführern der großen Unternehmen und Stiftungen, die Hunderte Millionen Dollar gespendet haben, um Detroit aus der Insolvenz zu retten. Oder bei Multimillionär Dan Gilbert, Gründer von Quicken Loans, dem größten Online-Hypothekenfinanzierer der USA. Gilbert siedelte Quicken Loans in seine Heimatstadt um, kaufte mehr als 70 Immobilien, finanzierte Dutzende Start-up-Unternehmen und hat geschätzt 12.500 Angestellte.

Mich interessierten in diesem Schauspiel we- niger die großen Stars als die Nebendarsteller, die das verloren gegebene Detroit nun neu erfinden. Manche sind mit konkreten Plänen gekommen; andere bauen Luftschlösser. Aber klar ist: Ausgerechnet der Verfall dieser Stadt ist heute ihr Motor. In keiner anderen amerikani- schen Metropole kann man mit so wenig Geld so viel erreichen.

Das neue Detroit erstrahlt in der Innenstadt und in Vierteln wie Corktown und Midtown, doch um diesen Leuchtkern herum liegt noch immer das alte Detroit, Hektar an Hektar Zersetzung und Zerstörung, Prärien, auf denen nur noch einzelne verlorene Häuser stehen. An den alten Autofabriken, die die Stadt einst reich gemacht haben, bröckelt der mit Graffiti besprühte Beton. Millionen Fenster haben in dieser Stadt keine Scheiben mehr.

Aber die Detroiter, die ich getroffen habe, sehen genau an diesen Plätzen ihre Chance. Sie vertrauen in eine unsichere Zukunft. Wer keine Hoffnung mehr aufbringen konnte, ist ohnehin längst weggezogen.

TED-Video: Die Stadtplanerin Toni Griffin erzählt von ihrer Vision für Detroit:

Man kann natürlich auch problemlos in die Innenstadt fahren, ohne das immer noch lädierte Detroit zu Gesicht zu bekommen. Auch Robert Hake fuhr lange geflissentlich daran vorbei, noch Monate nachdem er seine gut gehende Firma aus einem Vorort ins Zentrum verlegt hatte. MyLocker.net ist auf individuell gestaltete Sportkleidung spezialisiert. In seiner Firma arbeiten vor allem Einheimische; im Moment stellt er gerade 70 Detroiter ein und verdoppelt damit fast die Zahl seiner Angestellten.

Doch anfangs hatte Hake, 41, seine Zweifel. Nicht umsonst hatte man Detroit in den 1970er-Jahren die „Mordhauptstadt der USA“ genannt. „Kurbel die Fenster hoch und verriegle die Tür“, sagten seine Eltern früher immer, wenn sie mit ihm im Auto in die Stadt fuhren. „Mein Entschluss, hier etwas aufzuziehen, hatte nichts damit zu tun, dass ich Detroit wiederbeleben wollte“, sagt er, während sich in seinem glänzenden, drei Meter langen Schreibtisch die Skyline der Stadt spiegelt. Er wollte einfach nur ein Schnäppchen machen – eine leer stehende Autoersatzteilfabrik, eine Gewerbefläche, so groß wie zwei Fußballfelder. „Aber jetzt, wo ich dazugehöre, reißt es mich einfach mit.“

Detroit erfindet sich neu, Gebäude für Gebäude, Idee für Idee, Mensch für Mensch. Jetzt, da die Stadt ihre 18 Milliarden Dollar Schulden los ist, kann sie ein wenig von dem tun, was getan werden muss: 40000 Straßenlaternen wurden erneuert, die Durchschnittszeit, die die Polizei von einem Notruf bis zur Ankunft am Einsatzort braucht, wurde von einer Stunde auf weniger als 20 Minuten gesenkt.

NG-Video: Detroiter erzählen, was sie an ihrer Stadt leben

Antonio „Shades“ Agee, der Graffitikünstler, der das Geschäftsgebäude von MyLocker gestaltet hat, ist mitten in der Stadt aufgewachsen. Seine Mutter, eine Latina, lebt immer noch in dem Haus seiner Kindheit, in einem Viertel, das er nur noch ungern besucht. Es ist nicht „das neue Detroit“. Agee, 44, ist ein typischer Detroiter – beherzt, ambitioniert, einer, der sich durchkämpfen musste. Mit 15 begann er zu trinken, Drogen zu nehmen und Graffitis zu sprühen. Detroits Hauptstraße, jetzt voller glitzernder Läden und teurer Eigentumswohnungen, „war so tot, dass ich jede Wand bearbeiten konnte, und niemanden hat es gestört.“

Heute wird Agee als Graffitikünstler von Reebok, Fiat und Chrysler gebucht. Er weiß, er gehört zu dem taffen, kreativen, stolzen Detroit, das zu einer coolen Marke geworden ist. Es ärgert ihn, dass Leute, die die Stadt kaum kennen, den Schriftzug Detroits auf T-Shirts tragen – weil sie es schick finden. „Dieses neue Erblühen ist wirklich toll“, sagt er. „Viele wollen jetzt Detroit retten. Aber Detroit kann man nicht retten. Detroit muss man sein.“

Der breite Fluss, die Boulevards, die historisch bedeutende Architektur – die Stadt galt früher als Paris des Mittelwestens. In „Motor City“ oder „Motown“ wurden mehr Automobile montiert als irgendwo sonst. Die Arbeiter hatten geregelte Jobs mit Tariflöhnen, sie konnten sich ein Haus leisten, ein Boot, vielleicht ein Wochenendhäuschen. Manche behaupten, dass hier Amerikas Mittelschicht geboren wurde. Als Ende der 1950er-Jahre neue Autobahnen gebaut wurden, wanderten viele in die Vororte ab. Spätestens nach den verheerenden Rassenunruhen von 1967 zogen Zehntausende weg, vorwiegend weiße Familien. Die Stadt trocknete aus. Seitdem prophezeite man Detroit immer mal wieder eine neue Blüte – das erste Mal schon ein Jahr später, als die Detroit Tigers im Baseballfinale die St. Louis Cardinals besiegten.

Ich war drei, als meine Eltern 1957 von hier wegzogen, wie bald mehr als die Hälfte der Bürger. Mein Herz aber blieb in Detroit, wo Grandpa Zielinski Rosen und Knoblauch anbaute und Grandma mit mir beim polnischen Bäcker Pumpernickel kaufte.

In den 1970er-Jahren schien sich ein Aufschwung anzukündigen, als Henry Fords Enkel die majestätischen Türme des Renaissance Center bauen ließ. Doch mit seiner Festungsästhetik wirkte der Gebäudekomplex eher abweisend auf Besucher. Dann sollte eine 1987 eingeweihte, 4,7 Kilometer lange Hochbahn die Innenstadt revitalisieren, aber kaum jemand fuhr damit. 1999 und 2000 eröffneten drei Kasinos; auch das war nicht die Lösung. Schließlich sollte 2006 die Austragung des Super Bowl im American Football die Wende bringen. Wieder nichts.

Den K.-o.-Schlag versetzten der kränkelnden Stadt die Insolvenzen von General Motors und Chrysler sowie die Immobilienkrise. Häuser und Schulen verwaisten, Plünderer, Drogendealer und Kriminelle regierten die Straßen.

Wie eine Migräne, die langsam nachlässt, hat sich die Stimmung in der Stadt inzwischen allmählich gebessert. Am östlichen Stadtrand hat Alex Badasci Lindmeier, 36, gerade ein Haus gekauft, einen 90 Jahre alten Backsteinbau im Tudorstil, so nah am Fluss, dass man die klagen- den Signalhörner der Frachtschiffe hören kann. Beinahe hätten Lindmeier und seine Freundin in deren Heimatstadt Hongkong eine Einzimmerwohnung gekauft, aber dann sagten sie sich: „Wir wären unser ganzes Geld los und hätten nichts Aufregendes damit gemacht.“

Er gestaltet Internetseiten; sie macht Onlinemarketing. Sie können überall arbeiten, also fingen sie an, sich in Amerika umzusehen. Im Juli 2013 erfuhr Lindmeier, dass Detroit Konkurs angemeldet hatte. Ein paar Tage später packte er einen Koffer, eine Kühltasche und seinen schwarzen Labradormischling Maya ins Auto und fuhr quer durchs Land nach Detroit. Von einem Motel aus erkundete er die Umgebung und geriet eines Tages in Jefferson Chalmers zufällig in ein Nachbarschaftsfest: Menschen aller Hautfarben, die gemeinsam grillten. Ein paar Wochen später kaufte er für 8300 Dollar ein leer stehendes Haus in derselben Straße, innerhalb eines Jahres gehörten ihm auch das danebenliegende Grundstück sowie vier weitere Häuser und vier Wohnungen. „Wir haben uns ganz schön verausgabt“, sagt er, „150.000 Dollar.“

Sein neues Haus war übel zugerichtet: Fenster und Haushaltsgeräte fehlten, Leitungen und Rohre waren herausgerissen, die Eichenholzfußböden durchweicht von Müll und verrottenden Lebensmitteln. Heute sind die verputzten Wände in einem lässigen Jeansblau gestrichen, und hinter dem Haus hat er Hochbeete gebaut und einen Bienenstock eingerichtet.

Aamir Farooqi saß vor einiger Zeit im Savoy Hotel in London, als man ihm von Detroits Potenzial erzählte. Kurz darauf kam er zum ersten Mal in die Stadt. Am Flughafen erklärte ihn ein Zollbeamter für verrückt, wenn er auch nur einen Cent in die Stadt investierte.

Er tat es trotzdem. Farooqi, 54, Pakistani und ehemaliger Topmanager eines multinationalen Konzern, kaufte mit seinem australischen Partner 150 Häuser, die sie sanierten und wieder vermieteten. Viele internationale Investoren haben in Detroit spottbillige Häuser gekauft, aber Farooqi lebt auch den größten Teil des Jahres hier. Er hat sich in die Stadt verliebt und vergibt Kredite manchmal zinsfrei an „junge Leute, die Mumm und Grips haben und Risiken eingehen“.

Die Stadt selbst schafft es noch immer kaum, alltägliche Dienstleistungen zu gewährleisten, etwa pünktliche Busse oder funktionierende Straßenbeleuchtung. Das Problem ist simpel und doch schier unlösbar: Detroit ist nicht nur arm, es ist auch noch sehr weitläufig. Im Jahr 1950 lebten 1,8 Million Menschen in der Stadt, davon etwa 84 Prozent Weiße. Bis 2013 war die Bevölkerungszahl auf 689.000 gefallen, davon waren etwa 83 Prozent Afroamerikaner. Die Hälfte der Haushalte lebt von weniger als 25.000 Dollar pro Jahr. Auch wenn die Mordraten sinken, führt Detroit bei den Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern noch immer die Gewaltstatistik an. Die Schulen der Stadt nennt der Bildungsminister eine „nationale Schande“.

Bis heute gibt es in den drei übrig gebliebenen Autowerken noch offene Stellen. Aber die meisten davon erfordern besondere Qualifikationen. Auch bei den zahlreichen technologischen Start-up-Unternehmen in der Stadt ist das nicht anders. Detroit hat die höchste Arbeitslosenrate unter den 50 größten Städten der USA. Dabei scheint hier jede Woche ein neues Geschäft aufzumachen – Lebensmittelmärkte, Saftbars, Cafés, sogar Fahrradmanufakturen.

Als ich an einem sonnigen Spätnachmittag aus dem Stadtzentrum fahre, fällt mein Blick auf zwei Arbeiter, die an einem zweistöckigen grauen Eckhaus werkeln. Es gehört Steve Johnson, 50. Früher war er Bauarbeiter, heute versucht er sich im Immobiliengeschäft. Das Haus, vor dem er steht, hat er zehn Jahre lang vermietet, nun ist es total heruntergekommen, gerade versucht er, die zerschlagenen Fenster auszutauschen. Die Hälfte seiner zehn Wohnungen in der Gegend steht leer. Aber schon bald, davon ist er überzeugt, werden auch hier die Mieter kommen, in dieses früher vernachlässigte Viertel, das jetzt als North Corktown angepriesen wird.

„Als ich hier aufgewachsen bin, kosteten die Grundstücke 50 Dollar“, sagt Johnson, kneift die Augen zusammen und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. „Eine Zeit lang konnte man sich einfach eins unter den Nagel reißen. Man brauchte es bloß in Ordnung zu bringen und den Rasen zu mähen, schon hat man es von der Stadt bekommen. Jetzt sind alle verkauft.“ Er selbst lebt in einer gottverlassenen Gegend 13 Kilometer von hier. Aber jetzt gelten all seine Hoffnungen dieser Seite der Autobahn, dem Aufschwung, der doch auch hierher kommen muss. Aber wird er das wirklich?

Johnson überlegt kurz. Dann sagt er einen Satz, den viele der mutigen Glücksritter in diesem unberechenbaren Aufsteigerdrama sagen könnten: „Ich setze auf das, was ich habe.“ Was auch immer daraus wird.

(NG, Heft 5 / 2015, Seite(n) 119 bis 135)

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