Wir sind das neue Amerika

Die Menschen in den USA sind längst nicht mehr nur schwarz oder weiß.

Von Lise Funderburg
bilder von Martin Schoeller
Foto von Martin Schoeller

"Ich mache Aufnahmen von Menschen verschiedenster Herkunft, Kulturen und Ethnien. Um zu zeigen, dass wir letztlich alle einfach Menschen sind." MARTIN SCHOELLER

Warum sind die hier gezeigten Gesichter so faszinierend? Liegt es schlicht daran, dass sie unseren Erwartungen widersprechen? Weil wir es nicht gewohnt sind, solche Augen zusammen mit solchen Haaren zu sehen? Oder diese Nase über diesen Lippen? Im täglichen Leben fragen die Neugierigeren (oder weniger Höflichen) unter uns vielleicht direkt: «Woher kommen Sie?» oder «Was sind Sie denn?» Wir betrachten und überlegen, denn was wir sehen, spricht ebenso wie unsere Neugier Bände: über die Vergangenheit der USA , über ihre Gegenwart und Zukunft.

Das U.S. Census Bureau, das Pendant zum deutschen Statistischen Bundesamt, sammelt erst seit dem Jahr 2000 detaillierte Daten über multiethnische Bürger. Bei der damaligen Volkszählung konnte man erstmals mehr als eine ethnische Zugehörigkeit ankreuzen, und 6,8 Millionen Menschen taten das auch. Zehn Jahre später war diese Zahl um 32 Prozent gestiegen.

Die Option, sich mehreren Ethnien zuzuordnen, gilt vielen als Fortschritt, denen die vom deutschen Forscher Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) entwickelten „Rassenmerkmale“ zu eng sind. Blumenbach teilte die Menschheit in fünf „natürliche Verschiedenheiten“: kupferfarben, gelb, braun, schwarz und weiß. Zwar beruht auch die multiethnische Option noch auf dieser Einordnung, aber sie erlaubt ein gewisses Maß an Selbstbestimmung. Sie bildet einen ersten Schritt zur Veränderung eines Klassifizierungssystems, das paradoxerweise einerseits falsch ist (denn Studien haben gezeigt, dass genetische Unterschiede zwischen Individuen größer sind als zwischen Ethnien), andererseits aber unumgänglich (denn Ethnien und Rassismus beeinflussen unser Leben trotzdem). Die Erfassung der ethnischen Zugehörigkeit dient zudem der Durchsetzung von Antidiskriminierungsgesetzen und dem Erkennen gesundheitlicher Probleme, die in bestimmten Bevölkerungsgruppen häufiger auftreten.

Die meisten multiethnischen Amerikaner, darunter auch die hier porträtierten Menschen, verstehen Identität als einen sehr vielschichtigen Begriff – beeinflusst von Politik, Religion, Geschichte und Geographie. «Ich sage einfach, ich bin braun», erklärt die neun Jahre alte McKenzi McPherson. «Dabei denke ich: Warum willst du das wissen?» Und Maximillian Sugiura, 29, antwortet je nach dem Vorteil, den die jeweilige Ethnie in einer bestimmten Situation bringt.

Loyalität spielt ebenfalls eine Rolle, insbesondere dann, wenn sich die Abstammung nicht aufgrund der Gesichtszüge, Haare oder Hautfarbe zweifelsfrei zuordnen lässt. Yudah Holman, 29, bezeichnet sich als halb Thai und halb schwarz, kreuzt auf Formularen aber „asiatisch“ an und nennt „Thai“ stets als Erstes: «Ich bin bei meiner Thai-Mutter aufgewachsen, daher bin ich sehr stolz auf meine Thai-Identität».

Die Kindheit der 46-jährigen Sandra Williams fiel in eine Zeit, als sich das Land strikt auf einer Schwarz-Weiß-Achse bewegte. Als Williams 1966 als Kind von Eltern mit schwarzer und weißer Herkunft zur Welt kam, waren gemischte Ehen noch in 17 US-Bundesstaaten verboten. Hätte sie ihre helle Haut und ihr helles Haar mit ihrer weißen Abstammung verbunden, hätten andere Schwarze das als Zurücksetzung empfunden. Obwohl Rasse für sie ein gesellschaftliches Konstrukt ist, macht Williams bei der Volkszählung ihr Kreuzchen immer bei „schwarz“. «Das haben auch meine Eltern angekreuzt», erklärt sie. In der heutigen, möglicherweise toleranteren Gesellschaft gehen Menschen mit vielschichtigem kulturellen und ethnischen Hintergrund spielerischer mit ihren Beschreibungen um. Auf amerikanischen Spielplätzen und an Universitäten hört man Wortschöpfungen wie „Blackanese“, „Korgentinian“ und „Filatino“.

Als Student erhielt der heute 34-jährige Joshua Ahsoak wegen seiner gemischten Abstammung – Inupiat (Eskimo) und jüdischer Amerikaner – den Beinamen „Juskimo“. Mit diesem Ausdruck bezeichnet er sich heute selbst: ein gläubiger Jude, der die koscheren Speisegesetze nicht für gebratenen Speck bricht, sondern für Walross- und Robbenfleisch. Ähnlich macht es der siebenjährige Yoel Chac Bautista: Wenn er bei seiner afroamerikanischen Mutter ist, beschreibt er sich als schwarz. Bei seinem Vater nennt er sich Mexikaner. «Wir bezeichnen ihn als Blaxican», scherzt seine Mutter Tracey. In Yoels Elternhaus hängen Bilder von Martin Luther King, Jr., und Frida Kahlo.

Auch wenn manche behaupten, dass die Wahl von Barack Obama eine Zäsur darstellt: In den USA spielt die Hautfarbe noch immer eine große Rolle. Im Jahr 2060 wird Amerika ein pluralistisches Land sein – die Statistikbehörde prognostiziert, dass Weiße ohne Latino-Abstammung dann nicht länger die Mehrheit bilden. Aber Zahlen garantieren keine Chancengleichheit und machen weder die Internierungslager für japanischstämmige Amerikaner im Zweiten Weltkrieg noch die Rassentrennungsgesetze ungeschehen. Weiße verfügen im Durchschnitt über das doppelte Einkommen und das sechsfache Vermögen von Schwarzen und Latinos. Die Arbeitslosigkeit bei jungen schwarzen Männern ist doppelt so hoch wie bei weißen. Rassenvorurteile haben immer noch Auswirkungen auf Inhaftierungszahlen, die Gesundheitsversorgung und die Nachrichten: Vor kurzem löste ein Werbespot für Cornflakes mit einer gemischtrassigen Familie heftige negative Reaktionen aus.

Verfechter und Gegner des Spots beriefen sich auf den sogenannten Augenblick-Test: Eine Untersuchung der Universität von Colorado in Boulder ergab, dass Testpersonen Hautfarbe innerhalb einer Zehntelsekunde wahrnahmen – noch bevor sie das Geschlecht identifizierten. Im Mai berichteten Wissenschaftler, dass politisch konservative Menschen ethnisch nicht eindeutige Gesichter eher unter „schwarz“ einordnen als progressive Menschen.

Wenn Celeste Seda, 26, gefragt wird, was sie ist, lässt sie ihr Gegenüber erst einmal raten. Dann beschreibt sie ihre dominikanisch-koreanische Abstammung. Und erklärt, dass diese nur einen Bruchteil ihrer Identität ausmacht. Denn dazu gehören auch eine Kindheit auf Long Island, eine puerto-ricanische Adoptivfamilie und eine afroamerikanische Schwester. Die Reaktionen auf ihr ungewöhnliches Aussehen begeistern und enervieren die junge Frau. «Es ist Segen und Fluch zugleich», sagt sie.

Und es ist – für uns alle – auch eine Chance. Wenn wir Menschen nicht länger nach alten Kategorien einteilen können, müssen wir die bestehenden Definitionen neu bedenken – und überlegen, wer wir sind. Und wer die anderen.

(NG, Heft 10 / 2013, Seite(n) 118 bis 129)

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