Mary Kingsley
Mary Kingsley möchte Fische studieren und die religiösen Bräuche der Eingeborenen. Dafür reist sie mit 30 Jahren allein an die Westküste Afrikas. Sie forscht am Kongo und Ogowe – in Gebieten, die vor ihr noch kein Europäer betreten hat.
Mary Kingsley möchte Fische studieren und die religiösen Bräuche der Eingeborenen. Dafür reist sie mit 30 Jahren allein an die Westküste Afrikas. Sie forscht am Kongo und Ogowe – in Gebieten, die vor ihr noch kein Europäer betreten hat.
Freunde erklären Mary Kingsley für verrückt. Als Frau allein nach Westafrika! In Sümpfe und dichte Wälder, und das bei der Hitze und den Moskitos! Jeder weiß, dass das unausweichliche Fieber dort schon für Männer oft tödlich ist – wie viel mehr für das schwache Geschlecht! Ein Arzt zeigt Mary Kingsley eine Landkarte mit der Verbreitung der Tropenkrankheiten. Ein Engländer, der sieben Jahre in Westafrika gelebt hat, schlägt ihr vor, lieber nach Schottland zu fahren, aber wenn es dann der dunkle Kontinent sein muss, jeden Tag Chinin einzunehmen – besonders, wenn sie sich ins Gebiet der großen Ströme wagt. Denn an der Küste ist es schon schlimm genug, aber im Landesinneren – und da will Kingsley hin – wütet das Fieber noch schlimmer.
Doch Mary Kingsley lässt sich durch die wohlmeinenden Ratschläge nicht von ihrem Plan abbringen. Lange genug hat sie darauf warten müssen, endlich ihr eigenes Leben zu führen. Immer nur ist Kingsley für andere da gewesen, hat ihre kranke Mutter gepflegt, den Haushalt geführt. Ihr Vater George Kingsley, ein Arzt, reiste viel. Er schrieb über die fernen Länder, die er besuchte, studierte vor allem die religiösen Bräuche der Bewohner. Für die Erziehung der Tochter gab er kein Geld aus. Aber sie half ihm bei seiner schriftstellerischen Arbeit und las sich durch seine Reisebibliothek. Nun, 1892, sind beide Eltern gestorben. Kingsley hat 8000 Pfund geerbt. Sie ist 30, unverheiratet – und endlich frei.
Mary Kingsley hat noch nie eine Auslandsreise gemacht. Nach dem Tod der Eltern fährt sie erst einmal auf die Kanarischen Inseln. Doch dann muss es auch schon gleich Westafrika sein. Kingsley ist pragmatisch, nicht romantisch. Es geht ihr nicht um das Reisen an sich, um frische Luft und Abenteuer, sondern sie möchte wissenschaftliche Forschung betreiben. Mary Kingsley plant, die Studien ihres Vaters fortzuführen und die Fetische der Eingeborenen zu beschreiben. Und sie hat vor, bisher unbekannte Süßwasserfische in den westafrikanischen Flüssen zu fangen – für die Sammlung des Britischen Museums.
Im Jahr 1893 sticht Kingsley auf einem englischen Handelsschiff in See, fährt monatelang die westafrikanische Küste hinunter. Im Golf von Guinea besucht Kingsley die Insel Fernando Póo (heute Bioko). Dann erreicht sie Calabar im heutigen Nigeria. Endlich in Afrika! Ein wasserdichter Sack enthält ihre Expeditionsausrüstung: unter anderem zwei Decken, Stiefel und eine Thermoskanne.
Die zukünftige Afrikaforscherin lernt europäische Missionare kennen. Sie erzählen ihr nicht, wie das Land ist, sondern wie es ihrer Meinung nach sein soll. Kingsley hat herausgefunden, dass es bei eingeborenen Mädchen in Calabar den Brauch gibt, sich einen langen Stoffstreifen um die Hüfte zu binden und diesen am Boden hinter sich her zu ziehen. Sie glauben, dass ihre Schutzgeister das Stoffende halten und auf diese Weise bei ihnen sind. Die Missionare wissen nichts von diesem Brauch, sie wollen den Kindern das schlampige Herumlaufen abgewöhnen. Kingsley ist empört. Sie wird auf ihren Expeditionen immer versuchen, die Eingeborenen zu verstehen – und sie so zu lassen, wie sie sind.
Kingsley wagt sich bald ins Landesinnere, erforscht die Gegend zwischen Niger und Cross River. Sie trägt einen langen, dicken Wollrock, ihre Bluse ist bis zum Hals zugeknöpft, und unter dem Kinn bindet sie einen Hut mit einer Schleife zusammen. Kingsley zieht durch das Land zwischen den Flüssen, begleitet nur von eingeborenen Trägern. Anderen Europäern empfiehlt sie, Gewehre, wenigstens ein Messer, bei sich zu führen. Sie selber jedoch hat keine Angst und ist nicht bewaffnet. Sie vertraut auch in gefährlichen Situationen auf ihre Worte. Die Eingeborenen haben Respekt vor ihr – und nennen Mary Kingsley manchmal „Sir“.
Nach ihrem Aufenthalt in Nigeria fährt sie weiter die Küste entlang. In Accra an der Goldküste zeigt ihr ein Regierungsbeamter zwei ausgehobene Gruben. Er habe immer zwei Gräber für Europäer parat, die an Fieber sterben. In dem feucht-heißen Klima müsse man schnell beerdigen.
Im August 1893 erreicht Kingsley Luanda an der angolanischen Küste. Ihr Ziel ist der Kongo weiter im Norden. Dort lebt sie bei einem Eingeborenenvolk, das ihr alles beibringt, was mit Fischen zusammenhängt. Die Afrikaner zeigen ihr, wie man aus Fasern der Ananasstaude Netze knüpft, diese in den Flüssen auslegt und einholt, und wie man mit einem Kanu fährt. Die Engländerin fischt die ersten Exemplare für ihre Sammlung, neue exotische Arten, die noch kein Wissenschaftler kennt. Später wird sie einmal sagen, sie sei nur auf zwei Sachen in ihrem Entdeckerleben wirklich stolz: Erstens, dass ihre wissenschaftlichen Mentoren die Fische für wertvoll hielten, die sie von ihren Expeditionen nach Hause brachte. Und zweitens, dass sie ein Kanu so fahren könne wie die Afrikaner. 1894 kehrt Kingsley nach England zurück. In Afrika ist sie zwar oft an Fieber erkrankt, doch sie hat allen Unkenrufen zum Trotz bewiesen, dass man als Frau die Westküste überleben kann. Es hält sie nicht lange in der Heimat. Schon Ende des Jahres bricht Kingsley wieder nach Afrika auf. «In einem Punkt ist es mit der Westküste Afrikas so wie mit den arktischen Gebieten. Wenn man einmal dort war, möchte man immer wieder dorthin zurückkehren», schreibt sie später. Sie liebt das Land, seine mächtigen Ströme, die Urwälder und die Menschen. Kingsley fühlt sich dort wohler als in England.
Am 7. Januar 1895 kommt Mary Kingsley in Freetown in Sierra Leone an, sieht die Eingeborenen, die ihre Lasten auf den Köpfen tragen, erkennt das Geräusch wieder, dass deren nackte Füße auf dem Boden machen. Sie reist weiter nach Gabun. Dort fährt sie mit einem Dampfer den Ogowe hinauf, den Pierre de Brazza einst entdeckte. Das Boot fährt nur bis Lambaréné. Von dort reist Kingsley mit dem Kanu weiter, nur von einigen Trägern begleitet. Was heißt reisen – sie kämpft sich den Fluss hinauf, muss Stromschnellen und Wasserfälle überwinden, kentert ein ums andere Mal. Nach einiger Zeit zieht sie zu Fuß weiter. Ihr Ziel sind die Dörfer der Fang, ein kannibalisches Volk, deren religiöse Rituale sie erforschen möchte. Waldpfade führen den kleinen Trupp bergauf und bergab. Immer wieder gelangen sie in Täler, in denen Flüsse fließen, die sie nicht durchqueren können. Einmal müssen sie mehr als zwei Stunden durch einen Sumpf ziehen, Waffen und Ladung auf dem Kopf, denn das Wasser reicht ihnen teilweise bis zum Kinn. Sie verstricken sich in Schlingpflanzen, ein falscher Schritt, und sie versinken ganz im Wasser. Sie sind über und über mit Blutegeln bedeckt, an den Händen, am Hals. Später entfernen sie sich diese gegenseitig mit Salz. Kingsley trifft in den Wäldern auf Gorillas – «das furchtbarste wilde Tier, das ich kenne» – Pythons, Elefanten und Leoparden. Sie liebt es, im Urwald zu übernachten, den Geräuschen zu lauschen, die nachts viel lauter sind als tagsüber.
Die Entdeckerin gelangt in Gebiete, die noch kein Europäer vor ihr betreten hat. Sie finanziert die Expedition durch Handel mit den Eingeborenen. Sie tauscht Baumwolle, Angelhaken, Tabak gegen Gummi und Elfenbein. Auch mit den Fang macht Mary Kingsley zunächst Geschäfte. Als sie keine Ware mehr hat, verkauft sie ihre Blusen. Immer in Angst, nach Abschluss der Geschäfte umgebracht und – wer weiß? – verspeist zu werden. Sie lebt dann aber bei dem Volk, sieht dort Dinge, «die es wert sind, gesehen zu werden», wie sie später schreibt. Sie kehrt auf dem Rembwe zur Küste zurück. Bevor sie sich auf die Heimreise macht, besteigt Kingsley auf einer neuen Route den Kamerunberg, mit 4070 Metern der höchste Berg Westafrikas.
Im Jahr 1895 kommt Mary Kingsley in London an. Ihr Ruf ist ihr vorausgeeilt, sie ist nun berühmt. Sie schreibt drei Bücher, „Travels in West Africa“, „West African Studies“ und „The Story of West Africa“, die Bestseller werden, aber zu heftigen Kontroversen führen. Sie verurteilt darin die Praktiken der europäischen Missionare und macht sich damit nicht nur die Anglikanische Kirche zum Gegner. Kingsley lenkt das Augenmerk der Europäer auf die Kultur der indigenen Völker Afrikas und wird damit zur Wegbereiterin künftiger Anthropologen – darunter viele Frauen –, die die Menschen des Schwarzen Kontinents weiter erforschen werden.
Kingsley plant eine dritte Reise nach Westafrika. Doch als in Südafrika der Burenkrieg ausbricht, reist sie ans Kap. Sie arbeitet als Krankenschwester in einem Camp für burische Kriegsgefangene. Dort steckt sie sich mit Typhus an und stirbt mit 38 Jahren. Sie wird auf See bestattet, wie sie es sich gewünscht hat.