Religion - Warum glaubt der Mensch?

Einst begründeten die Menschen Phänomene, die sie nicht verstanden, durch eine göttliche Macht. Später streute die Wissenschaft Zweifel unter vielen Gläubigen. Doch noch immer halten fast zwei Drittel der Deutschen an einem Gott fest.

Von Teja Fiedler
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Zusammenfassung: Einst begründeten die Menschen Phänomene, die sie nicht verstanden, durch eine göttliche Macht. Später streute die Wissenschaft Zweifel unter vielen Gläubigen. Doch noch immer halten fast zwei Drittel der Deutschen an einem Gott fest. Teja Fiedler ging der Frage nach, warum auch im modernen Zeitalter die Suche nach Halt und dem Sinn des Lebens nicht aufhört.

Der junge Krieger weint. Seine Trä­nen fallen auf den Leinenbeutel, den seine Hände umklammern. Er birgt die Asche seines Bruders. Um ihn herum im Halbkreis ho­cken die anderen Männer des Shabonos, wie die Yanomami im venezolanisch-­brasilianischen Grenzgebiet ihre winzigen Dörfer nennen. Ein Schamane tänzelt herbei. Er hat sich mit der Kräuterdroge Epena vollgedröhnt, um Zugang zum Geisterreich zu finden. Er stellt einen gro­ßen Tiegel mit Bananensuppe in die Mitte. Er packt den Beutel, öffnet ihn und lässt die Asche in die Suppe rieseln. „Bruder, mein Bruder“, schluchzt eine Schwester des Toten.

Der Schamane verteilt mit den Händen die Asche, bis die Suppe grau und zäh aussieht wie frisch angerührter Zement. Plötzlich springt er hoch, schlägt mit seiner Machete wild um sich, drischt auf den Lehmboden rund um den Sup­pentiegel ein, lässt dann die Machete fallen und zerrt, die Hände zu Klauen verkrampft, an et­was Unsichtbarem, als wolle er es losreißen und wegschleudern. „Dööi, dööi, dööi“, stöhnt er schweißgebadet. – „Weg, weg, weg“ ihr bösen Dämonen, lasst uns und den Toten in Ruhe! Schwer atmend hält er inne, schöpft mit einem Holzbecher die graue Suppe aus dem Tiegel und reicht sie dem Bruder des Verstorbenen. Der schlürft sie, noch immer Tränen in den Augen.

Der Becher geht reihum, bis der Tiegel leer ist. Jetzt hat sich das Dorf den Toten einverleibt, ihn und sich selbst erlöst. Denn Leichen sind für die Yanomami, dieses Volk von Steinzeitjägern am Oberlauf des Orinoko, die Wohnstätten von Dämonen. Diese bösen Geister vertreiben das Wild aus den Wäldern, tragen Feindschaft unter die Menschen, bringen Krankheit und Tod. Erst wenn von einem Toten nichts, aber auch gar nichts mehr übrig ist, sind die Dämonen unge­fährlich. Von nun an darf niemand im Dorf den Namen des Toten jemals wieder aussprechen. Sonst könnten die Dämonen wiederkommen.

Himmel und Hölle kennen die Yanomami so wenig wie das Nirwana oder die Wiedergeburt.

Doch dieses Volk ist der lebende Beweis dafür, dass Menschen unabhängig von ihrer Kultur oder Bildung den Drang in sich tragen, das Un­erklärliche zu erklären. Dass es in ihnen an­gelegt ist, im Walten des Schicksals und der Naturkräfte eine nachvollziehbare Gesetz­mäßigkeit zu finden. Denn nur wo der Mensch eine Erklärung für das hat, was geschieht, kann er vielleicht gezielt Einfluss nehmen.

Der deutsche Archäologe Klaus Schmidt grub von 1994 an im türkischen Göbekli Tepe eine steinzeitliche Kultstätte aus. Vor rund 11000 Jahren hatten dort Menschen ohne die Hilfe von Zugtieren tonnenschwere Steinpfeiler herangeschleppt, sie hochgewuchtet und in runde Tempelanlagen gestellt, deren Mauern aus behauenen Steinen bestanden. Warum diese Plackerei? Man hatte doch schon genug mit dem Überleben, mit Jagen und Sammeln zu tun ge­habt. Vielleicht weil der Mensch gar nicht an­ders kann? Der inzwischen verstorbene Klaus Schmidt sagte: „Wir wissen, dass der Homo sapiens von Anfang an religiöse Artefakte schuf. Der Mensch hatte immer religiöse Gedanken. Das unterscheidet ihn vom Tier.“

Schon der Urmensch suchte eine Antwort auf die Frage, was denn die Welt „im Innersten zu­sammenhält“. Doch seine Sinnsuche stieß sehr schnell an ihre Grenzen, obwohl – oder gerade weil – sein Großhirn so viel leistungsfähiger war als das aller anderen Lebewesen. Ratlos und ohnmächtig stand er vor den Naturgewalten, vor Sonne und Mond, Blitz und Donner, Dürre und Kälte, noch hilfloser vor Leid und Tod. Woher kamen sie? Das überstieg seinen praktischen Verstand, und er warf sich ehrfürchtig vor dem Unbegreiflichen nieder in der Hoffnung, es we­nigstens so besänftigen zu können.

Auf den Pfeilern in Göbekli Tepe waren meist bedrohliche Tiere wie Raubkatzen, Geier, Skor­pione abgebildet. Wahrscheinlich Symbole oder Gottheiten eines Totenkults. Man brauchte sie. Oder man fürchtete sie. Schmidt vermutete, dass neben diesen magischen Tieren aber auch schon Astralgöttern – wie einem Sonnengott oder einer Mondgöttin – gehuldigt wurde.

Die gigantischen Arbeiten forderten den Jägern und Sammlern bis dahin ungewohntes Teamwork ab. Es war diese Urreligion, die wohl die Steinzeitjäger zusammenkommen und sich zu größeren sesshaften Gemeinschaften zusammenschließen ließ. Das wiederum beeinflusste die Religionen. Die Menschen mussten sich Regeln für ihr eigenes Zusammenleben geben, um die latente Gewaltbereitschaft in ihrer Gemeinschaft einzudämmen. Um diesen Regeln unveränderliche Gültigkeit zu verschaffen, schrieb man sie den Göttern zu. Nicht zum eigenen Schaden: Gemeinschaften mit einem kultischen Zusammenhalt bewältigten den Überlebenskampf besser als ein loser Haufen – ein Selektionsvorteil ganz im darwinschen Sinne.

Die grosse Idee, anstelle einer Göttervielfalt einen einzigen Gott anzubeten, der keinen Anfang und kein Ende hat, kam erstmals im alten Ägypten unter Pharao Echnaton auf und nahm dann schließlich etwa 1000 v. Chr. im Nahen Osten Gestalt an. Er ist der Gott, den Juden, Christen und Muslime verehren. Für das „Christliche Abendland“ wurde der Glaube an ihn und den Erlösertod seines Sohnes Jesus Christus zur unbestrittenen Antwort auf die ewige Frage nach dem Woher und Wohin der Welt und der Menschen.

TED-Video: Die ehemalige Nonne und Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong erklärt, warum die Menschen religiös sein wollen, Religion selbst aber so unpopulär ist:

Die Erlösung von Leid und Tod im Jenseits nach einem gottgefälligen Leben, die helfende Hand eines allmächtigen Gottes im Diesseits war für Arm und Reich eine Tatsache wie der Frost im Winter oder der Tod im Kindbett. Die Hölle nach einem Tod in Sünde war grausige Gewissheit. Wobei die Angst vor den ewigen Martern, wie sie der mittelalterliche Mensch aus der weltlichen Gerichtsbarkeit nur zu gut kannte, die Gottesfurcht beflügelte. Als im 14. Jahrhundert die Pest wütete, nahmen Schenkungen und gute Werke zugunsten der Kirche sprunghaft zu: Ob unserer mildtätigen Herzen verschone uns, o Herr, oder lass uns, solltest du uns doch abberufen, in den Himmel eingehen!

Ihren Glauben grundsätzlich infrage zu stellen ging schlicht über die Vorstellungskraft der Menschen hinaus. Daran änderte auch die Spaltung des Christentums in einen katholisch-orthodoxen und einen protestantischen Zweig nach der Reformation wenig. Nur ganz vereinzelt wichen selbstmörderische Querköpfe von dem Pfad ab, den die Kirchen zu Gott wiesen. 1527 rief der Münchner Bäckergeselle Ambrosi Losenhammer während der Messe in die Stille der Wandlung, bei der nach der christlichen Lehre Brot und Wein zu Jesu Leib und Blut werden: „Das ist nichts weiter als Brot!“ Dieser Frontalangriff auf die Eucharistie kostete ihn den Kopf. Er widerrief vor der Hinrichtung seine Blasphemie. Das ersparte ihm immerhin, als verstockter Ketzer verbrannt zu werden. Niemand nahm Anstoß am Todesurteil. Das alles war einmal.

Im säkularen Rechtsstaat kann heute jeder nach seiner Fasson selig werden. Niemand wird für die Abkehr vom wahren Glauben zur Rechenschaft gezogen. Die Kirchenaustritte häufen sich bei Katholiken wie bei Protestanten und überwiegen bei Weitem die Neueintritte. Gottesdienste sind chronisch schlecht besucht.

Die Zeugen Jehovas mit ihrer wortwörtlichen Auslegung der Bibel und ihrer Erwartung des nahen Weltuntergangs gelten zumindest in Europa als kauzige Fundamentalisten. Ein katholischer Bekenner wie der Schriftsteller Martin Mosebach, der findet, „dass jeder Mensch katholisch sein sollte“ und bedauert, dass „die westliche Welt das Knien verlernt hat“, sieht sich heute in einer „Sonderposition“. Religionen haben im christlichen Abendland die Deutungshoheit für die letzten Dinge verloren.

Und doch glaubten 2014 fast zwei Drittel der Deutschen laut einer Umfrage an einen Gott, in den USA sogar 90 Prozent. Aber an welchen Gott? Und warum? Und warum noch heute?

Vor gut zehn Jahren veröffentlichte der amerikanische Biologe Dean Hamer ein Buch mit dem genial-griffigen Titel „Das Gottes-Gen“. Eine Mediensensation. Hatte ausgerechnet die Mikrobiologie, sonst alle Fragen nach dem Übernatürlichen eher belächelnd, den naturwissenschaftlichen Beweis dafür gefunden, dass der Mensch gar nicht anders kann, als zu glauben?

Die DNA als körpereigener Wegweiser zu Gott? Der Entdecker dieses „Gottes-Gens“ VMAT2, das an der Steuerung des Hirnstoffwechsels beteiligt ist, ruderte sehr bald zurück. Hamer: „Die Bezeichnung bedeutet nicht, dass es ein Gen gibt, das die Leute an Gott glauben lässt, sondern bezieht sich auf die Tatsache, dass die Menschen eine erbliche Prädisposition zum Spirituellen haben.“ Die Gene würden nur darüber bestimmen, dass der Mensch glaubt, nicht aber, was er glaubt.

Den angeborenen Hang zum Spirituellen bestätigt die moderne Hirnforschung. Eineiige Zwillinge, die ja genetisch identisch sind, zeigen nach einer Studie der Universität von Minnesota ein sehr ähnliches Maß an Spiritualität, auch wenn sie in völlig verschiedenen Lebensumständen aufwachsen, der eine etwa als verheirateter Arzt in einer liberalen Großstadt, der andere als Junggeselle in einem Fischerdorf.

Den Grad der Spiritualität „misst“ man mit dem TCI-Test des amerikanischen Psychologen Robert Cloninger. Dabei muss ein umfangreicher Fragenkatalog beantwortet werden, der das spirituelle Potenzial eines Menschen ausloten soll. Zwei Beispiele:„Fühlen Sie sich mitunter als Teil von etwas ohne Grenzen in Raum und Zeit?“ Oder:„Sind Sie fasziniert von den zahlreichen Aspekten im Leben, die wissenschaftlich nicht erklärt werden können?“

Wer sich seiner angeborenen Neigung zum Göttlichen hingibt, kann in der Tat Erfahrungen machen, die das Alltagserleben weit übersteigen. Der Neurologe Andrew Newberg untersuchte das Hirn meditierender buddhistischer Mönche im Kernspintomografen und kam zum Ergebnis: Je mehr sich Menschen in die Meditation versenken, umso mehr fährt der Scheitellappen des Gehirns, der Emotionen und Orientierung unter Kontrolle hält, seine Aktivitäten zurück – es kommt zu einer „Entgrenzung des Ichs“. Der Meditierende kann tatsächlich den Eindruck haben, dass er eins wird mit der übernatürlichen Macht, die er herbeisehnt.

Alle Religionen kennen dieses Phänomen. Für die christlichen Mystiker war es die „unio mystica“, die Vereinigung mit Gott. Dieses mystische Erlebnis ist jedoch ein sehr individueller Vorgang und kein Beweis für ein generelles „Gottes-Modul“ in unserem Kopf. Denn die Gehirnströme, die diesen Zustand herbeirufen, erzeugen eine bunte Palette emotionaler Reize. Sie erleuchten Esoteriker, denen überirdische Einhörner zu Hilfe kommen, und treten genauso beim sehr irdischen Orgasmus oder beim Durchleiden starker Schmerzen auf.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist das spirituelle Erleben des Menschen also nicht gleich Religion. Der Mensch füllt es nur gern mit Religion aus. Dabei ist es für die religiöse Praxis fast nebensächlich, ob der Mensch sich Gott nach seinem Bild und Gleichnis schuf oder ob es umgekehrt war. Ob Gott „nichts anderes ist als das in die Unendlichkeit des Himmels projizierte Wesen des Menschen“, wie Ludwig Feuerbach, Stammvater des Atheismus, zu wissen glaubte. Oder ob nach christlicher – aber auch jüdischer und islamischer – Überzeugung „jeder von Geburt an einen göttlichen Funken in sich trägt, den es zu bewahren gilt“.

Die Menschen glauben, weil sie glauben wollen. Die Frage nach dem großen Warum treibt sie um.

„Religion ist Verzweiflung am Weltzweck“, meinte 1835 der aufklärerische Publizist Karl Ferdinand Gutzkow. Auch heute noch wollen die meisten nicht akzeptieren, dass die Zusammenhänge der Weltläufte ihr Verständnis überfordern und dass Grund und Zweck menschlichen Daseins nichts weiter ist als die Erhaltung der Art Homo sapiens im darwinschen Sinn. Sie sehnen sich nach einem „kohärenten Deutungsmuster“, wie der protestantische Theologe und Religionshistoriker Friedrich Wilhelm Graf diesen verbindlichen Lebenskompass nennt. Doch die Sinnfrage verfolgt sie natürlich nicht Tag und Nacht. Für die Lebenspraxis der meisten Gläubigen ist genauso bedeutend und prägend, dass sie sich in ihrer Religion aufgehoben und erhoben fühlen.

Wenn ein Bauer im 18. Jahrhundert nach sechs Tagen Plackerei am Sonntag aus einer verrauchten, armseligen Kate kommend in den barocken Jubel seiner Pfarrkirche eintauchte, konnte er gar nicht anders, als auf die Knie zu sinken. Und bei einer Mozartmesse im lichten Rokoko der oberbayerischen Wieskirche oder beim, ja, fast überirdisch ergreifenden Marien-Antlitz von Michelangelos Pietà im Petersdom tut sich auch heute für den Gläubigen ein Spalt zum Himmel auf. Selbst überzeugte Atheisten können sich dann manchmal gegen einen Anflug von „göttlichem Funken“ nicht wehren.

Heilige Orte sind Glaubensverstärker, genau wie Rituale. Das Reinigungsbad von Millionen Hindus im Ganges, die gemeinschaftliche symbolische Steinigung des Teufels nahe Mekka bei der islamischen Pilgerfahrt Hadsch. Im Katholizismus die prunkvollen Fronleichnams-Prozessionen oder das feierliche Schwingen des Weihrauchfasses an Hochfesten.

Eine Kindheitserinnerung von Matthias Matussek, einst Ministrant, heute Autor und laut bekennender Katholik: „Aus dem silbernen Deckel stiegen mit jedem Schwenken zarte weiße Wolken auf, hinauf zu Gott. Vorbei an meiner Nase.“ Der katholische Ritus ist für Matussek ein Fest mit Ausblick in die Transzendenz: „Für uns Katholiken ist die Liturgie der Ausweg aus dem Alltäglichen, die Tür ins Heilige. Wenn es eine Gegenwelt gibt, dann ersteht sie, erstrahlt sie in diesen heiligen Verrichtungen.“

Gläubige Menschen betonen immer wieder, dass sie sich geborgen und bestärkt in der Gemeinschaft fühlen. Man betet, singt, kniet miteinander, und jeder Blick über die Schar der Gleichgesinnten ist eine kleine Bestätigung, auf dem wahren Weg zu sein. Man richtet sich an heiligen Frauen und Männern auf, die im Namen Gottes Außerordentliches leisteten oder sogar für ihren Glauben zu Märtyrern wurden: Ein Glaube, der so viel Stärke verleiht, kann einfach keine bloße menschliche Erfindung sein und wird auch mir in äußerst schwierigen Situationen Kraft geben! Glaube kann Berge versetzen, sagt denn auch der Volksmund.

Bei vielen religiösen Menschen war die Familie die Wiege ihres Glaubens. Sie erlebten eine geborgene Kindheit in einer christlichen Umwelt, an die sie sich gern zurückerinnern. Und weil Gott schon immer dabei war, blieb er ein Leben lang dabei als Teil des Wohlfühlpakets aus Jugendtagen.

„Ich hatte eine beschirmte und glückliche Kindheit. Es gab tatsächlich einen lieben Gott, aber auch einen strengen, der alles sieht. Es gab Schutzengel, die auf mich aufpassten. Es gab Gut und Böse, es gab die Madonna, die der Schlange den Kopf zertritt“, erinnert sich Matussek. „Dieser Kinderglaube hat ein Reservoir angelegt wie einen unterirdischen See. Der mochte im Laufe des Lebens teilweise verschüttet werden, doch er war stets da.“

Etwas prosaischer erzählt Bundeskanzlerin Angela Merkel über ihren Weg zum Christentum: „Der Glaube an Gott und die Nähe zur Kirche haben mich von Kindheit an geprägt und beschäftigt. Das lag nicht zuletzt daran, dass mein Vater aktiver Pfarrer war (...) Ich bin also in einer Familie groß geworden, in der das Christliche die Lebenseinstellung prägte.“

Das Festhalten an der Religion in heutiger Zeit, meint der Schweizer Kulturkritiker Alain de Botton, sei unter anderem der Macht der Gewohnheit zuzuschreiben. „Die meisten Religionen profitieren davon, dass es sie schon seit Jahrhunderten gibt.“

Religion sitzt also fest in den Köpfen, einfach weil sie seit Langem da ist? Weil der Mensch zu träge ist, seine Traditionen aufzugeben?

Natürlich seien Religionen auch historisch gewachsene kulturelle Errungenschaften, sagt der Hamburger Theologe und Pastor Johann Hinrich Claussen. Ihr Überleben aber sichere das nicht. „Schauen Sie in den deutschen Osten. 40 Jahre DDR, 40 Jahre areligiöse Einstellung haben gereicht, das Land zu entchristlichen. Und da die staatlich verordnete Schaffung eines sozialistischen, sogenannten neuen Menschen kläglich scheiterte, gibt es über die Familie hinaus dort heute kaum mehr eine Bindung.“

In den ostdeutschen Bundesländern glauben nur noch 25 Prozent der Menschen an irgendeinen Gott, an einen persönlichen Gott acht Prozent. Zwischen Jung und Alt gibt es diesbezüglich praktisch keinen Unterschied. Dabei kann sich Spiritualität dort seit einem Vierteljahrhundert wieder frei entfalten. Warum glimmt der „göttliche Funke“, den jeder nach christlicher Lehre in sich trägt, dann nicht wenigstens in der jungen Generation wieder stärker auf ? „Grund­sätzlich ist jeder Mensch auf Religion angelegt“, sagt Claussen, „aber sie entwickelt sich nicht von allein. Sie muss gefördert werden. Wer nie ge­lernt hat zu glauben, findet schwer zum Glauben. Und dafür kam und kommt für die jungen Leute von ihren Eltern mit der atheistischen DDR­-Ver­gangenheit kaum ein Anstoß.“

Aufklärung und Naturwissenschaften ha­ben seit dem 18. Jahrhundert den einstigen Ge­wissheiten der christlichen Religionen schwer zugesetzt. Angesichts etwa der historisch­-kriti­schen Analyse der Bibeltexte oder der erdrücken­den Beweislast der Evolutionstheorie halten nur noch fundamentalistische Randgruppen an dem Buchstabenglauben fest, die Heilige Schrift sei in weiten Teilen Gottes direkte Offenbarung. Auch wenn ihr Verstand Einwände macht, bleiben sie bei ihren traditionellen Glaubensgewissheiten, um in einer immer unübersichtlicheren Welt fes­ten Grund unter den Füßen zu haben.

„Sie fürchten, dass das ganze Gebäude zusam­menfällt, wenn ein Stein herausbricht“, sagt Mar­tin Urban, Pastorensohn, Plasmaphysiker und Wissenschaftsautor. „Intellektuell unredlich“, nennt er diese Haltung. „Wenn ein Kind einmal gesehen hat, dass ein falscher Bart, Umhang und Kapuze aus einem Mann einen Weihnachts­mann machen, ist es ja auch vorbei mit dem Kin­derglauben – so betrüblich das sein mag.“

Die meisten religiösen Menschen fühlen sich heute allerdings eher zu einem wenig definier­ten, vielleicht sogar nur möglichen Gott hin­gezogen, den sie aber als transzendenten Halt nicht aus ihrem Leben streichen wollen. Theo­logische Grundprobleme – etwa das Mysterium der Dreifaltigkeit oder die Theodizee, die Be­gründung für Leid, Tod und das Böse in der Welt angesichts von Gottes Allmacht – interessieren sie nur am Rande, wenn überhaupt. Wunder, sei es die Erweckung des toten Lazarus, sei es das alljährlich aufwallende Blut des heiligen Gen­naro in Neapel, lehnen sie im Namen von Ver­nunft und Wissenschaft ebenso ab wie an­rührende biblische Geschichten, etwa die von der Arche Noah, auf der die Millionen Tierarten der Erde in einem Schiff von recht bescheide­nen Dimensionen die Sintflut überleben. Ein schönes Gleichnis, mehr nicht.

„Mit der Angst vor der Hölle oder der Aussicht aufs Paradies könnten Sie nicht einmal mehr das sprichwörtliche alte Weiblein in die Kirche lo­cken“, sagt Pastor Claussen. „Und wenn Sie im Religionsunterricht die Schöpfungsgeschichte erzählen, wie sie in der Bibel steht, dann sagt Ihnen schon ein aufgeweckter Drittklässler, die Dinos habe es doch bereits 100 Millionen Jahre vor den Menschen gegeben.“

Die Konturen Gottes sind unschärfer gewor­den, und auch seine Rolle hat sich verändert. Je erklärbarer die Wissenschaft die Welt gemacht hat, desto weniger suchen die Gläubigen in ihm einen Sinnstifter. Er ist heute vielmehr ein Ge­genüber geworden: „Die Menschen sehen die Beziehung zu Gott wesentlich partnerschaft­licher als früher“, sagt der Religionspsychologe und Jesuitenpater Bernhard Grom. Sie suchen das Zwiegespräch mit ihm, empfangen von ihm im Gebet Stärke, Trost, Entscheidungshilfe. Der tief gläubige Samuel Koch, seit seinem Unfall bei der TV­-Show „Wetten, dass ..?“ querschnitts­gelähmt, fühlt gerade in schweren Stunden Got­tes tröstliche Nähe: „In so einsamen Momenten gibt es noch jemanden, der da ist und immer ansprechbar.“

Der katholische Theologe und Entwicklungs­helfer Josef Thalhammer hat mit seiner Familie 18 Jahre unter den Armen in Brasilien gelebt. An das ewige Höllenfeuer glaubt er nicht, mit der Theodizee hat er zunehmend Probleme und der Offenbarungsgehalt der Bibel, hm, sehr durchwachsen. Aber von Gottes schützender Hand in seinem Leben ist er überzeugt. „Ich habe diese Erfahrung so oft gemacht, und sie hat mich in meinem Glauben bestärkt.“

Da habe es diese Morgenmesse im brasiliani­schen Bundesstaat Mato Grosso gegeben. „Die Kirche war eine armselige Hütte mit einem Sandboden. Vorne der Priester an einem roh ge­zimmerten Altar, ich kniete barfuß als einziger Besucher in der ersten Bank“, erinnert sich Thal­hammer. „Durch die offene Tür fiel die Sonne auf den Messkelch. Plötzlich erstarrte der Priester, den blitzenden Kelch zur Wandlung hoch erho­ben, mir schien es ein wunderbarer Anblick. Nach ein paar Sekunden ließ er den Kelch sinken, atmete erleichtert durch. Warum, fragte ich spä­ter: ‚Genau hinter deiner rechten Ferse wollte sich eine Klapperschlange im warmen Sand zu­sammenrollen. Wärest du aufgestanden, hätte sie dich gebissen. Aber dann hat sie sich davon­ gemacht.‘“ A mão de Deus é grande – Gottes Hand sei wahrhaftig groß, so Thalhammer, der Biss dieser Schlange wäre tödlich gewesen.

Der Gott von heute wird von den Gläubigen mehr erfühlt als erkannt. Auch die zeitgenössi­sche Theologie – die protestantische mehr als die katholische – spricht von den letzten Dingen nicht mehr im Brustton dogmatischer Überzeu­gungen. Jesus sei sicher eine charismatische Per­son gewesen. In seinem Tod am Kreuz nehme für den Christen der Glaube Gestalt an, sagt Pastor Claussen. Aber was seine Gottheit und den ge­samten Kontext der Heilsgeschichte angehe, da müsse jeder Christ für sich um die Wahrheit ringen. Zweifel seien menschlich und angebracht. „Doch irgendwann muss man den Sprung wagen, sich in den Glauben hineinzustellen.“

Fundamentalisten halten eine Religion, die an sich selbst zweifelt, für eine Religion, die sich im Namen des Zeitgeistes selbst verleugnet. Der Spiritualität der meisten anderen Menschen unserer Zeit kommt diese Art offener Religion jedoch entgegen. Angesichts einer ich-besesse­nen, leistungsbezogenen, materialistischen Welt wollen sie glauben, vielleicht mehr denn je. Doch sie wollen sich ihren Glauben nicht verordnen lassen.

„Als Sinnbastler baut sich der moderne Mensch seine private Glaubenswelt, verknüpft etwa alte christliche Vorstellungen mit Sym­bolen und kultischen Praktiken anderer Reli­gionen. Veranstaltet im katholischen Gemeinde­haus Yoga­-Abende oder entwickelt in inner­ religiösen Dialoggruppen die Bereitschaft, Verschiedenes zu einer neuen, humanistischen Glaubenshaltung zusammenzufügen“, beobachtet der Religionshistoriker Graf.

In dieser Welt des Patchwork-Glaubens bewegen sich auch die etablierten Glaubensgemeinschaften aufeinander zu. Das Alleinvertretungsrecht in Sachen Gott – wofür sie sich über Jahrhunderte oft bis aufs Blut bekämpft hatten – haben sie aufgegeben. Sie tolerieren heute weitgehend, dass auch die anderen Religionen versuchen, sich dem Unvorstellbaren zu nähern. Das gemeinsame Ziel steht im Vordergrund, nicht mehr der verschiedene Weg. Im vergangenen Oktober gab es in Hamburg ein „Friedensgebet der Weltreligionen“. Christen, Juden, Muslime, Hindus, Buddhisten, Aleviten und Bahá’i vereinten sich betend, um „denen entgegenzutreten, die im Namen von Religion und Ideologie zur Gewalt aufrufen“. Religiöser Schulterschluss gegen religiösen Fanatismus.

So sehr Letzterer uns aus der Zeit gefallen erscheint, so sehr ist auch er in Wahrheit eine Reaktion auf die Moderne. Friedrich Wilhelm Graf hat in einem Essay für die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine faszinierende Deutung des fundamentalistischen Gläubigen geliefert, der die Wiederkunft des frühmittelalterlichen islamischen Kalifats mit dem Sprengstoffgürtel herbeibomben will: „Der Fromme, der sich unmittelbar zu seinem Gott weiß, meint Gottes Willen ungleich besser zu kennen als die vielen anderen.“ Er fühle sich als legitimes Werkzeug eines Allmächtigen, an dessen Allmacht er geradezu teilhat. „Wenn die gegebene, durch diffuse Vieldeutigkeit, Widersprüche und bleibendes Elend geprägte Welt als eine verderbte Gegenwelt zur wahren, gottgewollten Ordnung erlitten wird, entsteht für ihn der Zwang, die Welt, so wie sie leider ist, auf die ideale und ursprüngliche Ordnung Gottes hin zu überwinden (...) Die hier und jetzt noch geltenden Ordnungen entfalten für ihn keinerlei Bindungskraft mehr, gelten sie doch als falsche, sündhafte, aufzuhebende Regelwerke, die souverän zu ignorieren nur mutige Glaubenstat sind.“ Seine Abhandlung schließt Graf mit den Worten: „Mord als Gottesdienst – wie sich solche brutalisierte Frömmigkeit zivilisieren lässt, wis­sen wir nicht.“

Europas zivilisierte Frömmigkeit vergewis­sert sich indes für ihren Glauben an eine letzte überirdische Instanz ausgerechnet bei den Naturwissenschaften, die in den vergangenen 200 Jahren so viel zum Niedergang des Chris­tentums – „wie es im Buche steht“ – beige­tragen haben. Denn Gott hat in der Wissen­schaft auch immer prominente Fürsprecher gefunden. Etwa Charles Darwin, den Begrün­der der Evolutionslehre: „Die Unmöglich­keit des Beweisens und Begreifens, dass das große und über alle Maßen herrliche Weltall ebenso wie der Mensch zufällig geworden ist, scheint mir das Hauptargument für die Exis­tenz Gottes.“

Die schwindelerregenden Erkenntnisse der Physik und Chemie über Mikro­ und Makrokos­mos haben bei vielen Wissenschaftlern den Glauben an eine letzte, „göttliche“ Kraft im Uni­versum nicht verringert, sondern noch ver­stärkt. Werner Heisenberg, Nobelpreisträger für Physik: „Der erste Schluck aus dem Becher der Wissenschaft führt zum Atheismus. Aber auf dem Grund des Bechers wartet Gott.“

Sollte aber hinter dem großen Fragezeichen im Universum kein Gott, sondern eine ganz in­nerweltliche Erklärung stehen, die nur unserem beschränkten Gehirn übernatürlich scheint?

Atheisten halten es für religiösen Hochmut zu glauben, nur weil „der Krone der Schöpfung“ ein Phänomen unerklärlich sei, müsse es etwas Übernatürliches sein. Der britische Biologe J. B. S. Haldane sagt über die begrenzte Erkennt­nisfähigkeit des menschlichen Gehirns: „Ich habe den Verdacht, dass das Universum nicht nur seltsamer ist, als wir annehmen, sondern seltsamer, als wir annehmen können.“

Der Münchner Quantenphysiker Jan Mühl­stein ist liberaler Jude. Er lebt gut mit dem Spa­gat zwischen Wissenschaft und Religion. „Gott gibt es schon für mich, als Ursprung, als Aus­gangspunkt. Doch an einen lenkenden Gott glaube ich nicht. Als Jude lebe ich weniger in einem Glauben, eher in einer Religion. Ihre Re­geln bringen Struktur, Geborgenheit, sind aber auch eine Herausforderung. Aus der Bibel schöpfe ich Kraft. Sie ist ein so reicher Schatz, dass es wert wäre, sich mit ihr zu beschäftigen, selbst wenn es Gott nicht geben sollte.“

Dass es Gott gibt, ist nicht beweisbar. Dass es ihn nicht gibt, aber ebenso wenig. Atheisten können die Behauptungen und Widersprüche der Offenbarungsreligionen schlüssig ad ab­surdum führen. Doch woher die Kräfte kamen, die zum „Big Bang“ führten, mit dem das Uni­versum seinen Anfang nahm, können sie nicht erklären. Martin Urban, der Plasmaphysiker aus der Pastorenfamilie, sieht bis heute jenseits des ehrfürchtigen Staunens der Wissenschaft keinen konkreten Hinweis auf eine göttliche Macht im Universum. „Doch ich hoffe, dass das Universum mit Gott zu tun hat. Und man weiß ja nie, vielleicht entdeckt die Wissenschaft in Zukunft ausnahmsweise mal etwas pro Gott.“

Der Marxismus glaubte im 19. Jahrhundert, eine innerweltliche Lösung für die Sinnsuche des Menschen gefunden zu haben. Seine Lehre vom Klassenkampf mündete mit dem Sieg der Arbeiterklasse in ein Paradies auf Erden, in dem jeder Mensch ganz er selbst sein darf. Dieser Glaube wurde im 20.Jahrhundert bitter ent­täuscht. Und so muss der Mensch sich weiter abmühen, seinem Leben Sinn zu geben, wenn ihm ein „Carpe Diem!“ – „Genieße den Tag!“ – nicht reicht. Nach Blaise Pascal, dem scharf­sinnigen französischen Theologen aus dem 17. Jahrhundert, ist trotz aller Zweifel der Glau­be an Gott der sicherste Weg. Gibt es Gott nicht, meinte Pascal, hat der Glaube an ihn nicht ge­schadet. Gibt es ihn, war es richtig, an ihn zu glauben. „Was für ein theologischer Taschen­spielertrick“, sagt lächelnd Pastor Claussen.

(NG, Heft 12 / 2015, Seite(n) 44 bis 65)

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