Die wahre Geschichte des Robinson Crusoe

Ein schönes Eiland, ein Schiffbrüchiger und ein Wilder: Daniel Defoes Werk ist eine Ausgeburt der Fantasie. Den einsamen Seemann auf einer entlegenen Insel gab es allerdings wirklich - nur ganz woanders.

Von Claus Lutterbeck
Foto von Philipp Spalek

"Robinson Crusoe" ist der Klassiker unter den Abenteuer-Romanen. Der Schriftsteller Daniel Defoe hat Robinson, den Wilden namens Freitag und das Leben auf der einsamen Insel frei erfunden. Allerdings hat es tatsächlich einen Seemann gegeben, der von seiner Crew auf einer Insel ausgesetzt wurde: der Schotte Alexander Selkirk musste über vier Jahre in der Wildnis ums Überleben kämpfen. Anders als die Romanfigur erlebte er keine romantischen Abenteuer in einem Südsee-Paradies. Auf der heutigen Robinson-Crusoe-Insel haben weder Robinson noch Selkirk gelebt.

Er war alt, er war pleite, und er brauchte Geld. Seine Tochter wollte heiraten, aber die Firmen, die er gegründet hatte, waren alle bankrott. Er war gescheitert als Strumpf- und Ziegelfabrikant, als Parfümhersteller, Zeitungsverleger, Geheimagent und Steuereintreiber. „13-mal reich und wieder arm“ sei er in seinem aufregenden Leben gewesen, stöhnte Daniel Defoe, der Sohn eines Kerzenmachers aus London. Eines aber konnte der fromme Mann richtig gut: schreiben. Er besaß eine überbordende Fantasie und eine flinke Feder; er verstand es, wenig Wahres und viel Erfundenes geschickt zu vermengen. Und vor allem: Er hatte einen unglaublichen Riecher dafür, was die Leute lesen wollten. Viele Hundert Pamphlete und religiöse Traktate, politische Schmähschriften und Satiren hatte der Topjournalist seiner Zeit verfasst, zumeist unter einem seiner 198 Pseudonyme.

Ein Roman war noch nicht dabei, als er im reifen Alter von 59 Jahren eine Abenteuergeschichte niederschrieb, wie sie England, ja Europa bis dahin nicht gelesen hatte. Die Botschaft seines Buches war kurz: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Der Titel war lang: „Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann: Welcher acht und zwanzig Jahre ganz allein auf einer unbewohnten Insel an der amerikanischen Küste, nahe der Mündung des großen Flusses Oroonoque lebte; an deren Strand er geworfen wurde nach einem Schiffbruch, bei dem die ganze Besatzung außer ihm selbst ums Leben kam. Nebst einem Bericht, wie er wundersam durch Piraten gerettet wurde. Geschrieben von ihm selbst.“

Das war natürlich gelogen. Es gab keinen Robinson, der etwas hätte aufschreiben können, die Figur hatte Defoe erfunden. Es gab diese Insel nicht, auf der nackte Menschenfresser ihre Feinde verspeisten, und es gab auch keinen Freitag, keinen gehorsamen Wilden, den Robinson hätte zum gottesfürchtigen Protestanten erziehen können. Was es allerdings gab, war ein schottischer Matrose namens Alexander Selkirk, der von 1704 bis 1709 allein auf einer abgelegenen Insel namens M.s a Tierra im Pazifik überlebt hatte. Er war das Stadtgespräch an der Themse, als er 1711 nach London zurückkehrte. Es ist anzunehmen, dass Defoe den Seemann getroffen und interviewt hat.

Was an der abenteuerlichen Geschichte wahr ist, die er dann schrieb, woher seine Informationen kommen, wer die Vorbilder waren für seine Romanfigur und wo sie gehaust hat, darüber streiten bis heute die Gelehrten.

Weil Defoe den Schauplatz in die Karibik legte, glaubte man damals (einige Forscher sogar bis heute), Tobago nahe der Orinoko-Mündung sei die wahre Robinson-Insel. Tatsache aber ist: Tobago war weder klein noch einsam noch von Menschenfressern bewohnt. Dort schufteten Sklaven auf den Zucker- und Baumwollplantagen der Briten.

Auch die reiche Flora, die Defoe in seinem Roman zauberte, war frei erfunden. Nirgendwo in der Karibik wuchsen Trauben, Zitronen, Dattelpalmen, Melonen oder Kakaobäume. Es gab auch keine Pinguine oder Seehunde, wie im Roman, und das milde Klima, das Robinson genoss, herrschte dort ebenfalls nicht – die Karibik ist tropisch heiß und feucht.

Wahr oder unwahr? Den Lesern damals war das egal, sie verschlangen das Buch. Die erste Auflage von 1000 Exemplaren im April 1719 war sofort vergriffen. In Deutschland wurden schon 1720 fünf Auflagen gedruckt, weil „in der deutschen Seele … seit jeher eine ähnliche Schwärmerei für die Einsamkeit vorhanden gewesen ist und immer vorhanden sein wird“, wie damals ein Rezensent schrieb. Sogar in den katholischen Ländern, wo es verboten war, verkaufte sich das Buch blendend. In Spanien stand Robinson wegen seiner penetrant protestantischen Passagen sogar bis 1842 auf dem Index.

Defoe hieß eigentlich Foe, hatte sich aber, bevor er 40 wurde, ein De vor den Namen gesetzt, weil er fand, De Foe klinge irgendwie edler, aristokratischer. Erst nach seinem „Robinson“-Erfolg wurde daraus Defoe. Er verstand es meisterhaft, zeitlose, elementare Themen mit brandaktuellen, politischen Fragen zu verflechten. Geschickt bediente er die imperialen Sehnsüchte seiner Zeitgenossen, die nach einer größeren Rolle Englands in der Welt gierten.

Freibeuterei mit Hilfe der Monarchie

Die aufstrebende Seemacht England befand sich in einem nicht erklärten Wirtschaftskrieg mit der absteigenden Weltmacht Spanien, die den südamerikanischen Kontinent 200 Jahre lang weitgehend ungestört ausgeplündert hatte. Weil man es nicht wagte, die Spanier offen anzugreifen, überließ man das Beutemachen privaten Investoren aus der Londoner City.

Die staatlich anerkannte Freibeuterei funktionierte so: Man besorgte sich beim König einen „Kaperbrief“, in dem die Krone gegen eine Beteiligung von 20 Prozent an der Beute erlaubte, fremde Schiffe zu überfallen. Mit diesem Dokument schickten die Investoren dann von ihnen angeheuerte Kapitäne auf Kaperfahrt. Allein 1703 wurden 150 solcher Freibriefe ausgestellt. Je schwächer Spanien wurde, weil es das riesige Reich nicht mehr zusammenhalten konnte, umso größer wurde die Gier der anderen – Franzosen, Holländer und vor allem Engländer. Verbrämt wurden die Raubzüge schamlos mit christlicher Nächstenliebe: Man empfand es als moralische, von Gott befohlene Pflicht, der arroganten iberischen Weltmacht ihr Diebesgut abzunehmen.

Die Freibeuter Ihrer Majestät waren die Helden ihrer Zeit, sie mehrten nicht nur den Reichtum von Krone und City sondern lieferten auch abenteuerliche Berichte aus den entferntesten Gegenden der Erde. Unter ihnen war William Dampier eine Ausnahmegestalt. Kein anderer hatte die Erde so oft umrundet wie er, nämlich dreimal, und kein anderer betrieb das Piratenhandwerk so systematisch, geradezu wissenschaftlich.

Wo immer er aufkreuzte, ließ er Karten anfertigen, fragte Einheimische aus, untersuchte Meeresströmungen, Wetter, Flora und Fauna und schrieb darüber detaillierte Berichte für seine Geldgeber. Darin schilderte er, wie man Pinguine kocht, Skorpionstiche behandelt und Flamingozungen zubereitet. Im April 1703 meldete die „London Gazette“, dass Kapitän Dampier „anlässlich seines unmittelbar bevorstehenden Aufbruchs zu einer weiteren Seereise nach Westindien“ sogar die Ehre hatte, „die Hand Ihrer Majestät zu küssen“. Dampier war ein unsagbares Raubein, er war bei den Seeleuten verhasst, weil er ein Säufer, tyrannisch und brutal war. Die Investoren aber rissen sich um ihn, weil er ihnen hohe Profite versprach.

Im Juli 1703 stand Daniel Defoe wieder einmal am Pranger, weil er ein satirisches Gedicht über die Regierenden veröffentlicht hatte. An drei verschiedenen Stellen in London wurde er öffentlich in Eisen geschlagen, damit die Leute ihn, wie damals üblich, mit Müll, Steinen und verfaultem Gemüse bewerfen konnten. Um einer langen Gefängnisstrafe zu entgehen, verpflichtete Defoe sich, für die englische Königin Anne in Schottland zu spionieren. Zur selben Zeit begann ein anderer Mann eine Reise, die Defoes Leben verändern und ihn zu seinem berühmtesten Werk inspirieren würde.

Mit zwei kleinen Schiffen, der „Saint George“ und der „Cinque Ports“, lief Kapitän Dampier von Irland aus, grobe Richtung: Pazifik. Man hatte 180 Mann Besatzung angeheuert, dreimal so viele, wie man eigentlich brauchte, denn man richtete sich auf eine besonders lange, verlustreiche Fahrt ein. Das Objekt der Begierde war ein sagenhaft reich beladenes Schiff der Spanier, das jedes Jahr im Juni Gold- und Silbermünzen im Wert von vielen Millionen Real vom spanischen Pazifikhafen Acapulco über den Ozean nach Manila brachte, in die Kolonie Philippinen.

Was von der Beute übrig blieb, nachdem der König zugelangt hatte, sollte so aufgeteilt werden: Zwei Drittel für die Eigner, ein Drittel für Offiziere und Matrosen. Wie damals üblich, bekamen diese keinen Sold, sondern nur einen Anteil an der Beute, „nichts gefangen, nichts verdient“ war die Maxime, wie die englische Journalistin Diana Souhami in ihrem lesenswerten Buch „Selkirk’s Island“ schreibt. Damit wollte man sie anspornen, so wagemutig und brutal wie möglich zu sein.

Es fanden sich immer genug Abenteuerlustige und entlaufene Sträflinge, die schnell reich werden wollten. Schwieriger war es, gute Offiziere zu finden. Dampier schätzte sich glücklich, den 27-jährigen schottischen Steuermann Alexander Selkirk angeheuert zu haben, einen rohen, streitlustigen Gesellen, der gleich zwei Frauen an Land zurückließ und als erfahrener Navigator galt.

Die 11.000 Seemeilen lange Reise war noch beschwerlicher, als man befürchtet hatte. Die Stimmung an Bord war miserabel, denn die Beute, die man auf der Fahrt gen Westen machte, war mager, man schlug und bestahl sich untereinander. Zur Strafe wurde man blutig gepeitscht und gepökelt, das heißt, die Wunden wurden mit Salz und Essig bestreut. Wer das nicht überlebte, wurde über Bord gekippt.

Als die beiden Schiffe endlich im Pazifik aufkreuzten, war das eigentliche Ziel, das Goldschiff, längst weg. Die Seeleute waren krank, viele an Skorbut, Durchfall und Fieber gestorben, Meutereien und der Rum machten alles noch schlimmer. Vor der chilenischen Küste trennte man sich im Streit. Dampier ging mit der „Saint George“ weiter an der Küste auf Jagd, Thomas Stradling, der despotische, erst 21 Jahre alte Kapitän der „Cinque Ports“ beschloss, erst Proviant und Frischwasser zu fassen. Im Oktober 1704 ankerte er vor einer einsamen Insel, von der Dampier ihm berichtet hatte. Sie war im Jahr 1574 von Kapitän Juan Fernández entdeckt worden und lag 650 Kilometer westlich der chilenischen Hafenstadt Valparaiso mitten im Pazifik. „Für die englischen Freibeuter war sie von unschätzbarem strategischen Wert“, sagt der britische Marinehistoriker Andrew Lambert, „weil sie der einzige Ort weit und breit war, an dem sie Frischwasser und Verpflegung bunkern konnten, ohne auf spanisches Militär zu treffen.“

Eine von Menschenhand zerstörte Insel

Sie erhob sich fast tausend Meter hoch schroff aus dem Meer, war bis 1574 nie von Menschen besiedelt worden und besaß eine einzigartige Pflanzen- und Tierwelt. Viele Arten waren endemisch, darunter ein winziger Kolibri und eine Pelzrobbenart, die heute stark dezimiert ist. Die steilen Berge waren mit niedrigem Wald bedeckt, vom ewigen Wind krumm gebogen. An den Hängen nah am Meer wuchsen kostbare Sandelbäume. Im Winter regnete es unaufhörlich,

Es war kühl und stürmisch, im Sommerhalbjahr dagegen mild und sonnig. Die junge Insel, die erst bei einem Vulkanausbruch vor fünf Millionen Jahren aus dem Meer gestiegen war, hatte einem Garten Eden geähnelt – bis der Mensch kam. Dann nahm die Katastrophe umgehend ihren Lauf. Die ersten spanischen Siedler im Jahr 1591 hatten ein paar Ziegen mitgebracht, die sich explosionsartig vermehrten. Innerhalb weniger Jahre war der niedrige, südliche Teil der Insel kahl gefressen.

Besucht man sie heute, mehr als 300 Jahre nach der „Cinque Ports“, so findet man dort noch immer eine Mondlandschaft vor – mitten in einer gemäßigten, regenreichen Zone gelegen. „Das ist ein besonders drastisches Beispiel dafür, wie der Mensch die Umwelt zerstört“, sagt der Kieler Ökologieprofessor Hans-Rudolf Bork, der die Insel seit 14 Jahren untersucht: „Es ist, als würde es in Schleswig-Holstein eine Wüste geben.“ Selbst auf Satellitenfotos kann der Erosionsforscher den kahlen Fleck im Pazifik erkennen. Was Erdbeben, Tsunamis, Stürme und Waldbrände in fünf Millionen Jahren nicht geschafft hatten, erledigte der Mensch im Handumdrehen. Pelzrobben totschlagen war ein beliebter Zeitvertreib, „es war uns gewöhnlich Belustigung für zwei oder drei Stunden“, wie ein englischer Pirat berichtete. Die Langusten waren einst im Überfluss vorhanden und über einen Meter groß. Heute sind sie nicht einmal halb so lang, und es ist nur strengen Fischereigesetzen zu verdanken, dass es überhaupt noch welche gibt.

Die Spanier, die später die Insel besiedelten, holzten für den Schiffbau die Wälder an den Bergen ab. Die kostbaren Sandelbäume wurden zu Essstäbchen für den chinesischen Markt verarbeitet, „kein Samen ist geblieben, seit 1910 ist die Art ausgestorben“, klagt Bork. Dafür wurden massenhaft Eukalyptusbäume gepflanzt, die dem einheimischen, immergrünen Regenwald das Licht und die Mineralien nehmen, weil sie höher wachsen und tiefer wurzeln. Die „verheerendste aller eingeführten Pflanzen“, sagt Professor Bork, ist die Mittelmeerbrombeere. Sie wuchert über die niedrigen Bäume und nimmt ihnen das Licht, so dass sie absterben: „Auch wenn man eine Milliarde Dollar ausgeben würde – die Brombeere kriegt man nicht mehr von der Insel.“

Genauso wenig wie die größte Plage, die ein deutschstämmiger Siedler 1935 einführte. Seine sechs Kaninchen vermehrten sich so schnell, wie man es Karnickeln nachsagt, und fressen nun auf, was die Ziegen übrig gelassen haben. Während man die Ziegen mittlerweile fast alle getötet hat, sind die Kaninchen eine Plage für die Ewigkeit. Eine Zeit lang zahlte der Staat eine Fangprämie von 60 Cent für jeden Schwanz eines erlegten Exemplars, aber so oft, wie die Tiere rammeln, kann der Mensch nicht schießen: „Heute sind es weit über hunderttausend, und niemand hat eine Lösung“, sagt Bork.

Ein Leben in Wildnis und Einsamkeit

Damals, im Jahr 1704, machte sich niemand Sorgen wegen der Ziegen, sie waren willkommenes Frischfleisch. Nachdem die Männer sich erholt hatten, wollte der junge Kapitän mit der „Cinque Ports“ umgehend aufbrechen, um endlich an die Goldtöpfe zu kommen. Sein Steuermann Selkirk war dagegen. Das Schiff werde untergehen, warnte er, man müsse es reparieren, denn der hölzerne Rumpf sei vom Wurm zerfressen. Es kam zum Streit, Selkirk weigerte sich weiterzusegeln. Der Kapitän setzte den Quertreiber im Oktober 1704 aus und fuhr los. Noch vor der chilenischen Küste soff das Schiff ab, und Selkirk saß allein auf der Insel, alles, was er besaß, waren eine Matratze, eine Muskete, eine Pistole, etwas Schießpulver, eine Axt, ein Messer, seine Navigationsinstrumente, ein Kochtopf, zwei Pfund Tabak, etwas Käse und Marmelade, eine Flasche Rum und eine Bibel.

Er war überzeugt, bald wieder wegzukommen, doch es wurden vier Jahre und vier Monate daraus, eine schreckliche Zeit, die mit der Dschungelcamp-Romantik aus dem „Robinson“-Roman wenig zu tun hatte. Nachts fraßen ihn Ratten an, tagsüber war er damit ausgelastet, Essbares zu finden. Er litt an Durchfall, starb fast daran. Es dauerte Monate, bis er seine tiefe Depression überwunden hatte und anfing, Ziegen zu zähmen. Anders als Robinson hatte er keinen Papagei, mit dem er reden, und auch keinen treuen Wilden, dem er Englisch beibringen konnte. In seiner grenzenlosen Einsamkeit sang er Kirchenlieder, um nicht Sprache und Verstand zu verlieren. Als ihn englische Freibeuter am 1. Februar 1709 am Strand erblickten, wild gestikulierend, mit verfilztem Haar und in stinkende Ziegenhäute gekleidet, wollten sie ihn erschießen, weil sie ihn für ein affenähnliches Ungeheuer hielten. Kapitän Woodes Rogers schrieb in sein Tagebuch: „Unsere Pinasse kehrte vom Ufer zurück, beladen mit Langusten und einem Mann in Ziegenfellen, der wilder aussah als die ursprünglichen Eigentümerinnen derselben.“

Zwei Jahre später, am 14. Oktober 1711, lief das Freibeuterschiff in London ein, gierig erwartet von den Investoren. Am Steuer Selkirk, der von seinen Rettern eingespannt worden war und dessen abenteuerliche Geschichte sich nun schnell herumsprach und von allen Zeitungen nacherzählt wurde. Die Artikel waren bunt ausgeschmückt, manchmal frei erfunden und, wie damals üblich, von triefender Moral. Selkirks Schicksal zeige, „wie sehr eine schlichte und maßvolle Lebensweise der Gesundheit des Leibes und der Spannkraft des Geistes förderlich ist, welche beiden wir allzu leicht durch Ausschweifung und Üppigkeit zerstören, insbesondere im Genuss starken Branntweins“.

Drei Jahre lang stritt man sich um die Beute, die mit 147.975 Pfund, zwölf Schilling und vier Pence äußerst mager war. Knapp 30.000 Pfund gingen an den König, vom Rest mussten noch Zöllner, Hafenmeister und Hofbedienstete bestochen werden. Die einfachen Seeleute standen am Ende mit fast leeren Händen da. Ihre Höllenfahrt um die Erde wurde pro Mann mit lächerlichen 42 Pfund, sechs Schillingen entlohnt. Der mittlerweile prominente Alexander Selkirk aber bekam „800 Pfund, vier Goldringe, eine silberne Tabaksdose, einen Stock mit Goldknauf, zwei goldene Kerzenständer und einen Degen mit Silberheft“, wie seine Biografin Souhami schreibt.

Er war zufrieden: „Ich bin nun 800 Pfund wert, aber ich werde nie wieder so glücklich sein wie damals, als ich keinen Furz wert war“, soll er gesagt haben. Tatsächlich: Anders als sein Alter Ego im „Robinson“-Roman wurde Selkirk nie wieder glücklich. Er soff und prügelte sich wie früher, musste vor der Justiz fliehen und heuerte 1720 als Erster Maat auf der HMS „Weymouth“ an. Bei einer Fahrt an die westafrikanische Küste steckte er sich mit einer tropischen Krankheit an. Am 13. Dezember 1721 blutete Selkirk aus Augen und Nase, am Abend warf man ihn tot über Bord. Der Mann, der in seinem literarischen Leben Robinson hieß und unsterblich war, wurde im realen Leben nur 45 Jahre alt. Er starb arm. Um seine letzte Heuer von 35 Pfund stritten sich seine zwei Witwen.

Im Roman geht die Geschichte natürlich mit einem Happy End aus, Robinson heiratet, zeugt drei Kinder, besitzt ein Gut in Brasilien und eine Insel in der Karibik und schaut stolz auf sein „von der Vorsehung so buntscheckig gestaltetes Leben“ zurück, das so „töricht“ begonnen hatte, aber „weit glücklicher ausging“, als er je hätte hoffen können. Der Erfolg des Buches regte schon im 19. Jahrhundert die Suche nach den wahren Orten an, an denen Robinson/Selkirk gehaust haben könnte. Seit 1860 zeigt eine Plakette den Touristen auf der Pazifikinsel einen spektakulären Aussichtspunkt als „Robinsons Aussicht“ an. Bei der Weltausstellung 1893 in Chicago wurde das Skelett einer Ziege ausgestellt, das man in der „Robinsons- Crusoe-Höhle“ gefunden haben wollte. Im Jahr 2005 entdeckten japanische Forscher bei Aguas Buenas die Überreste einer alten Mauer im Gestrüpp und erklärten sie zu Selkirks Hütte.

Das heutige Leben auf der Robinson-Crusoe-Insel

„Alles Humbug“, sagt Bork, der bei drei Expeditionen diese Stätten untersucht hat, „die Höhle gab es zu Selkirks Zeiten noch gar nicht. Sie wurde erst um das Jahr 1760 von den Engländern geöffnet, wahrscheinlich mit Sprengstoff.“ Auch die Behausung bei Aguas Buenas „war nicht der Ort, an dem Selkirk wohnte“, sagt Bork, „die Mauerreste stammen aus den Jahren 1750/51 und waren Teil einer spanischen Befestigung“. Und die schöne Aussicht? „War ganz sicher nicht der Platz, zu dem Selkirk aufstieg, um nach Schiffen zu schauen“ sagt Bork. „Warum sollte er mühsam zwei Stunden den steilen Berg hinaufsteigen, um dann nur in eine Himmelsrichtung schauen zu können, aus der niemals ein englisches Schiff gekommen wäre?“

Die Hoffnungen der chilenischen Regierung, man könne die verschlafene Insel mit etwas Robinson-Tourismus beleben und ihren rund 650 Bewohnern ein kleines Zubrot verschaffen, haben sich nie erfüllt. Das Wetter ist launisch, die Einheimischen sagen gern: „Bei uns kann man alle vier Jahreszeiten an einem Tag erleben.“ In der Sommersaison wagen nur ein paar Hundert Touristen den gefährlichen Flug auf die Insel. Die kurze Landebahn liegt zwischen senkrecht ins Meer abfallenden Felsen, stürmische Aufwinde machen das Landen schwierig: „Man landet steil herabplumpsend, fast wie ein Helikopter. Die Flugzeuge brauchen extrastarke Stoßdämpfer“, sagt Bork. Eine Maschine des chilenischen Militärs stürzte im November 2011 beim Landeanflug ab. Dabei starben 22 Personen, die helfen sollten, die Insel nach einem Tsunami im Vorjahr (16 Tote) wiederaufzubauen.

Wenn nicht gerade Riesenwellen 300 Meter weit ins Land vorgedrungen sind und die einzige Ortschaft San Juan Bautista zerstört haben, wie 2010 geschehen, ist das Leben der Einheimischen beschaulich. Es gibt so gut wie keine Kriminalität, mit schwerwiegenderen Delikten als „Pferd springt über Zaun und frisst Garten der Nachbarin leer“ hat die Polizei selten zu tun. Der Cannabisgenuss ist offiziell verboten, aber die Einheimischen kiffen gern, ihre Hanfstängel bauen sie versteckt im Dickicht an. Zwei Dutzend rostige Autos teilen sich ein paar Meter Holperpiste, die Insel ist zu steil und unzugänglich, als dass sie mit Geländewagen erforscht werden könnte. Man lebt vom Fisch- und Langustenfang oder arbeitet für die chilenische Naturschutzbehörde, die versucht, invasive Pflanzen zu roden und einheimische wieder anzubauen. Es ist eine Sisyphosaufgabe – nichts schmeckt den Karnickeln so gut wie die jungen, gerade gepflanzten Triebe. Die stämmigen, kleinen Ziegen sind kein Problem mehr, die Art ist so selten geworden, dass man sie heute schützen muss. Die wenigen überlebenden Tiere verstecken sich in den unzugänglichen Steilküsten. Auch die Robben haben dazugelernt. Früher blieben sie liegen, wenn ihre Schlächter kamen. Heute sind sie scheu und verschwinden schnell im Meer, wenn ein Zweibeiner naht.

Einer der größten Arbeitgeber auf der Insel ist ein Besessener aus Chicago. Seit 1998 lässt der amerikanische Multimillionär Bernard Keiser die Insel umgraben, weil er überzeugt davon ist, dass in der Bahia Ingles, der „Englischen Bucht“, ein sagenhafter Schatz versteckt ist. Englische Freibeuter sollen dort 1761 mehr als 800 Goldbarren vergraben haben. Angeblicher Wert heute: Zehn Milliarden Dollar. Im Jahr 2005 behauptete eine chilenische Firma, ein Roboter namens „Arturito“ habe den Schatz in 15 Meter Tiefe entdeckt. Die sensationelle Meldung wurde sogar in Fachblättern wie dem „New Scientist“ abgedruckt, sie war so falsch wie der Fußabdruck von Freitag, den man ebenfalls einmal gefunden haben will.

Keiser dagegen betreibt die Suche wissenschaftlich, er beschäftigt Historiker und Archäologen und beruft sich auf alte Dokumente, die er in englischen und spanischen Archiven hat aufspüren lassen. Eines der wichtigsten Dokumente freilich, in dem ein Kapitän Webb in krakeligen Großbuchstaben berichtet, wie er den Schatz lagerte, hält Marinehistoriker Lambert für eine Fälschung. Andere, echte Dokumente nähren seit 18 Jahren die Hoffnung, dass es den Schatz dennoch geben könnte. Danach soll das Versteck auf zwei Landkarten verzeichnet sein, die in zwei bleiernen Schatullen luft- und wasserdicht eingeschweißt wurden. Tatsächlich hat Keiser einen solchen flachen Bleibehälter gefunden, der war allerdings von einem großen Stein zerdrückt und undicht geworden, der Lageplan vom Wasser zerstört.

Gefunden hat er auch Pfirsichbüchsen, Manschettenknöpfe des englischen Militärs, Scherben von chinesischem Porzellan, alles Mögliche – aber kein Gramm Gold. Aufgeben will der Amerikaner trotzdem nicht, im Sommer auf der Südhalbkugel lässt er täglich buddeln, 80 Dollar bekommen die zehn einheimischen Schatzgräber am Tag, ein gutes Honorar auf der Insel. Und wenn er mal müde wird vom Nichtsfinden, macht Keiser sich einen Kaffee und legt sich zu einem Nickerchen hin. In der berühmten Höhle, in der weder Robinson noch Selkirk je gehaust haben. So hütet die kleine Insel am Ende der Welt ihre Geheimnisse. Es bräuchte bald wieder einen genialen Lügenbold wie Daniel Defoe, der uns erzählt, wie es wirklich war.

(NG, Heft 5 / 2016, Seite(n) 42 bis 67)

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