Flüchtlinge: Die neuen Europäer

Seit 2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Die Neuankömmlinge stellen das Land und die EU vor eine Zerreißprobe.

Von Robert Kunzig
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Zusammenfassung: Deutschland hat die meisten Flüchtlinge aufgenommen. "Wir schaffen das!", sagte Merkel auf der Sommerkonferenz 2015 und auch die Mehrheit der Deutschen glaubt daran und aktzeptiert die Einwanderung. Im Alltag aber ist es für die Neuankömmlinge manchmal noch schwierig

Seit 2015 sind mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak . Die Neuankömmlinge stellen das Land und die EU vor eine Zerreißprobe. Wir haben unseren amerikanischen Kollegen Robert Kunzig gebeten, eine Antwort auf die Frage zu finden: Schaffen wir das?

Deutschland hat mit Abstand die meisten Flüchtlinge aufgenommen– wie verändert sich dadurch die Gesellschaft?

In den 1970er-Jahren war ich fast ein Deutscher. Mein Vater diente damals als amerikanischer Diplomat in Brüssel, und ich besuchte dort die Deutsche Schule. Zu Hause wurde ich von hochpatriotischen Amerikanern erzogen, und natürlich sprachen wir Englisch – in der Schule passte ich mich meinen deutschen Freunden an. Ich muss oft an diese Zeit denken, wenn ich die verstörende öffentliche Debatte beobachte, die Europäer und Deutsche seit mehr als einem Jahr führen: Wie wichtig ist die kulturelle Identität eines Landes? Passen sich die vielen Flüchtlinge, die in fremden, fernen Ländern geboren wurden, an die Gesellschaft an? Muss man Angst haben? Darf man hoffen?

Ende des Sommers 2015 wurde mir klar, dass ich die Wende in der deutschen Geschichte nicht nur von Weitem beobachten wollte. Damals kamen immer mehr Flüchtlinge aus dem Nahen Osten über die Balkanroute nach Europa – Hunderttausende Menschen innerhalb weniger Wochen. Ende August war die Situation hochexplosiv. In Österreich fand man 71 tote Menschen in einem Lastwagen, sie waren von Schleusern ihrem Schicksal überlassen worden und erstickt. In Heidenau nahe Dresden attackierten Neonazis derweil die Polizei vor einer Flüchtlingsunterkunft. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Heidenau fuhr, um ihre Solidarität mit den Flüchtlingen zu zeigen, beschimpften wütende Demonstranten sie als „Hure“, „blöde Schlampe“ und „Volksverräterin“. Am 31. August gab Merkel dann ihre jährliche Sommerpressekonferenz in Berlin. Zur selben Zeit stürmten syrische Flüchtlinge in Budapest die Züge nach Deutschland. Wie üblich war Merkel nicht aus der Fassung zu bringen. Ihre Regierung, sagte Merkel, rechne damit, dass im Laufe des Jahres 800000 Menschen ins Land kommen würden (es sollten mehr als eine Million werden). „Es gilt das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl“, sagte die Kanzlerin und verwies auf Artikel 1 der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und tatsächlich gab es wesentlich mehr Deutsche, die den Flüchtlingen halfen, als solche, die Hassparolen vor Flüchtlingsunterkünften brüllten und Steine warfen. „Deutschland ist ein starkes Land“, sagte Merkel. „Wir haben schon so viel geschafft. Wir schaffen das!“ Diese Worte – „Wir schaffen das!“ – definieren Merkels Regierungszeit und werden eines Tages womöglich auf ihrem Grabstein stehen. Doch nicht alle Deutschen sind sich so sicher und fragen zurück: Schaffen wir das wirklich? Und: Haben wir überhaupt eine Wahl?

Deutschland ist nur eine Bühne, auf der sich das globale, herzzerreißende Drama der Flüchtlingskrise abspielt. Im Jahr 2015 gab es den Vereinten Nationen zufolge weltweit 244 Millionen Einwanderer – Menschen, die in einem Land leben, in dem sie nicht geboren wurden. 21 Millionen Menschen mussten ihre Heimat notgedrungen verlassen – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Viele Wissenschaftler rechnen damit, dass die Folgen des Klimawandels (steigende Meeresspiegel und ein vermehrtes Auftreten von katastrophalen Dürren und Stürmen) diese Zahl weiter anheben werden.

In den vergangenen 70 Jahren hat sich gut ein Drittel aller Auswanderer in Europa niedergelassen. Nun ist der Kontinent das Ziel von Millionen Menschen, die den Armuts- und Kriegsgebieten in Afrika und im Mittleren Osten entkommen wollen, den Warlords und Failed States. In den großen Ländern Europas ist der Anteil von Menschen ausländischer Herkunft bereits heute fast so hoch wie in den USA. Doch wie viele Europäer haben sich im Kopf und im Herzen bereits auf diese neue Realität eingestellt? Selbst in den USA , das John F. Kennedy einst als „Nation von Einwanderern“ bezeichnet hatte, ist Immigration ein Thema, das die Gesellschaft spaltet – und schon immer gespalten hat. In den 1750er-Jahren sorgte sich Benjamin Franklin zum Beispiel, dass zu viele Deutsche nach Pennsylvania kämen. Er fand, sie hätten eine so „dunkle Gesichtsfarbe“. Im Jahr 2016 hetzt Donald Trump gegen Einwanderer, will Visa nur noch nach einem bestandenen Gesinnungstest verteilen und eine Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen.

Im Deutschen gibt es ein zentrales Wort für die aktuelle Lage: Überfremdungsangst. Menschen, die von diesem Gefühl geplagt werden, fürchten sich davor, dass so viele Fremde in ihrem Land leben, dass die alte Heimat nicht mehr wiederzuerkennen ist. Sie fürchten auch neue Konkurrenz um Arbeitsplätze. Diese Angst befeuert die fremdenfeindlichen Demonstrationen, die Hassparolen der neuen Populisten und die Brandanschläge auf zumeist leer stehende Flüchtlingsunterkünfte.

Und doch sind da auch die vielen anständigen Menschen. Vor einem Dreivierteljahrhundert schickten die Deutschen Züge voller Juden in die Vernichtungslager; im Herbst 2015 begrüßten sie auf dem Münchner Hauptbahnhof Züge voller Flüchtlinge und schenkten ihnen Essen, Wasser, Stofftiere, ein Lächeln. Was sollte man davon halten? Es sei in Ordnung, sich über diese Wandlung zu freuen und „berauscht“ zu sein, meinte eine Journalistin im „ARD Presseclub“. Andere Leute warnten: Die Katerstimmung werde folgen.

Ist 2016 das Jahr des Katers? Die enorme Anzahl der Flüchtlinge, gepaart mit dem Umstand, dass Deutschland die anderen europäischen Staaten nur bedingt davon überzeugen konnte, der Politik der offenen Arme zu folgen, führte zu einer Krise der Europäischen Union.

Als die Briten am 23. Juni dafür stimmten, die EU zu verlassen, ging es zwar nicht unmittelbar um das Thema Flüchtlinge – Großbritannien hatte kaum welche aufgenommen –, Umfragen ergaben jedoch, dass die Begrenzung der Einwanderung das Hauptmotiv vieler „Brexit“- Wähler war. Durch die Geschehnisse in Großbritannien und den zunehmenden Erfolg der Populisten, die in anderen Ländern gegen die EU und die Flüchtlinge hetzen, steht in Deutschland nun noch mehr auf dem Spiel. Gelingt es den Deutschen endgültig, die Last ihrer Vergangenheit wirklich abzustreifen und eine „Willkommenskultur“ zu entwickeln?

In der Deutschen Schule in Brüssel hatten wir Sozialkunde bei Volker Damm, einem klugen, lässigen Mann, bei dem ich zum ersten Mal verstand, was der Holocaust bedeutete. Er las uns aus den Erfahrungsberichten ehemaliger KZ-Häftlinge vor, die Unterrichtsstunden werde ich nie vergessen. Er sprach mit uns auch darüber, was dieses Jahrtausendverbrechen für die folgenden Generationen bedeutet.

Ich musste oft an meinen alten Lehrer denken, als ich die Debatte über die Flüchtlinge in Deutschland verfolgte – und war gespannt, wie er die Situation beurteilte. Obwohl wir 40 Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatten, war es nicht schwer, ihn ausfindig zu machen; eine hessische Lokalzeitung hatte über seine ehrenamtliche Arbeit für Verbrechensopfer berichtet. Seit der Pensionierung hilft Damm auch minderjährigen Flüchtlingen, von denen Zehntausende ohne Eltern in Deutschland leben. Damm lud mich ein, nach Rotenburg an der Fulda zu kommen, wo er den größten Teil seines Lehrerlebens verbracht hat.

Und so steigen Volker Damm und ich an einem regnerischen Morgen die ausgetretenen Holzstufen des Rathauses hoch, das aus dem 16. Jahrhundert stammt. Wir sind dort mit einem anderen ehemaligen Schüler von ihm verabredet, Bürgermeister Christian Grunwald. Als wir sein Büro betreten, ertönen draußen die Glocken der nahen Kirche – neun Uhr, wir sind pünktlich. Zur selben Zeit beginnen in der Alheimer Kaserne, einem ehemaligen Bundeswehrstützpunkt im Südosten der Stadt, 719 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Ländern einen neuen Tag.

Grunwald, 39, redet schnell und lächelt viel. Seit seiner Wahl vor fünf Jahren versucht er, die leeren Geschäfte seiner Stadt wieder mit Leben zu füllen. Die Flüchtlinge, räumt er ein, waren nicht Teil des Plans. Als das Land Hessen die Verwaltung im Juli 2015 darüber informierte, dass am 3. August mehrere Hundert Menschen in Rotenburg eintreffen würden, sei diese Nachricht „wie eine Bombe eingeschlagen“.

Eine Stadtversammlung wurde einberufen, zu der 700 der rund 13000 Einwohner kamen. Dort teilten ihnen hessische Regierungsvertreter mit, dass in die Alheimer Kaserne, die von der Bundeswehr für 40 Millionen Euro erst renoviert und dann doch geschlossen worden war, eine Erstaufnahmeeinrichtung komme. „Es war eine ganz diffuse Stimmung“, erzählt Grunwald. Viele Fragen geisterten durch den Raum: Wer bezahlt das? Dürfen die Flüchtlinge den Stützpunkt verlassen? Was ist mit ansteckenden Krankheiten? Grunwald: „Die Ängste waren spürbar. Aber es hat sich keiner getraut aufzustehen und zu sagen: Ich will das nicht, ich habe Angst!“ Niemand, fügt er hinzu, wollte „in die Nazi-Ecke gestellt werden“.

Thomas Baader, der im Amt für Versorgung und Soziales arbeitet, bekam Ende Juli einen Anruf aus dem hessischen Ministerium für Soziales und Integration und wurde zum Leiter der neuen Flüchtlingsunterkunft bestimmt. Am Mittwoch, dem 29. Juli, kam er an seinem neuen Arbeitsplatz an, die ersten Flüchtlinge wurden fünf Tage später erwartet. Baader rief Grunwald an, der zwei Arbeiter schickte und dann auch selbst kam. Sie reinigten die Cafeteria und stellten Tische und Stühle auf. „Zwei Tage später standen 600 Menschen draußen vor der Tür“, erzählt Baader.

Ein knappes Jahr später führt mich Baader nun durch die dreistöckigen Baracken. In den Zimmern wohnt heute jeweils eine Familie. Die Neuankömmlinge werden eigentlich einer bestimmten Einrichtung zugewiesen – Hessen muss 2016 nach einem Verteilungsschlüssel zum Beispiel 7,35890 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen. Immer wieder kommt es auch vor, dass Flüchtlinge auf eigene Initiative nach Rotenburg reisen. Einen Tag vor meinem Besuch war etwa eine sechsköpfige irakische Familie angekommen. „Es hat sich eben herumgesprochen, wo es schön ist“, sagt Baader.

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Neben Unterkunft, Verpflegung, Kleiderspenden und anderen Sachleistungen erhalten die Flüchtlinge in Rotenburg ein monatliches „Taschengeld“: bis zu 112 Euro für jeden Erwachsenen, bis zu 63 Euro für jedes Kind. „Dieses Geld geben sie hier in den Läden aus“, sagt Frank Ziegenbein, Inhaber des Hotels „Landhaus Silbertanne“, „sonst könnte man die Lichter in der Stadt ausschalten.“ Das ist natürlich eine Übertreibung, doch dass die Flüchtlinge einen wirtschaftlichen Gewinn für die Stadt darstellen, bestätigt auch Grunwald.

Trotzdem protestieren einige Rotenburger, vor allem auf Facebook. Grunwald kennt die Beschwerden seiner Mitbürger auswendig: Die Flüchtlinge würden Abfall im Park hinterlassen oder mit Rädern auf dem Bürgersteig fahren. Neben dem Ordnungssinn, so Grunwald, gehe es vor allem um Fragen der Hygiene.

Viele Flüchtlinge sind an die Abort Löcher im Boden gewöhnt, die in Asien üblich sind, und setzen sich ungern auf den Toilettensitz. Grunwald steigt auf seinen Bürostuhl und geht in die Hocke, um mir das Problem zu veranschaulichen. Später sollte ich in einem Hamburger Flüchtlingszentrum einige Installateure treffen, die darüber klagen, dass die Klobrillen ständig kaputtgehen. Und in Rotenburg, wo ich Flüchtlinge beobachte, die vor lauter Langeweile freiwillig den Bürgersteig fegen, werden alle Badezimmer von deutschen Reinigungsfirmen geputzt – um sicherzustellen, dass es richtig gemacht wird. „Was das Verständnis für die Gefühle und Gedankenlage der anderen angeht, da stehen wir noch ganz am Anfang“, sagt Grunwald. „Wenn wir das besser verstehen, dann schaffen wir etwas Historisches, davon bin ich überzeugt.“

Im Herbst 2015 war keine Zeit für Abwarten und Verzögerungstaktiken. Binnen kürzester Zeit mussten Hunderttausende Menschen untergebracht werden. In Berlin wurden viele Flüchtlinge in Sporthallen von Schulen oder in einem Hangar auf dem Tempelhofer Feld untergebracht, nur durch provisorische Plastikwände voneinander getrennt. „Niemand war darauf vorbereitet, niemand in Deutschland“, erklärt mir später der Hamburger Flüchtlingskoordinator Anselm Sprandel. Die Stadt musste im vergangenen Jahr 35000 Flüchtlinge unterbringen – halb so viele, wie die Vereinigten Staaten insgesamt im Jahr aufnehmen. Zieht man in Betracht, dass all das Hals über Kopf geschehen musste, funktionierte es ganz gut. „Wir hatten nie richtige Obdachlosigkeit, wo Leute massenweise draußen hätten schlafen müssen. Aber es war knapp“, sagt Sprandel. Seine Mitarbeiter verteilten Menschen auf leer stehende Baumärkte, stapelbare Schiffscontainer und beheizte Zelte. Wer an das Klischee der überorganisierten und arbeitswütigen Deutschen glaubt, ist natürlich nicht überrascht, dass der öffentliche Dienst die Krise so gut gemeistert hat. Überraschender finde ich, wie viele Deutsche sich engagieren und den Flüchtlingen helfen.

Im niedersächsischen Duderstadt treffe ich den Grafiker Olaf Knauft, der vergangenes Jahr zwei Teenager aus Eritrea bei sich aufgenommen hat. Er hatte das nicht geplant, erzählt er, sei aber eines Tages einer Frau vom Jugendamt über den Weg gelaufen, die ihm von dem großen Bedarf an Sponsoren und Unterkünften für die elternlosen, minderjährigen Flüchtlinge erzählt habe. Knauft ist 51 Jahre alt und seine zwei leiblichen Kinder sind bereits aus dem Haus. Er war zunächst unsicher, ob er wirklich mit einem Fremden unter einem Dach wohnen will. Und er fragte sich, wie es wirkt, wenn ein allein lebender Mann einen Jungen bei sich aufnimmt.

Trotzdem nahm er den 18-jährigen Desbele, einen koptischen Christen aus Eritrea, bei sich auf. Die beiden verstanden sich gut – so gut, dass Desbele seinem Gastgeber drei Wochen nach seiner Ankunft anvertraute, dass sein 16-jährigen Bruder Yoisef in Libyen festsitze. Der Preis für eine Reise nach Deutschland lag bei 2500 Euro. Knauft gab Desbele das Geld. Im Juli gelang es den beiden, Yoisef an einer Autobahn nahe München, wo die Schleuser ihn ausgesetzt hatten, abzuholen.

Nun hat Knauft wieder zwei Teenager im Haus. Und obwohl er sich manchmal mit ihnen darüber auseinandersetzen muss, wann das Licht ausgemacht wird, wer den Abwasch erledigt und wer der Boss ist, bereut er seine Entscheidung nicht. Er nennt Desbele und Yoisef „meine Kinder“. Ein paar Tage vor unserem Treffen hatte Knauft erfahren, dass der Zwillingsbruder von Yoisef in Eritrea im Gefängnis sitzt, und noch einmal 1500 Euro bezahlt, damit dieser das Gefängnis verlassen und in den Sudan ausreisen konnte. Dort wartet er nun auf eine Gelegenheit, die Sahara zu durchqueren und nach Deutschland zu kommen. Das sei definitiv der letzte Bruder, den er aufnehme, sagt Knauft. Mehr Brüder gebe es nicht in der Familie.

Die Jungen gehen auf eine Berufsschule, in eine spezielle Klasse für Einwanderer. Wenn der Unterricht zu Ende ist, besuchen sie Karin Schulte, eine pensionierte Lehrerin, die Desbele und Yoisef dreimal pro Woche ehrenamtlich Deutsch-Nachhilfe gibt. Sie bietet ihnen Kaffee

und Kekse an – denn auch der Nachmittagskaffee gehört irgendwie zu diesem Land dazu. Nach langem Zögern hat sie den Jungen eines Tages gesagt, dass es in Deutschland nicht Sitte sei, den Kaffee laut zu schlürfen. Yoisef hatte daraufhin zugegeben, dass seine Großmutter in Eritrea dies sehr ähnlich sehe.

In Rotenburg organisiert eine Gruppe pensionierter Lehrer der Jakob-Grimm-Schule, an der Damm jahrzehntelang unterrichtet hat, Deutschkurse in der Erstaufnahmeeinrichtung. An einem Vormittag verbringe ich dort ein paar Stunden mit fünf afghanischen Jungen und Männern zwischen zwölf und 35, die das Alphabet anhand von Piktogrammen lernen sollen: B wie Banane, E wie Elefant und so weiter.

Neben mir sitzt Sariel, ein kleiner Mann, 35 Jahre alt. Ich beobachte, wie er die Buchstaben Strich für Strich kopiert, als wären es Zeichnungen. Ich helfe ihm, „Mama“ und „Papa“ zu buchstabieren, stelle mir vor, ich müsste die komplexe Schrift seiner Sprache Dari lernen – und kann ermessen, wie groß seine Erschöpfung sein muss. Nicht nur wegen des langen Wegs, den er von Afghanistan schon zurückgelegt hat, sondern weil die längste Strecke noch vor ihm liegt.

An einem anderen Tag treffe ich mich mit einem 43-jährigen Syrer, der schon seit zwei Jahren in Deutschland lebt und einen sechsmonatigen Sprachkurs absolviert hat. Als wir bei ihm im Wohnzimmer sitzen, müssen wir uns mithilfe eines arabischen Übersetzers verständigen. In seinem Alter, gibt er zu, sei er leider kein besonders gelehriger Schüler mehr. Ahmad – wie viele Flüchtlinge will er seinen Nachnamen nicht preisgeben, um die Verwandten zu Hause nicht in Schwierigkeiten zu bringen – hat in Damaskus als Elektriker gearbeitet. Er sei zutiefst dankbar, dass Deutschland ihm Asyl, Sozialhilfe und eine Wohnung gewährt habe, sagt er, aber dass er auch nach zwei Jahren noch keine Arbeit gefunden habe, sei unerträglich. „Ich gehe in den Supermarkt, ich bringe meinen Sohn zur Schule, ansonsten bleibe ich daheim“, erzählt er. „Weil ich mich schämen würde, wenn mich jemand fragt, was ich mache. Ich fege häufig vor unserer Tür, nur um etwas zu tun zu haben.“

Ahmads Söhne, 16, 14 und acht Jahre alt, hören uns schweigend zu. Sie gehen seit anderthalb Jahren auf deutsche Schulen, die älteren beiden auf die Jakob-Grimm-Schule. Ihr Deutsch ist gut. Der Älteste trägt ein enges weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Paris“ auf Französisch und Arabisch – aus Solidarität mit den Opfern der Terroranschläge vom November 2015, wie er sagt. Er will Friseur werden und macht gerade ein Praktikum in einem Salon. Der 14-Jährige strebt einen höheren Schulabschluss an. Sein Lehrer, erzählt er, habe gesagt, er könne besser schreiben als viele seiner deutschen Mitschüler.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland 50 Millionen Einwanderer aufgenommen. Einer von acht Menschen, die heute hier leben, wurde außerhalb der Landesgrenzen geboren. Doch als Angela Merkel am 1. Juni 2015 sagte, Deutschland sei ein „Einwanderungsland“, bewertete die Frankfurter Allgemeine Zeitung diese Rede als „historisch“. Jahrzehntelang hatte Merkels Partei, die CDU, vehement gegen diese Einordnung gekämpft. „Wir waren ein Einwanderungsland, ohne es wahrhaben zu wollen“, sagt Martin Lauterbach, Leiter des Referats Grundsatzfragen der Integration im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF).

Die ersten Einwanderer waren etwa zwölf Millionen deutsche Volkszugehörige, die gegen Ende des Krieges aus Osteuropa flüchten mussten. Die Vertriebenen kamen in einem ausgebombten notleidenden Land an – und häufig waren sie nicht willkommen. Erika Steinbach, CDU-Bundestagsabgeordnete und viele Jahre Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, erzählt mir bei einem Gespräch, wie sie mit ihrer Mutter und ihrer Schwester, die noch ein Baby war, aus dem heutigen Polen flüchtete und auf einem Bauernhof in Schleswig-Holstein ankam. „Als meine Mutter um Milch für meine Schwester bat, sagte der Bauer: ‚Ihr seid alle schlimmer als Kakerlaken‘“, berichtet Steinbach. „Viel Herzlichkeit gab es nicht.“

Eine ähnliche Erfahrung machten die türkischen, italienischen und griechischen Einwanderer, die während des Wirtschaftswunders in den 1950er- und 1960er-Jahren als Gastarbeiter kamen. Die Deutschen wie auch die Neuankömmlinge dachten damals, dass dies nur ein temporärer Aufenthalt sei. Aber viele Firmen wollten die Arbeitskräfte, die sie mühsam ausgebildet hatten, nicht wieder verlieren. Auch der Vater von Fatih Evren, des Sekretärs der türkisch-islamischen Begegnungsstätte und Moschee in der hessischen Kleinstadt Bebra, holte seine Frau und Kinder nach. Fatih Evren wurde in Deutschland geboren. „Nach einiger Zeit ließ mein Vater sich hier nieder“, sagt er. „Es machte Spaß, gutes Geld zu verdienen.“ Die Moschee, in der er heute ehrenamtlich arbeitet, hatte sein Vater 1983 mit ins Leben gerufen.

Das Gastarbeiterprogramm wurde 1973 eingestellt. Heute leben fast drei Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland. Nur die Hälfte von ihnen besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Manche sind berühmt geworden – wie Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen. Was mich in Gesprächen mit türkischen Bürgern aber stets beeindruckt, ist die zwiespältige Haltung gegenüber Deutschland. „Jahrzehntelang Gast in einem Land zu sein – das ist Wahnsinn“, meint Ayşe Köse Kücük, eine Sozialarbeiterin in Kreuzberg. Sie lebt seit 36 Jahren in Berlin und fühlt sich noch immer nicht akzeptiert. „Meine Kinder, denen ich nie gesagt habe ‚Ihr seid Türken‘, fingen nach der vierten Klasse an zu sagen: ‚Wir sind Türken‘“, erzählt sie. „Weil sie ausgegrenzt wurden. Und das tut mir weh.“ Fatih Evren dagegen berichtet, in der Kleinstadt Bebra kenne jeder jeden und Türken veranstalteten auf dem Marktplatz jedes Jahr ein Kulturfest; die Integration sei gelungen. Doch obwohl er in Deutschland geboren und aufgewachsen ist und viele deutsche Freunde hat, möchte Fatih Evren in der Türkei begraben werden.

Deutschland hat aus der Erfahrung mit den Türken und anderen Einwanderern gelernt und das Staatsbürgerschaftsrecht liberalisiert. Bis zum Jahr 2000 musste man, um deutscher Staatsbürger zu sein, zumindest einen deutschen Elternteil haben. Seitdem kann jeder Mensch die Staatsbürgerschaft erlangen, der acht Jahre lang legal im Land gelebt oder einen Elternteil hat, auf den dies zutrifft. Um zu garantieren, dass jeder Mensch, der aller Voraussicht nach Asyl erhält, die Sprache und die Gepflogenheit des Landes lernt, verabschiedete die Regierung 2005 ein Gesetz, dass sogenannte Integrationskurse zur Pflicht machte. Der Kurs umfasst mindestens 600 Stunden Sprachunterricht und 60 Unterrichtstunden über das Leben in Deutschland. Das BAMF schätzt, dass im Jahr 2016 etwa 546000 Menschen einen solchen Kurs machen werden.

Das politische Establishment Deutschlands ist sich einig, dass das Land dringend neue Bürger braucht. Jedes Jahr übersteigt die Zahl der Todesfälle in Deutschland die Zahl der Geburten um etwa 200000 – Tendenz steigend. Ohne Einwanderung würde die Bevölkerung schrumpfen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung schätzt, dass Deutschland bis 2050 pro Jahr eine halbe Million Einwanderer braucht, um den erwerbsfähigen Anteil an der Gesamtbevölkerung stabil zu halten – und die wachsende Zahl der Rentner zu versorgen. Viele Flüchtlinge besitzen jedoch weder Fachkenntnisse, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt nachgefragt werden, noch die nötige Schulbildung für eine Lehrstelle.

In einer Berufsschule in Bad Hersfeld nahe Rotenburg besuche ich Einwanderer, die in einem zweijährigen Kurs so gut Deutsch lernen sollen, dass sie eine Ausbildung antreten können. Dort treffe ich Mustafa, einen 17-jährigen Afghanen, der mir erzählt, wie glücklich er sei, in Deutschland zu leben. In seinem Dorf, wo er Schafe und Esel hütete, habe man ihn nur den Koran gelehrt.

Die Flüchtlinge, die jung genug sind, um sich schnell anzupassen, wie Mustafa oder Ahmads Kinder, werden sich für Deutschland wahrscheinlich als wirtschaftlicher Gewinn erweisen. Aber das gilt wahrscheinlich nicht für alle Neubürger. Die Bundesagentur für Arbeit schätzt, dass die Hälfte von ihnen nach fünf Jahren noch ohne Arbeit sein wird, ein Viertel sogar nach zwölf Jahren.

Wirtschaftliche Argumente spielen keine zentrale Rolle in der Flüchtlingsdebatte. Viele Menschen sind der Meinung, dass das Land eine humanitäre Verpflichtung gegenüber notleidenden Menschen habe. Es gibt aber auch viele Leute, die die Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten gern beschränken würden. Noch sind es vergleichsweise weniger, die diese Meinung offen vertreten. Und noch viel weniger beleidigen die Kanzlerin und werfen Molotowcocktails auf Asylbewerberheime.

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Eine grosse Mehrheit der Deutschen, sagt die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan vom Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung, akzeptiert die Einwanderung und den Islam auf einer intellektuellen Ebene. Schwerer tue man sich mit der emotionalen Akzeptanz. 2014, lange vor den Attentaten von Paris und Brüssel und vor dem gewaltigen Anstieg der Flüchtlingszahlen, führte Foroutans Team eine Umfrage zur Einwanderung durch: 40 Prozent der Befragten waren der Meinung, eine Frau mit Kopftuch könne keine Deutsche sein. 40 Prozent wollten den Bau deutlich erkennbarer Moscheen einschränken. Mehr als 60 Prozent waren dafür, die Beschneidung zu verbieten – obwohl das sowohl in der islamischen als auch der jüdischen Religion ein wichtiges Ritual ist. Und etwa 40 Prozent glaubten, dass man akzentfrei Deutsch sprechen müsse, um Deutscher zu sein.

Muslime werden von vielen Deutschen als Bedrohung wahrgenommen. Die jüngsten Terroranschläge und die Vorfälle der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof, wo Einwanderer, die überwiegend aus Nordafrika stammten, Hunderte von Frauen bedrängten und sexuell belästigten, haben dieses Gefühl nur bestärkt. Davon profitiert die politische Rechte.

„Ich glaube nicht, dass eine so große Menge zu integrieren ist“, sagt Björn Höcke von der populistischen Partei Alternative für Deutschland (AfD), die seit den Wahlen im März in der Hälfte der deutschen Landesparlamente vertreten ist. Höcke ist AfD-Fraktionsvorsitzender in Thüringen. Die Einwanderer untergraben seiner Meinung nach die „Vertrauensgemeinschaft“, die angeblich einst in Deutschland existiert habe. Die AfD, behauptet Höcke großspurig, sei „die letzte friedliche Chance für unser Land“.

Es gibt viele Leute, die Höcke gefährlich und abstoßend finden. „Um Gottes willen!“, rief Volker Damm aus, als ich erwähnte, dass ich mich mit dem AfD-Mann treffen würde. In der persönlichen Begegnung wirkt Höcke eher intellektuell, fast mild; bis vor ein paar Jahren war er noch Gymnasiallehrer. Aber wenn er auf den AfD-Kundgebungen in Erfurt nationalistische Töne anschlägt und die Menge auf dem Domplatz dazu auffordert, Parolen zu skandieren, fühlen sich viele an die Ära des Nationalsozialmus erinnert.

„Sportpalast, 1943“, meinte Christian Grunwald in Anspielung auf die Rede des damaligen Reichspropagandaministers Joseph Goebbels. Eines der Schreckgespenster, die Höcke an die Wand malt, um Wähler zu gewinnen, sind sogenannte Parallelgesellschaften: „Stadtteile, in denen man nicht den Eindruck hat, sich in Deutschland zu befinden.“ Für einen Amerikaner klingt das nicht sonderlich bedrohlich, schließlich gibt es in den USA in vielen Städten eine Chinatown oder ein Little Italy, in denen die Traditionen der alten Heimat gepflegt werden – vor gar nicht so langer Zeit gab es sogar noch Hunderte von Little Germanys. Wo ist das Problem, frage ich deshalb Erika Steinbach, die zwar selbst einst als Flüchtling die Herzlichkeit vermisste, nun aber Merkels Politik vom rechten Flügel der CDU aus scharf kritisiert.

„Ich möchte das nicht“, sagt sie schlicht. „Wir sollten unsere Identität bewahren.“ Steinbach nennt keine Fakten, um die gefühlte Bedrohung zu konkretisieren, sondern bezieht sich auf Anekdoten. Ihre Sekretärin sei am Berliner Hauptbahnhof von einem Mann begrabscht worden, den sie für einen Flüchtling hielt. Der Sohn ihrer Frankfurter Friseurin sei in seiner Klasse eines von nur zwei Kindern, die in Deutschland geboren wurden. Und ein Mitglied der Frankfurter CDU habe ihr berichtet, Banden von Einwanderern würden in der Haupteinkaufsstraße herumlaufen und den Leuten ins Gesicht rülpsen. „Wohin führt das alles?“, fragt Steinbach. Zum Zeitpunkt meines Treffens mit der CDU-Politikerin hatte ich schon einige der neuen Deutschen kennengelernt. Da war Ahmad, der vor seiner Tür in Rotenburg fegt. Da waren die beiden Jungen in der Berliner Unterkunft, die sich in den Schlaf weinen, wenn sie ihre Mutter in Damaskus immer noch nicht erreichen können. Und da war eine 20-jährige, schwangere Frau mit einem weißen Kopftuch in einer Sporthalle in Berlin, die in Tränen ausbrach, kurz nachdem sie zu reden begonnen hatte, weil sie ihre Familie in Syrien so sehr vermisste, weil die Deutschen so freundlich seien, aber auch, weil sie solche Angst gehabt habe, als sich eines Nachts eine wütende Menge vor der Unterkunft versammelt hatte. Wenn sie könne, sagte die junge Frau, würde sie diesen Menschen gern mitteilen, dass sie keineswegs gekommen sei, um ihnen irgendetwas wegzunehmen.

Die Übergriffe und die hasserfüllten Parolen sind erschreckend, aber in gewisser Weise kann ich die Befürchtungen auch nachvollziehen, die viele Deutsche hegen. Ahmad, dem Syrer, geht es da übrigens nicht anders: „Die Deutschen sorgen sich zu Recht um ihr Land“, meint er zu mir. „Sie haben sich an Sicherheit und Ordnung gewöhnt und Angst, dass sich das ändert.“ Die Begegnungen mit Ahmad und anderen Flüchtlingen hatten mich beeindruckt. Ich frage Steinbach deshalb, ob sie eigentlich schon einmal persönlichen Kontakt mit Flüchtlingen gehabt habe. „Nein“, sagt sie.

Die Feindseligkeit gegenüber Einwanderern in Deutschland ist am stärksten, wo die wenigsten von ihnen leben: in den ostdeutschen Bundesländern. Die Menschen dort sind nach wie vor ärmer als ihre Mitbürger in Westdeutschland. Doch auch in den westlichen Bundesländern leistet die breiter werdende Kluft zwischen Arm und Reich der Stimmung gegen Flüchtlinge womöglich Vorschub. Dabei gibt es für Angst vor Einwanderern keine materielle Grundlage, sagt Naika Foroutan.

Die deutsche Wirtschaft sei stark, die Arbeitslosigkeit niedrig, und der Staat habe 2015 einen Überschuss von 19,4 Milliarden Euro erzielt. Deutschland könne es sich leisten, die Flüchtlinge zu integrieren und gleichzeitig zugunsten aller Deutschen in die Infrastruktur zu investieren. „Es ist eine kulturelle Panik“, meint Foroutan.

Naika Foroutan ist 44 Jahre alt, sie hat eine deutsche Mutter, ihr Vater musste aus dem Iran fliehen. Sie setzt ihre Hoffnung auf Bildung und Aufklärung. „Man kann den Menschen beibringen, Integration als selbstverständlich zu betrachten“, sagt sie. Deutschland habe es schließlich bis zu einem gewissen Grad geschafft, den Antisemitismus abzustreifen. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind Generationen von Menschen herangewachsen, die im Fernsehen und in der Schule mit den Nazi-Verbrechen konfrontiert wurden. Foroutans Studie legt nahe, dass die Erziehung zu Offenheit und Toleranz auch die Einstellung gegenüber Einwanderern prägt: Junge Deutsche sind eher bereit, Beschneidung und Moscheen zu akzeptieren, als ältere.

Die Integration der Flüchtlinge wird auch dadurch erschwert, dass Deutschland noch immer nach einer neuen Identität sucht – „einem neuen deutschen ‚Wir‘“, wie Bundespräsident Joachim Gauck es 2014 in einer Rede formulierte. Dieses „inklusive Wir“ gehört notwendigerweise zu einem modernen Deutschland hinzu: offen für die Welt und den Wandel. Konservative Deutsche sind nicht die Einzigen, die mit dieser Vision fremdeln. Es gibt nicht wenige Einwanderer, die einem traditionellen Islam verbunden sind und für die der Koran wichtiger ist als das Bürgerliche Gesetzbuch.

In der Mevlana-Moschee in Kreuzberg treffe ich zum Beispiel Serkan Özalpay, einen jungen, bärtigen Gelehrten, der mir von der Feindseligkeit erzählt, die ihm von Deutschen entgegengebracht werde. Wenn er mit seinem Turban und seinem langen Gewand über die Straße gehe, werde er manchmal bespuckt. Dann überrascht mich Özalpay, indem er Dinge sagt, die auch AfD-Vertretern gefallen würden: „Die Flüchtlinge gehören hier nicht her. Muslime gehören nicht in dieses Land.“ Er rät den Mitgliedern seiner Gemeinde, in die Türkei zurückzukehren, weil es einfach zu schwer sei, in Deutschland nach dem Koran zu leben.

Einen Tag nach diesem verwirrenden Besuch treffe ich in einem Neuköllner Studio ein ganz anderes Mitglied der türkischstämmigen Gemeinde: eine kettenrauchende, demonstrativ lesbische DJane namens İpek İpekçioğlu. Sie ist in dem Berlin aufgewachsen, das Özalpay als gottlos verdammt, und sie liebt die Stadt sehr.

Das war nicht immer so. Nach dem Abitur sei ihr Deutsch schlecht gewesen und sie habe keine emotionale Bindung an das Land gehabt, erzählt sie. Sie nahm eine Stelle als Au-pair-Mädchen in London an. Dann habe sie eines Tages zufällig ein Buch von Goethe aus dem Regal gezogen: die Gedichtsammlung „West östlicher Divan“, in der der berühmte Dichter den Islam feiert. Die Gedichte sprachen İpekcioğlu an. „Mensch“, dachte sie damals, „Deutsch ist eine schöne Sprache.“ Sie ging nach Berlin zurück. Heute legt sie in Clubs auf der ganzen Welt auf und spricht manchmal im Ausland für das Goethe-Institut – eine Repräsentantin des neuen Deutschlands.

Das alte Deutschland, sagt İpekcioğlu, habe eine Menge für sich – Goethe zum Beispiel. Traditionsbewussten Menschen falle es aber immer noch schwer, „ihre Kultur zu öffnen und es ihr zu erlauben, sich zu verändern“. Vor einiger Zeit legte İpekcioğlu in Leipzig ihre anatolischen House-Platten auf; die Tanzfläche war brechend voll. Ein Mann kam zu ihr und verlangte, dass sie „deutsche“ Musik spielt. In der Folge legte sie noch mehr Ethno-Musik auf, damit der Party-Gast – und ganz Deutschland – ihre Botschaft hört: „Wir gehen nicht zurück. Wir bleiben hier. Also werden die Stadt so formen, dass unser Leben hineinpasst.“

Es ist normal, Angst vor dem anderen zu haben, sagt İpekcioğlu. „Das geht nicht nur den Deutschen so.“ Allerdings führte Fremdenhass in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit zum größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Ich kann mir vorstellen, dass die Deutschen sich deshalb nicht nur vor dem anderen fürchten – sondern auch ein wenig vor sich selbst. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich damals in der SS gewesen wäre“, meint mein alter Lehrer Damm. „Ich kann nur hoffen, ich wäre kein KZ-Wärter gewesen.“

Als am 9. November 1938 die Reichspogromnacht Deutschland erschütterte, hatten die Antisemiten von Rotenburg und Bebra ihr Werk bereits vollbracht. Zwei Tage zuvor hatte ein Mob die Häuser und Geschäfte der Juden demoliert. Goebbels habe die Region explizit gelobt, sagt Heinrich Nuhn, ein ehemaliger Geschichtslehrer und Kollege von Damm, der ein kleines Museum führt, das an das Schicksal der Juden von Rotenburg erinnert.

TED-Video: Alexander Betts vom Refugee Studies Centre Oxford erklärt, was in der globalen Flüchtlingspolitik zu tun ist.

An einem Nachmittag gehen Damm und ich ins Rathaus von Bebra, um mit Uli Rathmann, zu sprechen, einem muskulösen, 56-jährigen Mann mit kurz geschorenem Haar, der den Kindergarten und die Jugendeinrichtungen der Stadt leitet. Rathmann wuchs in einem Dorf nahe Bebra auf und bekam nie einen einzigen Einwanderer zu Gesicht – auch eine Art von „Parallelgesellschaft“, wie er sagt. Er wurde Sozialarbeiter und begann, mit Einwanderern zu arbeiten. Inzwischen, so scheint es mir, fände er es nicht schlimm, wenn Bebra irgendwann einen viel höheren Ausländeranteil hätte.

Gegen Ende unseres Gesprächs führt Rathmann mich ans Fenster, von wo aus wir die Steinmauer sehen können, die den Marktplatz teilt, und zeigt mir die Bronzeplakette mit den Namen der 82 Juden aus Bebra, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Dann wendet er sich mir zu, ins Heute: „Es sind aufregende Zeiten in Deutschland“, sagt er. „Ich war überwältigt von der enormen Hilfsbereitschaft der Deutschen. Und sie ist noch nicht verebbt.“

Damm, der bis dahin schweigend zugehört hat, schaltet sich ein. „Es ist das erste Mal in meinem Leben ...“ Er hält inne, entschuldigte sich. Er hat Tränen in den Augen. „Zum ersten Mal in meinem Leben“, führt er fort, „bin ich stolz auf Deutschland.“ Wir sprechen darüber, wie schwer es für Deutsche ist, einen Nationalstolz zu entwickeln; ein Gefühl, das über die Fußballweltmeisterschaft hinausgeht und trotzdem nicht anmaßend und bedrohlich wirkt. Vielleicht, sagt Rathmann, sind Deutsche bald „stolz darauf, dass wir die Flüchtlinge aufgenommen haben“.

Vielleicht sei Stolz erst das Produkt von „gelebter Demokratie“, die Leute müssten spüren, dass dies ihr Land sei, und deshalb „den Hintern bewegen und etwas dafür tun“. Dann schaut er in seinen Computer, um die Nummer von jemandem herauszusuchen, mit dem ich seiner Meinung nach sprechen sollte, einem Mann, der ihm geholfen habe, den Boden im neuen Jugendzentrum zu verlegen: Fatih Evren von der nahen Moschee.

Die ganze Reportage lesen Sie in der aktuellen Ausgabe von NATIONAL GEOGRAPHIC DEUTSCHLAND!

(NG, Heft 10 / 2016, Seite(n) 92 bis 115)

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