Eine Siesta auf ewig

Falcone e borsellino - so heißt der Flughafen von Palermo. Der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone wurde 1992 von der Mafia ermordet und gilt noch heute als Symbolfigur des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität.

Von A. A. Gill
bilder von Vincent J Musi
Foto von Vincent J Musi

Falcone e borsellino - so heißt der Flughafen von Palermo. Der Untersuchungsrichter Giovanni Falcone wurde 1992 von der Mafia ermordet und gilt noch heute als Symbolfigur des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität. Wie auch der Richter Paolo Borsellino, der nur zwei Monate nach seinem Freund Falcone ebenfalls durch ein Sprengstoffattentat getötet wurde. Aber die Leute hier sprechen nicht gern mit Fremden über die Mafia. Es ist eine leidige Familienangelegenheit, die andere nichts angeht. Eine private Tragödie eben.

Sizilien hütet seine Geheimnisse. Man spürt es zwischen den düsteren Barockfassaden von Palermo. Inmitten der Hauptstadt der Insel sind die 1943 bei der Landung der Alliierten angerichteten Bombenschäden noch immer nicht vollständig beseitigt. In schäbigen Wohnblocks der Peripherie hausen Flüchtlinge aus Nordafrika. Misstrauen prägt die Grundstimmung an diesem schönen, so vielen Zwängen und Widrigkeiten unterworfenen Ort.

Diese Leichen aus dem 19. Jahrhundert in einer Gruft in Palermo lassen die Besucher erschauern. Schon 1599 kamen Mönche auf die Idee, Verstorbene zu mumifizieren.
Foto von Vincent J Musi

Diese Leichen aus dem 19. Jahrhundert in einer Gruft in Palermo lassen die Besucher erschauern. Schon 1599 kamen Mönche auf die Idee, Verstorbene zu mumifizieren.

Sizilien ist seit je einer der traurigsten Flecken Europas. Bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts gehörten die Bauern zu den Ärmsten des Kontinents. Sie rangen um ihre magere Existenz, litten unter ständigen Familienfehden und Rachefeldzügen, unter Ausbeutung, Ehrenmorden und mörderischen Regeln. Seit alters wird hier Blut durch Blut vergolten - und abermals durch Blut. Doch über allem liegt der Duft von Zitrusblüten und Weihrauch. Und der Tod hat auf Sizilien auch ein skurriles Gesicht. Das Kapuzinerkloster in Palermo ist ein unauffälliges, schlichtes Gebäude auf einem ruhigen Platz neben einem Friedhof. Einige Straßenhändler ducken sich draußen in eine Ecke neben dem Portal und bieten Postkarten und Stadtführer an. Drinnen sitzt ein Mönch hinter einem Tisch und verkauft Eintrittskarten, noch mehr Postkarten und billigen Votivschmuck. An diesem Tag ist nicht viel los, er hat Zeit zum Zeitunglesen.

Ich steige eine Treppe hinab. Sie führt an einer Holzskulptur der Schmerzensmutter vorbei zu einer Tür. Dahinter liegen die Katakomben: die Säle der Toten. Die Gewölbe sind überraschend weitläufig, mit hohen Decken und langen Gängen, die rechtwinklig zueinander verlaufen. Es ist kühl und riecht dumpf und säuerlich nach Staub und zerfallendem Stoff. Die Sonne scheint fahl durch hohe Fenster. Flimmernde Neonröhren verbreiten ein kühles Licht. Kein Lebender ist hier unten - nur rund 2000 Leichen. Sie hängen an den Wänden, sitzen auf Bänken oder ruhen in alten Kisten. Alle tragen Sonntagsstaat oder Berufskleidung.

In Europa ist es eine alte Praxis, Leichen durch Trocknung zu konservieren, auch in Deutschland. In Italien war die Mumifizierung Verstorbener lange verbreitet, besonders aber auf Sizilien. Dort pflegen die Lebenden eine sehr starke Beziehung zu den Toten. Niemand weiß genau, wie viele Mumien es einst gab und wie viele aus den Katakomben geholt und von Priestern auf Friedhöfen beigesetzt wurden, weil ihnen diese Form der Leichenverehrung Unbehagen bereitete. In der Tat kommen unweigerlich Fragen auf: Warum macht man so etwas? Weshalb werden zerfallende Tote auf diese Weise ausgestellt? Ich schreite durch die Reihen der Mumien und bin verwirrt. Wie soll ich meine Gefühle beschreiben? Diese Leichen umgibt eine Aura des Geheimnisvollen. Man sieht ihnen ihre Haltung an, ihren Glauben, ihre Sünden. Das also ist der Tod. Schlagartig wird mir der Unterschied zwischen den Lebenden und den Toten klar: Verstorbene kannst du mit einer Intensität und Neugier aus so kurzer Distanz anstarren, wie es kein Lebender jemals ertragen würde. Michael Jacksons "Thriller" wäre die passende Hintergrundmusik für diesen Ort, dazu sein Gruselvideo. Diese Leichen sehen aus wie prothesenschlackernde Geisterbahn-Zombies.

Ihre Kiefer hängen in stummem Klageschrei herab. Schadhafte Gebisse grinsen, Augenhöhlen starren leer, Fetzen verdörrter Haut stehen von eingefallenen Wangen und arthritischen Knöcheln ab.
Die Gänge sind unterschiedlich belegt. Es gibt einen für die Priester und Mönche, einen anderen für Berufsstände wie Ärzte und Juristen, Lehrer und Soldaten. Ich sehe auch Polizisten in den bühnenreifen Paradeuniformen der Carabinieri wie aus einer Vaudeville-Show. Und einen Gang der Frauen, in dem der Führer darauf hinweist, dass wir die Mode vergangener Zeit bewundern können. Lumpen bedecken die Skelette, schmutzverkrustet und zu einem trüben Grau verblichen. Zu bewundern findet sich da kaum etwas. Eine Kapelle an der einen Seite ist denen gewidmet, die als Jungfrauen gestorben sind - und es nun bis in alle Ewigkeit bleiben müssen. Als sie hier beigesetzt wurden, waren sie gewiss ein Symbol der Reinheit inmitten des Zerfalls.

Eine weitere Kapelle ist Kindern vorbehalten. Die Kleinen sind wie für eine Party gekleidet und erscheinen mir wie lebende Leichen. Ein Kind sitzt auf einem Stühlchen und hält ein kleines Skelett auf seinem Schoß. Waren die beiden Geschwister? Es ist ein unerträglich bedrückendes Bild - und gleichzeitig grotesk.

 

(NG, Heft 2 / 2009)

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