Die letzten Tage des Eismanns

An die fünf Stunden wird er gebraucht haben. Vom hinteren Schnalstal, wo heute ein Stausee liegt, hinauf zum Tisenjoch. Der Mann kann nur hier gegangen sein, der Steig auf halber Höhe rechts ab über das Niederjoch ins Ötztal ist viel jünger. Er wird - so

Von Erwin Brunner
bilder von Kazuhiko Sano
Foto von Kazuhiko Sano

An die fünf Stunden wird er gebraucht haben. Vom hinteren Schnalstal, wo heute ein Stausee liegt, hinauf zum Tisenjoch. Der Mann kann nur hier gegangen sein, der Steig auf halber Höhe rechts ab über das Niederjoch ins Ötztal ist viel jünger. Er wird - so wie wir an diesem samtblauen Septembertag - dem kleinen Bach gefolgt sein. Wird immer wieder zurückgeschaut haben. Nein, keiner hinter ihm! Hier wäre jeder zu sehen auf der immer steiler ansteigenden Bergflanke. Also weiter, auch wenn die Wunde an der rechten Hand wieder pochend schmerzt. Rast will er erst oben machen. Er kennt die Felsmulde, sie liegt nur einen Steinwurf hinter dem Grat.

Foto von Heiner Müller-Elsner

Der Mann sollte sie nicht lebend verlassen. Es ist früher Nachmittag, als wir die Stelle erreichen. 3210 Meter Höhe, 92 Meter südlich der Grenze zwischen Österreich und Italien. Ein bisschen geht Wind. Nebelschleier streichen uns um die Beine, die Gebirgsluft prickelt und riecht nach Kälte, von Osten bleckt der Similaun seine Gletscherzunge. Eisplatten und Schneematsch auch in der Felsmulde, die mit ihren rostbraunen Steinwänden aussieht wie ein im Winter zerborstenes Langboot. Mittendrin der "Mumienstein", markiert mit einem faustgroßen, blassroten Mal. "Ein herrlicher Platz zum Sterben." Robert Ciatti, der junge Südtiroler Bergführer, der uns auf Ötzis letztem Fußweg heraufbegleitet hat, sagt es lächelnd in die hörbare Stille.
Hier, auf diesem damals nur halb freigefrorenen abgeplatteten Stein, fanden zwei Touristen aus Nürnberg am 19. September 1991 den "Mann aus dem Eis". Mumifiziert und - noch sensationeller - mitsamt all seinen Habseligkeiten: den ältesten erhaltenen Menschen unserer Art, älter als Pharao Tutanchamun, älter als alle Ritualopfer und Moorleichen, die durch glückliche Umstände ihr unglückliches Ende überdauert haben. Einen Toten, den eine Klimakapriole ans Licht brachte. Im März 1991 hatten Stürme feinsten ockerfarbenen Sand aus der Sahara bis in die Alpen geweht.

BELIEBT

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    Foto von Heiner Müller-Elsner

    Unter der Sommersonne schmolzen die mit diesem höchst wirksamen Lösungsmittel bestäubten Gletscher nur so dahin. Allein in Tirol gab das vermeintlich ewige Eis ein halbes Dutzend Leichen frei, Ötzi als sechste. Die zügig identifizierbaren Gletscheropfer - vermisste Touristen aus den letzten hundert Jahren - fanden schnell zur allerletzten Ruhe. Alle Welt stürzte sich indessen auf die geheimnisvolle Feuchtmumie, und an die 70 Wissenschaftlerteams aus mehr als zehn Ländern gingen an die teuerste Totenschau der Geschichte.
    Der Mann ist offenbar gut gerüstet für den Gang ins Gebirge. Grasmantel zum Überziehen und als Matte zum Drauflegen. Rückentrage (eine Kraxe, wie von einem Senner oder Schmuggler). Zunderschwamm und Eisenpyrit zum Feuermachen. Zwei Birkenrindengefäße, um die Glut zu transportieren. Erste-Hilfe-Set mit Birkenporlingen zum Blutstillen und Desinfizieren. Nähset, bestehend aus Knochenahle, Lindenbast, Lederschnüren und Tiersehnen. Auch veritable Waffen hat er dabei: sein Beil, einen Dolch mit Feuersteinklinge, einen Köcher voller Pfeile, dazu einen riesigen Bogen. Doch der Augenschein trügt. Dieser Mann könnte nicht einmal einen Hasen erlegen. Sein Bogen ist unfertig. Von den 14 Pfeilen wären gerade mal zwei schussbereit. Eigenartig.

    Und überhaupt: Wer war er, und wo wollte er hin? Wie kam er zu Tode? Und dann ins Eis! Warum fraßen ihn nicht die Würmer? Oder die Adler? Warum wurde er zur Mumie und nicht zur Fettwachsleiche wie andere Gletschertote? Die Theorien und Spekulationen blühen seit dem ersten Tag seiner Auffindung. Zur virtuellen Gegenüberstellung wird alles nur erdenkliche Personal der Jungsteinzeit aufgerufen. War er ein Bauer oder Jäger? Ein Hirte oder Händler? Schmied oder Schamane? Krieger oder Kupferprospektor? Ein Einheimischer oder ein Fremder? Abschließend aufgeklärt wird der Fall Ötzi in all den Jahren jedoch nicht. Weil da eine Hundertschaft von akademischen Kommissaren ermittelt, jeder für sein Fach und gern gegen (fast) alle anderen? Oder weil diese älteste aller Leichen einfach so enigmatisch bleibt wie das Datum, an dem sie gefunden wurde. 19.9.1991 - ein Zahlenpalindrom. Und liest es sich nicht wie die Chiffre einer unendlichen Geschichte, von vorne und hinten gleich rätselhaft? Doch seit kurzem haben die hartnäckigsten Rechercheure im Fall des Toten vom Tisenjoch neue, unabweisbare Indizien: Der Eismann wurde ermordet - und er starb noch am Tatort. Im Archäo-Krimi "Ötzi und die Detektive" beginnt ein neues Kapitel.

    (NG, Heft 7 / 2007)

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