Heiliges Land: Wiege der Verheißung

Wie im Nahen Osten der Monotheismus entstand und das Heilige Land heilig wurde.

Von Peter Sandmeyer
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Foto von Kenneth Garrett

Religion fällt nicht vom Himmel. Sie entwickelt sich, weil Menschen Verstand haben und Furcht vor dem, was sie nicht verstehen.

Blitzschlag, Krankheit, Unfall, Missernte – wer schickt sie, wer gebietet über sie, wen muss man gnädig stimmen? „Primus in orbe deos fecit timor“, schrieb der römische Dichter Publius Statius vor fast 2000 Jahren: „Die Angst hat die Götter in die Welt gebracht.“

Angst ist eine Grundbefindlichkeit des Menschen. Bewältigung der Angst gilt als Ursprung der Religion. Angst vor Hunger, Angst vor Alter und Hilflosigkeit. Dagegen schützten Erntesegen und Kinderreichtum – Fruchtbarkeit.

„Fruchtbaren Halbmond“ nennt man das Gebiet, das im Osten am Persischen Golf beginnt, das Zweistromland Mesopotamien umfasst und sich dann über den schmalen Korridor Syrien und Palästina im Westen bis zum Nildelta und den sich südlich anschließenden fruchtbaren Äckern entlang des Nils erstreckt. In dieser Region müssen die Menschen vor etwa 10.000 Jahren mit dem Klima- und Landschaftswandel nach der letzten Eiszeit fertig werden. Die Savannen gehen zurück, die Gazellenherden verschwinden; dafür machen neue Wasserläufe das Land fruchtbringend.

Irgendwann beginnen die Menschen damit, die größten Körner von wildem Weizen und anderen Gräsern nicht mehr aufzuessen, sondern aufzuheben und auszusäen. Erste Ziegen werden domestiziert. An die Stelle des bisherigen nomadischen Lebens als Jäger, Sammler und Fischer tritt das sesshafte Leben von Bauern und Viehzüchtern. Erstmals werden Lebensmittel und Saatgut bevorratet. Austausch entwickelt sich, Handel entsteht – eine Revolution.

Viele sehen darin einen der wichtigsten Schritte der Menschheitsgeschichte. In diesem Umbruch, einer Folge klimatischer Veränderungen, liegt der Keim für drei Weltreligionen, die eines eint: dass sie ihre Form den sich wandelnden Lebensbedingungen der Gläubigen anpassten – und ihren Ängsten.

Die neue Lebensweise, die in jener Zeit entsteht, macht unabhängig vom Zufall des Jagdertrags. Aber es entstehen andere Abhängigkeiten und mit ihnen neue Nöte. Jäger können dem Wild folgen und bei ausbleibendem Jagdglück den Ort wechseln. Bauern hingegen müssen ausharren auf ihrer Scholle. Und deren Erfolg ist abhängig vom Wetter. Bei Missernte drohen Hunger und Tod.

Die Religion dieser Zeit ist ein sehr einfacher Götterglaube, in dem es nicht um Ursprung und Sinn der Schöpfung geht, sondern ums Überleben. „Zentral war die Frage nach dem sich immer wieder erneuernden Leben“, schreibt der Theologe und Archäologe Wolfgang Zwickel, „sei es durch Nachwuchs der Menschen, sei es durch Fruchtbarkeit des Bodens oder der Tiere.“

Hinweise auf die Religion jener Frühzeit, aus der es noch keine schriftlichen Quellen gibt, geben prähistorische Artefakte, Tonfigurinen, Stelen, Kultfiguren. Sie zeigen: Fruchtbarkeit wurde verehrt und vergöttert. Über die Namen und die Aufgabenbereiche der Götter weiß die Forschung nichts. Doch schon aus der Mittleren Bronzezeit (2000–1500 v. Chr.) ist eine ganze Schar von Göttern bekannt, die man gewissermaßen als Abteilungsleiter für verschiedene Bereiche der Fruchtbarkeit und des Wetters betrachten kann, auch für Zeugungs- und Lebenskraft und den Lauf von Sonne und Mond. In Kanaan, dem Kerngebiet der jüdischen Besiedelung, war Baal ein besonders prominenter Gott, der über Wind, Wolken und Regen herrschte, Ernten vertrocknen, aber auch Dürren beenden konnte. Auch El taucht schon auf, dessen Name sich einige Jahrhunderte später in dem des Volkes „Isra-El“ („El siegt“) wiederfindet. Er wurde offenbar als Kriegsgott verehrt.

Kriegsgötter spielen fortan neben den Gebietern über die Fruchtbarkeit eine immer wichtigere Rolle. Denn mit der neuen Lebensweise der Menschen verstärken sich ihre Konflikte. Volle Speicher, große Herden provozieren Neid und Habgier bei ärmeren oder missgünstigen Nachbarn; Raubzüge drohen. Stadtmauern sollen Schutz gegen die Feinde bieten, Tempel, in denen geopfert wird, die Schutzgötter gnädig stimmen. Doch immer wieder werden die Mauern zerstört, bleiben die Opfer wirkungslos.

Es sind kriegerische Auseinandersetzungen, aber vor allem auch Naturkatastrophen wie Erdbeben und Dürren, die das Leben und die Städte zerstören und die Ackerbürger nun wieder auseinandertreiben. Im ausgehenden 2. Jahrtausend v. Chr. scheint es nach heutiger Erkenntnis über lange Zeiträume hinweg so gut wie keinen Niederschlag gegeben zu haben; es gibt kein Saatkorn mehr, viele Menschen verhungern. Die Überlebenden ziehen nach Ägypten, wo der Nil dank seiner jährlichen Überschwemmung ausreichend Nahrung bietet. Andere werden Nomaden und ziehen mit ihren Schafen und Ziegen in die Einöde, suchen Wasserstellen und versuchen, in kleinsten Einheiten zu überleben. Ihre schlichten neuen Kultstätten entstehen irgendwo in der Natur, auf einem Berg oder an einem markanten Baum: keine Mauern, keine Säulen, einfach ein Platz, an dem geopfert wird.

Mehr erfahren Sie zudem in unserem Spezial zum Thema Bibel.

Im Laufe der Zeit wachsen die kleinen Einheiten wieder zu größeren zusammen. Man heiratet untereinander, tauscht Vieh und Wolle, Wein, Öl und Getreide, schickt Überschüsse gemeinsam zu entfernten Märkten und versichert sich des Beistands für den Fall eines Streites. So entsteht auf dem Gebiet Palästinas allmählich eine Art Stammesbund, eine lose Assoziation von Clans. „Zwölf Stämme“, sagt der Tanach, die hebräische Bibel, bildeten das auserwählte Volk Israels.

Diese zwölf besiedeln die fruchtbare Ebene nahe der Küste, das Bergland westlich des Jordans, den Jordangraben und die Hochebene östlich des Jordan. Die größten Stämme heißen Juda, Manasse, Naftali, Gad, Ruben. Etwa 250 Jahre lang gibt es keine übergreifende Machtelite und keine verbindliche Religion, lediglich einen lockeren Zusammenhalt nach egalitären Regeln. Das Prinzip der Gleichberechtigung gilt auch für die zahlreichen unterschiedlichen Gottheiten der Stämme.

Doch Mitte des 11. Jahrhunderts v. Chr. gerät die Stammesgemeinschaft unter Druck. An der Küste im Süden haben die Philister einen Bund von fünf Stadtstaaten gebildet, der wirtschaftlich und militärisch mächtig ist. Wiederholt werden die Gebiete der Israeliten überfallen. Wenn die ihr Leben, ihre Frauen und ihr Vieh behalten wollen, müssen sie einig und geschlossen handeln, brauchen also eine zentrale Führung. Saul, ein Clanführer aus dem Stamm Benjamin, scheint das als Erster begriffen zu haben. Angeblich schickte er einen geschlachteten Ochsen quer durch die Stämme mit der Botschaft: Wer sich am anstehenden Krieg nicht beteilige, dem werde es ergehen wie diesem Ochsen.

Saul wird zum ersten israelitischen König gesalbt – gegen die ausdrückliche Warnung von Samuel, den die Bibel als „Propheten“ bezeichnet, der aber tatsächlich einer der Stammesfürsten gewesen sein dürfte und seinem Volk nun eindringlich die Konsequenzen eines Königtums ausmalt: „Eure Söhne wird er nehmen für seinen Wagen und seine Gespanne (...) eure Töchter wird er nehmen, dass sie Salben bereiten, kochen und backen (...) eure besten Äcker und Ölgärten und Weinberge wird er nehmen ...“ Doch die Volksvertreter erwidern: „Ein König soll über uns sein, dass wir auch seien wie alle Heiden, dass uns unser König richte und vor uns herausziehe und unsere Kriege führe“ (1. Samuel 8).

Auf Saul folgt David, der Hirtenjunge, den Saul wegen seines schönen Harfenspiels an den Hof holt, und der dann, so die Sage im Alten Testament, den schwer gerüsteten Hünen der Philister, Goliath, im Zweikampf mit seiner Steinschleuder besiegt. König David vollendet das Einigungswerk und macht Jerusalem zur neuen Hauptstadt.

Der Theologe Zwickel bringt an der Vorstellung von David als dem gelockten Jüngling, der die Welt mit freundlicher Anmut und friedlicher Musik betörte, ein paar historische Korrekturen an. „Ich vergleiche ihn gerne mit Saddam Hussein. Er war eine Art Warlord, der eine erfahrene, man könnte auch sagen abgebrühte Gruppe von Haudegen und Desperados um sich sammelte und den zerstrittenen Clans mit eiserner Faust seinen Willen aufzwang.“

Mit dieser Truppe von 400 bis 600 Kämpfern gelingt es David auch, die – später so genannte – Bundeslade zurückzuerobern, die von den Philistern erbeutet worden war: ein Kultgegenstand aus Akazienholz, dessen Bedeutung unklar ist. Vielleicht war er Untersatz für eine Götterstatue, vielleicht wurde er bei Prozessionen eingesetzt; viel später ist er zur Aufbewahrungstruhe der legendären Steintafeln mit den Zehn Geboten umgedichtet worden. David bringt diese Lade nach Jerusalem, seinem Herrschaftszentrum, das nun allmählich auch zu einem sakralen Mittelpunkt wird.

In ihm spielt nicht mehr El, der alte Hauptgott des Volkes Isra-El, die wichtigste Rolle, sondern der persönliche Gott Davids: Jahwe – ursprünglich ein Wettergott der Nomaden im heutigen südlichen Jordanien, der seinen Aufstieg möglicherweise dem Abstieg Baals verdankt, einem kompletten Versager, wie sich in den langen Dürreperioden gezeigt hatte.

Mit der Machterweiterung des Königs wächst auch Jahwes Macht. Er saugt die Fähigkeiten anderer Götter auf und zieht immer mehr von ihren Kompetenzen an sich; Jahwe ist der „Herr des Regens“, zuständig für Fruchtbarkeit und den Zyklus der Lebenserneuerung; er bekommt damit auch Züge eines Schöpfergottes und wird gleichzeitig zum „Jahwe der Heerscharen“. Der Kriegsgott wird noch wichtiger. Denn das neue Israel, das sich unter David bildet, ist ein Pufferstaat, umringt von Gegnern, vor allem dem mächtigen Ägypten im Südwesten und dem starken Assyrien im Nordosten.

Aber noch ist die Religion Israels polytheistisch. Neben dem Nationalgott Jahwe gibt es Stadt- und Stammesgötter – Schalim beispielsweise für die Stadt Jerusalem – und ein breites Angebot an Gottheiten für alle Bedürfnisse und Probleme, von Liebeskummer bis Warzenbefall.

Als Davids Nachfolger Salomo um 950 v. Chr. in Jerusalem den ersten Tempel für den Staatsgott errichten lässt, ist Jahwe noch immer der König über einen Himmel, in dem es viel Platz für andere Götter gibt. Vielleicht erlebte das Volk Israel in seiner Geschichte nie eine glücklichere Zeit als diese Epoche, in der das Land groß und geeint war und die Beziehung zwischen Göttern und Gläubigen noch nicht monopolisiert und zementiert. Die Betrachtungsperspektive des christlichen Abendlandes ist ja geneigt, die Entwicklung von der Vielgötterei zum Monotheismus nicht nur als Weiter-, sondern auch als Höherentwicklung zu werten. Aber gibt es dafür eine Berechtigung?

Erst nachdem das Land in die Staaten Juda im Süden und Israel im Norden zerfällt und im 8. Jahrhundert v. Chr. der nördliche Teil unter assyrische Kontrolle gerät, wird von der Opposition in Juda die Forderung nach Reinigung der „jüdischen“ Religion erhoben. Die Partei der radikalen Reformer macht jetzt aus dem religiösen Bekenntnis eine völkische Ideologie, verlangt die strikte Alleinverehrung Jahwes und die Vernichtung von Kultstätten anderer Gottheiten – nur der Tempel in Jerusalem soll übrig bleiben. „Man kann diese religiöse Richtung beinahe als fundamentalistisch bezeichnen“, sagt Zwickel.

Als das assyrische Reich an Macht verliert und die Besatzer schließlich vertrieben werden können, wird das auch Jahwe zugeschrieben, und der Einfluss der Radikalen wächst weiter. Zwickel gibt ihre Maxime wieder mit: „Ein Gott – ein Glaube – ein Reich – ein Heiligtum!“ Ihr Ziel sei allerdings noch nicht die Umsetzung eines Monotheismus gewesen, „sondern einer Monolatrie: der Verehrung der alleinigen Gottheit Jahwe innerhalb der Grenzen Judas. Die Existenz anderer Götter in anderen Ländern wurde durchaus noch anerkannt.“ 622 v. Chr. ist das Ziel der Fundamentalisten erreicht: König Josia setzt zahlreiche religiöse Reformen durch und beseitigt die Kultstätten für andere Götter.

Wenig später geschieht dann Seltsames. Im Jahr 587 v. Chr. – ein Schreckensdatum der jüdischen Geschichte – überfällt ein babylonisches Heer das Land. Jerusalem wird erobert, der Tempel zerstört und ein großer Teil der Bevölkerung nach Babylon und an den Unterlauf von Euphrat und Tigris verschleppt. Und dennoch verlieren die Besiegten nicht ihren Glauben an Jahwe, der als Kriegsgott ja mindestens ebenso versagt hatte wie Baal als Wettergott. „Das ist eine erstaunliche weltgeschichtliche Ausnahme“, sagt Hartmut Zinser, Religionswissenschaftler in Berlin. „In der Regel wird die alte Religion nach einer schweren militärischen Niederlage entwertet, die Menschen verlassen ihre alten Götter und übernehmen die offenbar überlegenen Gottheiten der Sieger, oder sie bilden Mischformen.“

Das Judentum findet einen anderen Weg: Es macht die Eroberer zum Werkzeug Jahwes, der das sündige Israel strafen will. Denn die Überlieferung sagte ja, dass der Herr bei seiner Zwiesprache mit Mose auf dem Berg Sinai das Volk Israel zwar als „ein heiliges Volk“ auserwählt hat („Ihr werdet unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein“). Er stellte dafür aber deutliche Bedingungen; vor allem die, dass „ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet“ (2. Mose 19,5). Der Gedanke, dass Gott sein Volk für dessen Ungehorsam bestraft, hat seinen Ursprung im babylonischen Exil und durchzieht das jüdische Denken bis zum Holocaust.

Etwa 70 Jahre dauert die „Gefangenschaft“ Israels in Babylon, während der zum ersten Mal eine große Anzahl von Juden in der Diaspora lebt. Es sind vor allem die gebildeten, tendenziell rebellischen Angehörigen der Oberschicht, die durch die Babylonier vom leicht zu regierenden Volk separiert werden. Viele Juden arbeiten im Exil als Ärzte, Banker, Kämmerer oder Berater, manche bekleiden sogar hohe Ämter, aber alle bleiben immer Menschen zweiter Klasse. Das verhindert ihre Integration und fördert den Willen, eine eigene Identität zu bewahren. Und für diese jüdische Identität spielt die Religion die entscheidende Rolle.

Überall im Orient wird Geschichte in Form von Geschichten aufbewahrt, auch im jüdischen Volk; Mythen und Märchen, die seit Generationen an den Herdfeuern der Nomaden, in Karawansereien und in den Kinderstuben der Stadtbewohner erzählt werden. Im babylonischen Exil werden sie von jüdischen Priestern erstmals systematisch gesammelt und nach volkserzieherischen Gesichtspunkten zu einem Schriftenkanon verdichtet.

Man könnte auch sagen: Die Schriftgelehrten frisieren die Geschichte. Da man das Wort Gottes ja nicht plötzlich erfinden kann, müssen die Autoren die von ihnen erwünschten Worte Jahwes zurückdatieren und früheren Propheten in den Mund legen. So kommt es, dass in der Offenbarung Jesajas plötzlich Sätze stehen wie: „Ich bin der Erste und ich bin der Letzte und außer mir ist kein besser Gott.“ (Jesaja 44,6) Mit dem historisch verbürgten Jesaja ben Amoz haben diese und andere harsche Abgrenzungen („Die Götzenmacher sind alle nichtig.“ – Jesaja 44,9) nach Erkenntnis der Bibelforschung nichts zu tun. Sie folgen vielmehr der Aktualität des babylonischen Exils. Die jüdischen Emigranten leben im Umfeld einer fremden Kultur und Religion. Wenn sie in ihr nicht aufgehen und ihre eigene kulturelle Identität behalten wollen, müssen sie sich schärfer als bisher abgrenzen. Dafür sorgen jetzt die jüdischen Theologen mit ihrer Überarbeitung der Schrift und einer neuen Ausrichtung der Religion. „Gerade im Kontext des Exils in Mesopotamien ist der Schritt hin zum Monotheismus fast zwingend“, erklärt Zwickel.

Parallel zur Inthronisierung von Jahwe als dem einzigen Gott wird mit den Gesetzestexten zur „Priesterschrift“ (2. Mose 19–4. Mose 10) nun auch ein umfangreicher und detaillierter Kodex von Geboten und Verboten für die gläubigen Juden aufgestellt, der zwei Probleme löst. Das erste: Wenn das babylonische Exil eine Strafe Gottes für das Fehlverhalten seines Volkes war, dann musste irgendwo glasklar formuliert sein, welchen Regeln „richtiges“, gottgefälliges Leben zu folgen hat. Und das zweite: Religion und Verhalten mussten eine Einheit bilden. Am korrekten Verhalten waren die richtige Religion und die rechte Religiosität erkennbar und überprüfbar. Beide markierten eine deutliche Abgrenzung zur babylonischen Umwelt und stärkten damit auch die ethnische Gruppenidentität. Das Gebot der Beschneidung, das Verbot, eine fremde Frau zu heiraten, machen das besonders deutlich. Jetzt wird nicht mehr gefragt: „Wer sind wir?“, sondern verordnet, wer man zu sein hat.

Ironischerweise entstand der Monotheismus also gar nicht im „Heiligen Land“, sondern 1700 Kilometer weiter südöstlich, in Mesopotamien. Nach Palästina wurde er importiert, als die Exil-Juden in ihre Heimat zurückkehrten und feststellten, dass die Daheimgebliebenen Ehen mit Angehörigen anderer Ethnien eingegangen waren und religiöse Mischkulte praktizierten. Noch detaillierter werden jetzt die Pflichten eines gläubigen Juden festgelegt, noch drakonischer Verstöße bekämpft. Wie auf einem Steckbrief werden im Alten Testament am Ende des Buches Esra, das die Heimkehr der Exilierten schildert, Dutzende Namen derer aufgezählt, die sich gegen die Gebote vergangen hatten: „Wir haben unserm Gott die Treue gebrochen, als wir uns fremde Frauen von den Völkern des Landes genommen haben. Nun, es ist trotz allem noch Hoffnung für Israel! So lasst uns nun mit unserm Gott einen Bund schließen, dass wir alle fremden Frauen und die Kinder, die von ihnen geboren sind, hinaustun.“ (Esra, 10,2 f.)

Der zerstörte Tempel in Jerusalem wird wiedererrichtet, er bleibt die einzige Kult- und Opferstätte, er ist der einzige heilige Ort im Land. Aber überall in den Städten und Dörfern, auch in den jüdischen Gemeinden der Diaspora in Ägypten, Griechenland, Persien entstehen jetzt Synagogen, in denen die Religion reflektierend und reglementierend dargestellt wird. Was ist das Wort und die Lehre Gottes? Was will Jahwe von uns? Wie müssen wir uns verhalten? An die Stelle des antiken Opferkultes tritt ein Wortgottesdienst, der den richtigen Glauben und das korrekte Verhalten lehrt, fördert und prüft.

Damit ist ein religiöses Korsett für rechtgläubige Juden geschaffen, das so eng sitzt und so stabil ist, dass es ihnen für Hunderte von Jahren überall auf der Welt Halt und Haltung gibt und die Kultur des „Schtetls“ ermöglicht.

Besonders praktisch aber ist dieses Korsett nicht. Nur eine kleine Elite kann es sich leisten, in ihm zu leben. Für einen einfachen Handwerker oder Tagelöhner dürfte es unmöglich sein, alle 248 Gebote und 365 Verbote einzuhalten, die der jüdische Verhaltenskodex Talmud auflistet, und, beispielsweise nach der Berührung eines Rattenkadavers oder einer toten Taube, die Mikwe, das rituelle Reinigungsbad, aufzusuchen. Ein weiterer Mangel: Die Religion ist ethnisch festgelegt und exklusiv. Für Nicht-Juden hat sie kein Angebot. Schon das Betreten des inneren Tempelbereiches in Jerusalem war Nicht-Juden – bei Todesstrafe – verboten.

Das sind zwei von mehreren Gründen dafür, dass zu Beginn der neuen Zeitrechnung ein jüdischer Wanderprediger namens Jeschua ben Josef, den man später Jesus von Nazareth nennt, unerwarteten Zulauf und Erfolg hat mit seiner „guten Botschaft“, dem Evangelium, das er verkündet. Er knüpft darin an die vorbabylonische Frömmigkeit an, er verlangt keinerlei Einhaltung von Vorschriften, er wendet sich an alle: Juden und Römer, Sklaven und Freie, Frauen und Männer. Und er proklamiert einen Gott, zu dem jeder Zugang hat. Die einzige Forderung des Nazareners lautet: „Metanoeite!“ – Kehrt euren Sinn um! Denkt nach!

Die Richtung eines neuen Denkens – und Handelns – hat der Prediger aus Galiläa am klarsten in seiner berühmten Bergpredigt formuliert, deren Lehre, kurz gefasst, besagt, dass es kein wichtigeres Gebot gibt als das der Liebe – der Liebe zu Gott und zu den Menschen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

Es ist eine Botschaft von revolutionärer Wucht. Sie schallt in eine Welt scharfer sozialer Gegensätze zwischen Klassen und Rassen. Nicht nur der Elitarismus des Judentums plagt das Volk; es ist auch Teil eines Reiches, das von Rom aus regiert wird und die gesamte Region der Länder rund um das Mittelmeer umfasst. Die Ausplünderung dieser Länder verhilft Rom zu Macht und Reichtum, führt aber auch zu starken sozialen Spannungen und Bürgerkriegen, die erst unter Oktavian, dem späteren Kaiser Augustus, zu Lebzeiten von Jesus beendet werden.

Dessen Heimat Palästina ist seit dem Jahr 63 v. Chr. von römischen Truppen besetzt und wird von Vasallen-Königen beherrscht, die oft hilflos zwischen den Interessen von Besatzungsmacht und Bevölkerung lavieren. Jener biblische Statthalter Herodes, der vor der Kreuzigung von Jesus seine Hände „in Unschuld wäscht“, ist dafür ein prägnantes Beispiel. Er war, sagt Zwickel, „machthungrig, grausam und unberechenbar“. Und die Römer, denen er als Sub-Herrscher dient, sind miserable Kolonialherren. Sie entweihen den Tempel der Juden, stellen Jupiter- Statuen auf, plündern einmal sogar den Tempelschatz. Das Volk grollt. Es sehnt sich nach Befreiung von der Fremdherrschaft, nach einem Erlöser, einem von Gott gesandten Messias.

Jesus bietet der ohnmächtigen Sehnsucht des Volkes eine neue Richtung. Nicht auf Macht und Herrschaft komme es an, „nicht mit äußerlichen Gebärden“ komme das Reich Gottes. „Man wird auch nicht sagen: Siehe hier! Oder: Da ist es! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (Lukas 17,20–21). Und der von ihm verkündete Gott ist einer, vor dem alle Menschen gleich sind und der sie daran misst, wie sie sich ihren Nächsten gegenüber verhalten.

Diese Botschaft breitet sich aus wie ein Buschfeuer. Den Kabalen und Intrigen der alten Götter Roms und den paragrafenreichen Vorschriften des jüdischen Jahwe steht plötzlich eine revolutionäre junge Lehre gegenüber, die ein unerhörtes Gebot als oberste Pflicht verkündet: die unbedingte Nächstenliebe. Sie schließt auch die Ausgestoßenen des Judentums ein, sogar Huren und Sklaven, und proklamiert nicht nur ein neues Gottes-, sondern auch ein neues Menschenbild. Die Priester der Christen lassen sich nicht bezahlen wie die der antiken Tempel, sie bestechen ihren Gott nicht mit teuren Opfergaben wie die Jerusalemer Priester, sondern vertrauen seiner Liebe. Die Christen halten zusammen wie Familien und kümmern sich um Arme, Schwache, Kranke. Da ist eine völlig neue Verheißung spürbar, die Kraft eines Gottes, der liebt und Liebe erweckt. Kein Wunder, dass die christlichen Gemeinden stürmisch expandieren.

Gesellschaftlicher Wandel findet nach Max Weber statt, wenn eine Vielzahl von Faktoren, die Wandel erzeugen können – kulturelle, politische, ökonomische, exogene und endogene – in einer einzigartigen historischen Ereigniskonstellation und Faktorenkonfiguration zusammentreffen. Jesus von Nazareth trifft auf eine solche Gesamtlage, die dazu führt, dass die Lehre dieses Wanderpredigers einen schwindelerregenden Aufstieg erlebt und in der Folgezeit große Teile der Welt tiefgreifend wandelt.

Das Gleiche gilt für einen anderen Mann, der gut 500 Jahre später einer neuen Lehre zum Durchbruch verhilft, die einen anderen Teil der Welt tiefgreifend verändert: Mohammed.

Man muss eigentlich staunen darüber, dass sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu zwei erfolgreichen monotheistischen Religionen, dem Judentum und dem Christentum, noch eine dritte Religion entwickelt, in der ebenfalls ein einziger Gott angebetet wird; ein Gott zudem, der sich nicht einmal substanziell von dem der anderen beiden Religionen unterscheidet. Auch er ist allwissend, allmächtig, allgegenwärtig. In Allah steckt kein anderer als der einst von den Juden verehrte Gott El. Und dessen Prophet Mohammed hat sich auch gar nicht als Religionsstifter verstanden, sondern als Reformator und Wiederhersteller der ursprünglichen Religion des biblischen Abrahams, die von Juden und Christen verfälscht worden sei.

Auf Karawanenreisen in seiner Jugend ist der von religiösem Sendungsbewusstsein geprägte Kaufmannssohn aus Mekka mit Judentum und Christentum in Berührung gekommen und hat sich das religiöse Wissen seiner Zeit angeeignet. Man würde den Islam heute vielleicht eine Copy-and-paste-Religion nennen, so viele Anleihen aus dem Alten und Neuen Testament enthält er. Auch Jesus ist im Koran hoch geschätzt, allerdings nicht als Sohn Gottes, sondern, wie Abraham, Mose und Noah, als einer der herausragenden Propheten. Doch deren Verlautbarungen Gottes, so kritisierte der Prophet Mohammed, seien immer erst nachträglich und teilweise falsch aufgeschrieben worden. Deswegen habe Allah sich ihm als letztem und wichtigstem Propheten mit seinen Worten und Weisungen wörtlich offenbart. Innerhalb von 20 Jahren habe der Erzengel Gabriel ihm die Verse des Koran ins Herz diktiert und damit alle weiteren himmlischen Kundgaben überflüssig gemacht.

Der Koran ist nicht, wie die Bibel, eine Sammlung von Geschichten, sondern von Lobpreisungen Gottes, Gleichnissen, Gesetzestexten und Forderungen, Allahs Willen zu erfüllen. Seine 114 versförmigen Suren weisen den Weg zum himmlischen Paradies, bestimmen aber auch, was im irdischen Leben zu geschehen und zu unterbleiben hat. So verbindet die Religion des Islam einen überschaubaren Kanon klarer Alltagsregeln mit einer relativ einfachen Theologie: Allah ist der „Rechtleiter“ und der Koran seine genaue Anleitung für eine Lebensführung gemäß göttlichem Willen. Soziales Verhalten gehört dazu, Bekämpfung der Selbstsucht, Gerechtigkeit und Güte. Aber auch die Verpflichtung, den Islam gegen seine Feinde zu verteidigen.

Die Lehre Mohammeds fand schnell fruchtbaren Boden, als der Prophet sie um 613 in Mekka verkündete. Die ersten Anhänger gehörten zu den armen Schichten der arabischen Handelsstadt. Wie den Entwurzelten des römischen Weltreichs fehlte ihnen eine religiöse Heimat. Denn auch in Arabien sind die heidnischen Götter ungerecht, sie kümmern sich nicht um die Menschen. Der christliche Gott aber ist unbekannt, denn die Missionstätigkeit der frühen Christen beschränkt sich auf das Territorium des Römischen Reiches. So ist der alleinige Gott Allah, der „Einzige“, „der erschaffen hat“ und „den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste“ – für die Zuhörer Mohammeds ein neuartiger und einnehmender himmlischer Wegweiser.

Den Herren Mekkas aber wird der prophetische Eiferer unbequem; sie zwingen ihn, die Stadt zu verlassen. Er findet Zuflucht in Yathrib (später Medina), wo er zum politischen Anführer und dann auch zum Feldherrn aufsteigt. So nimmt der Islam schon zu Lebzeiten seines Stifters theokratische Züge an und wird zur Rechtfertigung für militärische Auseinandersetzungen genutzt. Und da man für den Krieg Kämpfer braucht, die das Risiko des eigenen Todes willig akzeptieren, verspricht der Koran allen, die als Märtyrer zu Tode kommen, den Einzug ins Paradies und immerwährende Glückseligkeit. Der Dschihad, der „heilige Krieg“, bekommt damit Züge eines Gottesdienstes.

Wie jeder Monotheismus ist der Islam eine monopolistische Religion, aber er ist ursprünglich keineswegs aggressiv und vernichtend. In den nach Mohammeds Tod eroberten Gebieten gibt es auch viele jüdische und christliche Siedlungen, die unter muslimischer Herrschaft nicht daran gehindert werden, ihren Glauben weiterzuleben. Moscheen stehen neben Kirchen und Synagogen. Aber Juden und Christen gelten gewissermaßen als Halbgläubige; sie haben weniger Rechte und müssen für ihren Status als Schutzbefohlene mehr Abgaben leisten. Das trägt dazu bei, dass viele Gemeinden mit der Zeit zum Islam konvertieren.

Zwickel sieht einen weiteren Grund für die Ausbreitung des Islam: „einen Rückgang der Lebensqualität“. Zwischen dem 5. und 7. Jahrhundert wird der Nahe Osten immer wieder von Erdbeben getroffen. An archäologischen Stätten lässt sich erkennen, dass die wiedererrichteten Häuser kleiner und ärmlicher waren als die vorherigen. Zwickel nimmt an, dass diese Naturkatastrophen nicht nur den Boden, sondern auch den Glauben der Menschen erschüttert und ihnen den Wechsel zu einer neuen Religion leichter gemacht haben. „Der Islam hat sich keineswegs mit Feuer und Schwert durchgesetzt, sondern im Laufe einer langen und sehr friedlichen Inkulturation.“

Wie nahe sich die drei monotheistischen Religionen in vielem sind, zeigt sich auch darin, dass ihnen derselbe Ort heilig ist: Jerusalem.

Dort stand Jahwes Tempel, der Kultplatz der Juden, bis zu seiner Zerstörung durch die Römer 70 n. Chr. Den Christen ist Jerusalem heilig, weil Jesus dort gekreuzigt wurde. Und für Muslime zählt Jerusalem zu den heiligen Stätten, weil der Legende nach Mohammed von Mekka nach Jerusalem entrückt worden und vom Felsen auf dem Tempelberg in den Himmel aufgestiegen ist. Es ist der Platz, an dem heute der Felsendom steht. Auf einem Inschriftenband in seinem Inneren heißt es: „Er (Gott) hat die Herrschaft über Himmel und Erde. Er macht lebendig und lässt sterben und hat zu allem Macht.“ Es ist ein Text aus dem Koran, Sure 47, Vers 2.

Aber er könnte genauso in der Thora oder der Bibel stehen.

(NG, Heft 12 / 2014, Seite(n) 44 bis 63)

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