Ötzi – Die Autopsie
Noch immer birgt der Eismann viele Geheimnisse. Hatte Ötzi noch kurz vor seinem Tod eine große Mahlzeit gegessen? Und zwar in aller Ruhe? Es gab nur eine Methode, das Geheimnis des berühmten Mannes aus dem Eis zu lüften: Die Forscher mussten ihn auftauen.
Ein regnerischer Novembertag 2010 in Bozen. Im Südtiroler Archäologiemuseum öffnen kurz nach sechs Uhr abends zwei Männer in grünen Chirurgenkitteln die Tür zur Kühlkammer von „Ötzi“ und legen die weltberühmte Gletschermumie auf eine Krankentrage aus rostfreiem Edelstahl. Der eine, Marco Samadelli, hat normalerweise die Aufgabe, den Mann aus dem Eis gefroren zu halten – unter exakt den Bedingungen, die ihn 5300 Jahre lang konserviert hatten, nachdem er auf einem Bergpass im Ötztal durch einen Pfeilschuss ums Leben gekommen war. Doch an diesem Tag hat Samadelli die Temperatur im angrenzenden kleinen Laborraum des Museums auf 18 Grad hochgefahren.
Dort kann nun der andere Mann tätig werden: Eduard Egarter Vigl, Ötzis „Leibarzt“. Mit geübter, fast ruppiger Vertrautheit untersucht der agile, schnauzbärtige Pathologe die Mumie. Eine Handvoll Wissenschaftler und Mediziner stehen mit in dem engen Raum und verfolgen gespannt die Vorbereitungen für das Undenkbare: Ötzi soll aufgetaut werden. Am folgenden Tag würden sie eine erste Ganzkörper-Autopsie an ihm vornehmen: viele genau getaktete chirurgische Eingriffe, so als operierten sie einen heutigen Patienten. Um zu klären, wer dieser Mann war, wie er lebte, wie er zu Tode kam.
Egarter Vigl und Samadelli legen Ötzi vorsichtig in eine eigens angefertigte, mit sterilisierter Alufolie ausgelegte Schablone. Seine gefrorene dunkelbraune Haut erinnert an eine mittelalterliche Figur auf einem mit Eitempera gemalten Gemälde. Seltsam abstehender linker Arm, leicht angewinkelte Beine, gekreuzte Füße – auf einem Altarbild des 14. Jahrhunderts würde dieser Leidensmann nicht weiter auffallen. Schon nach wenigen Minuten bilden sich Tropfen und Flecken auf seinem Körper, als träte ihm Angstschweiß aus den Poren. Ein Tropfen rinnt ihm langsam über die Wange, wie eine Träne.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Mumie zum Subjekt intensiver Forschung und Beobachtung wird. Nachdem die österreichischen Behörden den Toten vom Tisenjoch im September 1991 geborgen hatten, begannen Wissenschaftler in Innsbruck mit Untersuchungen. Sie legten einen großen Schnitt quer über seinen Bauch, weitere „Fenster“ an seinem Rücken, auf dem Kopf und an den Beinen. Später fand man heraus, dass die Felsmulde, in der er gefunden worden war, auf italienischer Seite der Grenze zu Österreich liegt. Daher wurde Ötzi, wie ihn schon bald jedermann nannte, 1998 samt den bei ihm gefundenen Artefakten nach Bozen überstellt. Dort folgten zahlreiche weniger invasive Untersuchungen an der Mumie, darunter Röntgen- und CT-Aufnahmen sowie eine Analyse der mitochondrialen DNA der Mumie.
Die erstaunlichste Entdeckung machte 2001 der Bozener Radiologe Paul Gostner. Ein Detail, das zuvor übersehen worden war: eine Pfeilspitze aus Feuerstein in der linken Schulter des Mannes. Ötzi war von hinten erschossen worden, das Geschoss hatte ein großes Blutgefäß im Brustkorb verletzt, wodurch eine starke Blutung einsetzte, die schnell zum Tod führte. Der älteste, durch viele Zufälle erhalten gebliebene Mensch, der bis heute gefunden wurde, war also Opfer eines Meuchelmords geworden.
Andere Wissenschaftler konnten weitere biografische Daten entschlüsseln. Anhand seiner Zähne und Knochen konnte nachgewiesen werden, dass Ötzi nordöstlich von Bozen, vermutlich im Eisacktal, aufgewachsen war und seine Jugend im Vinschgau verbracht hatte. Anhand von Pollen in seinem Körper wurde der späte Frühling oder Frühsommer als Todeszeit festgestellt. Sein letzter Weg führte ihn vermutlich vom Schnalstal aufs Tisenjoch. An der rechten Hand hatte er eine Verletzung aus einem wenige Tage zuvor stattgefundenen Kampf. Die Analyse von Nahrungsresten in dem Verdauungstrakt – sein Magen war anscheinend leer – zeigte, dass er einige Zeit vor seinem Tod Fleisch und Einkorn, eine frühe Getreideart, gegessen hatte. Somit schien klar: Nach einer Auseinandersetzung mit Feinden im Tal südlich des Passes war der Mann geflohen; sie verfolgten ihn, holten ihn schließlich auf dem Berg ein und töteten ihn .
Eine plausible Geschichte – bis Gostner die Eingeweide genauer unter die Lupe nahm. Obwohl bereits im Ruhestand, sah sich der Radiologe die CT-Aufnahmen zu Hause an, noch mal und noch mal. 2009 war er schließlich überzeugt, dass Wissenschaftler den Darm des Eismannes mit seinem Magen verwechselt hatten. Und der Magen, so erschien es Gostner, war voll. Hatte Ötzi noch kurz vor seinem Tod eine große Mahlzeit gegessen? Und zwar in aller Ruhe?
«Gostner berichtete uns, seiner Ansicht nach wäre der Magen voll», sagt Albert Zink, der Direktor des Instituts für Mumien und den Iceman an der Europäischen Akademie (EURAC) in Bozen, der die Autopsie im November 2010 beaufsichtigte. «Wir dachten, okay, dann müssen wir Magenproben nehmen.» Doch dann entwickelten Zink und seine Kollegen einen ehrgeizigeren Plan: eine Untersuchung vom Scheitel bis zur Sohle, mit sieben verschiedenen Teams aus Chirurgen, Pathologen, Mikrobiologen und Technikern. Durchgeführt werden sollte der Eingriff, ohne Ötzi weitere Schnitte zuzufügen. In die Mumie gelangen würden die Wissenschaftler durch die „österreichischen Fenster“ – so nannten sie die ihrer Meinung nach übertrieben großen Schnitte der ersten Forscher. «Und das», so Zink, «werden wir nur einmal machen, dann viele, viele Jahre nicht wieder.»
«Hier, das Gehirn», erklärt der Neurochirurg Andreas Schwarz, als er das Endoskop durch die Schädeldecke der Mumie führt. Wie die anderen Wissenschaftler im Raum auch trägt Schwarz eine 3-D-Brille, und während er das Instrument langsam tiefer wandern lässt, erscheint auf dem Computermonitor ein verschwommenes dreidimensionales Bild. Es ist kurz nach 13 Uhr, Ötzi hat nun schon sechs Stunden Examination hinter sich. Die OP-Teams haben Muskel- und Lungenproben entnommen. Ein Loch in sein Becken gebohrt, um Knochengewebe für eine DNA-Analyse zu bekommen. In seinem Brustkorb gestöbert und versucht, an die Pfeilspitze und das umgebende Gewebe zu gelangen. Eines seiner Schamhaare ausgezupft. Ötzis Haut sieht jetzt matt und ledrig aus, wie ein Hähnchenschenkel, der zu lange im Kühlfach lag.
Jetzt spähen sie in sein Gehirn, um herauszufinden, ob der mysteriöse Schatten auf einer früheren CT-Aufnahme von einem Blutgerinnsel oder Bluterguss stammt – was auf einen Schlag auf den Kopf hindeuten könnte. Aber das Endoskop von Schwarz stößt immer wieder auf Eiskristalle, die das Bild der Kameralinse trüben. Nach einer Stunde beendet das Neurochirurgie-Team seine Arbeit, obwohl man sich nicht sicher ist, eine verwertbare Probe erhalten zu haben.
Auch die Magenuntersuchung beginnt wenig ermutigend. Peter Malfertheiner von der Otto-von-Guericke Universität Magdeburg will sein Endoskop durch die Speiseröhre in Ötzis Magen schieben – fünf Jahrtausende Mumifikation machen es unmöglich. Da kommt ihm Egarter Vigl zu Hilfe: Nach geduldigen Versuchen mit dem Gerät greift er mit der behandschuhten Rechten zu und kriegt zwei Klumpen unverdauter Nahrung zu fassen. Dann nimmt er einen Teelöffel und holt die fast 250 Gramm des torfähnlichen Essensbreis aus dem prall gefüllten Magen.
Am Ende des Tages ist der Kühlschrank des Labors mit 149 Proben gefüllt. «Das reicht für 50 Veröffentlichungen», feixt einer der Biologen. Samadelli fährt die Temperatur des Labors wieder auf unter null zurück, und am nächsten Morgen besprüht er gemeinsam mit Egarter Vigl die Mumie mit sterilisiertem Wasser. Es gefriert sofort, Ötzi glänzt wieder wie zuvor. Kurz darauf schieben sie ihn zurück in sein eisiges Hightech-Mausoleum.
Rund neun Stunden hat die Autopsie gedauert; die Analyse der entnommenen Proben wird Jahre in Anspruch nehmen. Erste Ergebnisse stellten Zink und seine Kollegen im Juni 2011 auf einer wissenschaftlichen Tagung vor. Dank der DNA in einer winzigen Probe, die bei der Autopsie aus dem Beckenknochen entnommen wurde, steht Ötzi nun in einer Reihe mit den berühmten Biologen James D. Watson und J. Craig Venter: als einer der wenigen Menschen, deren Erbgut bis ins kleinste Detail entschlüsselt ist.
Die genetischen Resultate geben weiteren Aufschluss über den Mann aus dem Eis. Er hatte braunes Haar und braune Augen. Und er war wahrscheinlich laktose-intolerant: Das heißt, Ötzi konnte Milch nicht verdauen – ein höchst interessanter Befund für einen Menschen seiner wohl bäuerlich geprägten Lebenswelt. Weniger überraschend ist, dass er näher verwandt ist mit den Menschen, die heute in Südeuropa leben, als mit jenen in Nordafrika oder dem Nahen Osten. Also etwa mit der noch heute geographisch isoliert lebenden Bevölkerung auf Sardinien, Sizilien und der Iberischen Halbinsel.
Die DNA-Analyse zeigt außerdem eine genetische Dispostion für ein erhöhtes Risiko der Arterienverkalkung. "Wäre er nicht umgebracht worden", so Zink, .dann hätte ihn vermutlich in den nächsten zehn Jahren ein Herzinfarkt oder ein Hirnschlag dahingerafft." Am meisten überrascht hat die Forscher, dass sie die genetische Spur eines Bakteriums in seiner DNA gefunden haben, das Borrelia burgdorferi genannt wird. Damit ist Ötzi der älteste bekannte Mensch, der mit dem Erreger der Zeckenborreliose infiziert war.
Nach der Autopsie erscheint auch sein Tod in neuem Licht. Die Mediziner fanden Blut, das sich auf der Rückseite des Gehirns angesammelt hatte. Also Hinweise auf ein schweres Trauma. Und auf zwei unterschiedliche Szenarien: Entweder stürzte Ötzi durch die Wucht des Pfeilschusses auf sein Gesicht (so vermutet Zink) – oder der Mörder wollte seinem Opfer durch einen Schlag auf den Kopf den Rest geben.
Überrascht hat die Forscher auch Ötzis letzte Mahlzeit. "Er muss wirklich noch ordentlich gegessen haben", sagt Zink – ein Umstand, der nicht so recht zu der bisherigen Vorstellung passt, dass dieser Mann auf der Flucht war. Der Tatort am Tisenjoch war perfekt gewählt für einen Hinterhalt, aber Ötzi scheint von der tödlichen Gefahr nichts geahnt zu haben. Und schon gar nichts ahnen konnte er von dem Aufsehen, das ihm dereinst zuteil werden sollte. Der Eismann ist heute wohl der meistuntersuchte Mensch des Planeten. "Es gab Momente bei der Autopsie", sagt Zink mit sanfter, nachdenklicher Stimme, "da hatte ich doch so etwas wie Mitleid mit ihm. Er wurde so ... ja: ausgekundschaftet! All seine Geheimnisse – in seinem Inneren, an seinem Äußeren, in seiner Lebenswelt – alles wurde untersucht."
Zink macht eine Pause, dann fügt er hinzu: "Nur die Pfeilspitze bleibt in ihm drin. So als wollte Ötzi sagen: Dies ist mein letztes Geheimnis."
(NG, Heft 11 / 2011, Seite(n) 122 bis 136)