Mythos „Titanic“

Am 15. April 1912 sank die „Titanic“, das größte Schiff seiner Zeit. Jetzt, 100 Jahre später, erlauben uns neue Techniken erstmals einen vollständigen Blick auf das Wrack - mit spektakulären Bildern aus der Tiefsee.

Von Hampton Sides
Foto von Walden Media

Die „Titanic“ ruht in tiefer Finsternis. Korrodierter Stahl, verstreut über fast vier Quadratkilometer auf dem Boden des Nordatlantik. Bakterien fressen daran. Seit 1985, als Robert Ballard und Jean-Louis Michel die „Titanic“ fanden, schweben immer mal wieder ein Roboter oder ein bemanntes Tauchfahrzeug hinab zu den düsteren Überresten des stolzen Passagierschiffs. Aber wie durch ein Schlüsselloch konnten wir meistens nur einen flüchtigen Blick auf das Wrack der „Titanic“ werfen, mehr ließen die im Wasser schwebenden Partikel und die Scheinwerfer der Tauchfahrzeuge nicht zu.

Bis jetzt. Auf dem Gelände der Woods Hole Oceanographic Institution (WHOI) stehe ich neben William Lange in einem Wohnwagen voller Technik. Vor uns auf dem Bildschirm erscheint eine vergrößerte bathymetrische Karte vom Fundort der „Titanic“. Es ist ein akribisch zusammengesetztes Mosaik, dessen Herstellung Monate in Anspruch genommen hat. Auf den ersten Blick gleicht es einer Mondlandschaft. Lange zoomt das Bild näher heran, noch näher. Jetzt erkennen wir den Bug der „Titanic“. Dann ein schwarzes Loch, aus dem einst der vordere Schornstein ragte, außerdem eine Lukenabdeckung hundert Meter weiter nördlich. Das Bild zeigt erstaunliche Details: Auf einer Aufnahme erkennen wir einen weißen Krebs, der sich an einer Reling festhält.

Bilder aus großer Tiefe

„Endlich wissen wir, wo alles geblieben ist", sagt Lange. „Hundert Jahre hat es gedauert, jetzt haben wir Klarheit." Lange ist Leiter des Labors für bildgebende Verfahren und Visualisierungstechniken des WHOI. Er gehörte zu Ballards ursprünglichem Expeditionsteam, das das Wrack ortete. Seither erkundet er die Stätte mit immer leistungsstärkeren Kameras.

Die neuen Bilder sind das Ergebnis einer ambitionierten, viele Millionen Dollar teuren Expedition im August und September 2010. Sie wurden von drei hypermodernen Tauchrobotern aufgenommen, die in verschiedenen Tiefen und in langen, vorprogrammierten Bahnen eine Fläche von fünf mal acht Kilometern scannten. Die Daten wurden digital zu einem gewaltigen Bild zusammengefügt und mit Geocodierung versehen.

„Das ist ein Durchbruch", sagt der Archäologe James Delgado von der amerikanischen National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA), der leitende Wissenschaftler dieser Expedition. „Früher war es so, als wolle man um Mitternacht bei Gewitter mithilfe einer Taschenlampe ein Foto von einer Großstadt machen. Nun können wir diesen Ort vermessen und verstehen. In den kommenden Jahren wird dieses einmalige Bild auch jenen Menschen eine Stimme verleihen, die hier einst auf so tragische Weise ihr Leben verloren."

Die Faszination R.M.S. Titanic

Was ist am Wrack der R.M.S. „Titanic“ so faszinierend? Warum widmen die Menschen diesem Schiff noch ein Jahrhundert nach seinem Untergang so viel Engagement und technische Erfindungsgabe?

Bei manchen ist es gewiss der Luxus, der die Phantasie blühen lässt. Andere denken an die menschlichen Tragödien. Die „Titanic“ sank innerhalb von zwei Stunden und 40 Minuten und riss rund 1500 Menschen in den Tod. Dramen spielten sich ab.

Ein Feigling soll in Frauenkleidern zu den Rettungsbooten gelaufen sein. Aber die meisten Menschen verhielten sich ehrenhaft, viele von ihnen sogar wie Helden. Der Kapitän blieb auf der Brücke, das Orchester spielte weiter, die Funker an der „Marconi“-Funkstation sendeten ihre Notsignale bis zum bitteren Ende. Die Passagiere hielten sich fast alle an die gesellschaftlichen Regeln ihrer Zeit. Wie sie ihre letzten Augenblicke verbrachten, das ist der Stoff, der die Menschen bewegt. Eine danse macabre, die niemals endet.

Aber noch etwas anderes ging mit der „Titanic“ unter: eine Illusion von Ordnung und der Glaube an den technischen Fortschritt. Mehr noch: die Sehnsucht nach der Zukunft in einer Epoche, in der Europa auf einen Weltkrieg zusteuerte. An ihre Stelle traten schon bald Angst und Schrecken. «Mit der „Titanic“-Katastrophe platzte eine Blase», sagt mir der Regisseur James Cameron. «Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts herrschte ein Gefühl, alles machen zu können. Aufzüge, Autos, Flugzeuge, Radio – das war gerade erfunden worden. Und dann brach alles zusammen.»

Das größte aller Schiffsunglücke zeigt sich in vielen Formen, aber nirgends so surreal wie in Las Vegas. Im Hotel Luxor werden gleich neben einer Striptease-Show und einer Produktion von „Menopause: The Musical“ („Wechseljahre: das Musical“) Artefakte von Bord dieses Schiffs ausgestellt, aus rund vier Kilometer Tiefe geborgen von RMS Titanic, Inc. (RMST). Das Unternehmen hält seit 1994 die Rechte zur Bergung des Wracks.

Die Titanic als Denkmal am Meeresgrund

Viele Jahre haben Meeresarchäologen harsche Kritik an RMST und ihren Chefs geübt. Man hat sie Grabräuber und Schatzjäger genannt. Ein neues Management führt RMST jetzt jedoch in eine andere Richtung. Die Expedition im Jahr 2010, bei der die erste Ansicht der gesamten Trümmerfläche entstand, wurde von RMST finanziert, organisiert und geleitet. Anders als in den Jahren zuvor unterstützt die Firma jetzt Forderungen nach Gesetzen, um die „Titanic“ als Denkmal zu schützen.

Unlängst engagierte RMST Bill Sauder, einen der weltweit führenden „Titanic“­Experten. Er soll die 2010 aufgenommenen Bilder analysieren und beginnen, die vielen noch nicht zugeordneten Teile auf dem Meeresboden zu identifizieren. Als ich ihm in Atlanta begegne, hockt er vor seinem Computer und versucht, aus einem Haufen Teile, der 2010 in der Nähe des Hecks fotografiert wurde, schlau zu werden. «Wir stellen uns Schiffswracks gern wie elegante griechische Tempel vor», sagt er. «Aber so sind sie nicht. Dies sind eher zerstörte Industrieanlagen, ganze Berge von Platten und Spanten.»

Sauder zoomt auf das Bild vor uns. Ein paar Minuten später hat er einen kleinen Teil des Rätsels gelöst: Oben auf dem Haufen liegt der verbogene Messingrahmen einer Drehtür, vermutlich aus einem Aufenthaltsraum der ersten Klasse. Diese Art von mühsamer Kleinarbeit kann nur jemand leisten, der mit jedem Zentimeter des Schiffs vertraut ist. Sauder, der sich selbst als «Bewahrer abseitigen Wissens» bezeichnet, ist eine zentrale Figur in diesem Detektivspiel.

Von Atlanta reise ich nach Manhattan Beach. In einem Filmstudio von der Größe eines Flugzeughangars steht James Cameron, umgeben von phantastischen Requisiten und Modellen aus seinem Kinofilm „Titanic“. Der Regisseur und wissenschaftliche Berater der National Geographic Society hat einige der weltweit wichtigsten Schiffbauexperten versammelt – die wohl erlauchteste Gruppe von „Titanic“-Fachleuten, die je zusammengekommen ist.

Cameron bezeichnet sich selber als „Nieten zählenden „Titanic“-Freak". Er hat drei Expeditionen zur Fundstelle geleitet und vor allem eine neue Klasse von wendigen, ferngelenkten Robotern entwickelt und gesteuert, die nie zuvor gesehene Bilder vom Schiffsinneren mitbrachten: vom Türkischen Bad, aus einigen der Luxuskabinen. Derzeit baut Cameron ein U-Boot, das ihn mit seinen Kameras in den elf Kilometer tiefen pazifischen Marianengraben bringen soll. «Dort unten ist es außerirdisch», sagt er. «Du hast das Gefühl, in der Unterwelt zu sein.»

Auf Camerons Wunsch sollte sich der auf zwei Tage angesetzte Runde Tisch ganz auf die forensischen Aspekte konzentrieren. Warum brach die „Titanic“ so und nicht anders auseinander?

„Sie müssen sich einen Tatort vorstellen", sagt Cameron. „Erst dann bekommen Sie einen Blick für die Details. Sie wollen erfahren: Wie genau ist es passiert? Wie ist das Messer hierhin, wie die Pistole dorthin gelangt?"

Das Schiff kollidierte um 23.40 Uhr mit dem Eisberg. Teile des Rumpfs auf der Steuerbordseite wurden auf einer Länge von 90 Metern eingedrückt und eingerissen, die sechs vorderen wasserdichten Abteilungen freigelegt. Es war klar, dass die „Titanic“ sinken würde. Der Untergang wurde durch einen unglücklichen Umstand möglicherweise noch beschleunigt. Besatzungsmitglieder öffneten eine Gangwaytür an der Backbordseite, damit Menschen von einer unteren Ebene in ein Rettungsboot steigen konnten. Da sich das Schiff nach Backbord neigte, konnte man die massive Tür nicht mehr schließen.Um 1.50 Uhr hatte sich der Bug so weit gesenkt, dass Meerwasser durch die Öffnung hineinflutete.

Um 2.05 Uhr wurde das letzte Rettungsboot zu Wasser gelassen. 13 Minuten später hatte sich der Bug mit Wasser gefüllt. Das Heck ragte nun so weit in die Luft, dass die Schiffsschrauben freilagen. Auf der Schiffsmitte lasteten verheerende Kräfte. Dann zerbrach die „Titanic“ in zwei Teile.

Vom Heck abgetrennt, schoss das Vorschiff in einem ziemlich steilen Winkel auf den Meeresboden zu. Im Sinken gewann es an Tempo. Teile begannen abzureißen. Schornsteine knickten ein. Die Brücke zerbarst. Schließlich, nach fünf Minuten unaufhaltsamer Sturzfahrt, bohrte sich das Vorschiff mit solcher Wucht in den Grund, dass die wellenförmigen Auswurfmuster noch heute im Sediment erkennbar sind.

Das Heck sank noch dramatischer, trudelte in Spiralen in die Tiefe. Ein großer vorderer Teil, durch den Bruch an der Oberfläche geschwächt, löste sich vollständig auf und schleuderte seinen Inhalt in den Abgrund. Kabinen zerbarsten. Decks wurden wie Stapel von Pfannkuchen zusammengedrückt, Außenhautplatten herausgerissen. Sehr schwere Teile wie die Kessel fielen senkrecht in die Tiefe, während andere wie Frisbees fortgewirbelt wurden. Rund 4000 Meter sank das Heck in die Tiefe. Als es am Meeresboden aufschlug, hatte es seine Form weitgehend verloren.

Während ich dieser Schilderung des Todeskampfs lausche, frage ich mich: Was geschah mit den Passagieren, die noch an Bord waren, als das Schiff sank? Die meisten der 1496 Opfer starben an Unterkühlung, während sie in Korkschwimmwesten an der Wasseroberfläche schaukelten. Doch Hunderte Menschen lebten möglicherweise noch, als der Ozeanriese in die Tiefe schoss. Die meisten von ihnen waren im Zwischendeck untergebrachte Auswanderer, die sich auf ein neues Leben in Amerika freuten. Wie haben sie in ihren letzten Momenten dieses gigantische Zittern und Bersten des Metalls erlebt? Selbst jetzt, 100 Jahre später, ist es noch bedrückend, darüber nachzudenken.

Die Stadt St. John’s in Neufundland. Auch hier ist die Erinnerung an den Untergang noch lebendig. Am 8. Juni 1912 lief ein Schiff mit dem letzten geborgenen Leichnam von der „Titanic“ in den Hafen ein. Berichten zufolge wurden Liegestühle, Teile von Holzvertäfelungen und andere Überreste noch Monate später an Ostkanadas Küste gespült.

Einige Jahre vor dem Unglück hatte Guglielmo Marconi auf der einsamen, windgepeitschten Landzunge Cape Race südlich von St. John’s eine ständige Funkstation eingerichtet. Einheimische behaupten, die erste Person, die das Notsignal des sinkenden Schiffs auffing, sei der 14­jährige Funkerlehrling John Myrick gewesen. Zunächst kam die Übertragung im Standardcode für Notrufe herein: CQD. Aber dann empfing Cape Race ein neues, bis dahin nur selten verwendetes Signal: SOS.

Eines Morgens treffe ich auf Cape Race inmitten alter „Marconi“­-Funkgeräte und Detektorempfängern Johns Großneffen: David Myrick, den letzten einer stolzen Linie von Funkern. Er erzählt, dass sein Onkel niemals über die Nacht gesprochen habe, in der die „Titanic“ sank. Auch nicht, als er schon alt und gebrechlich war. Zu dem Zeitpunkt war er schon so taub, dass er nur noch per Morsezeichen mit seiner Familie kommunizieren konnte. „Er war durch und durch Funker", sagt Myrick. „Er hat in Morsezeichen gedacht, ja, er hat sie sogar geträumt."

Wir gehen zum Leuchtturm hinaus und blicken über das kalte Meer. In der Ferne gleitet ein Öltanker vorüber. Auf den Great Banks weiter draußen wurden neue Eisberge gemeldet.

Noch weiter draußen, irgendwo hinter der Wölbung des Horizonts, liegt das berühmteste Schiffswrack der Welt. In meinem Kopf schwirren Gedanken an Signale, Funkwellen, ewige Stimmen, versunken in der Zeit.

Ich stelle mir vor, die „Titanic“ selbst zu hören: ein Schiff mit einem stolzen Namen, das mit Eleganz und Schnelligkeit auf die Neue Welt zusteuerte und von einem so alten und trägen Element tödlich verwundet wurde: von einem Berg aus Eis.

(NG, Heft 04 / 2012, Seite(n) 46 bis 85)

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