„Humboldt fand nie eine Theorie“

Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht hält den Einfluss des Universalgelehrten Alexander von Humboldt auf die moderne Wissenschaft für überschaubar.

Von Andrea Henke
Veröffentlicht am 24. Juli 2019, 11:36 MESZ
Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht im Zoologischen Museum des Hamburger Centrums für Naturkunde (CeNak).
Matthias Glaubrecht leitet als Evolutionsbiologe und Professor für Biodiversität das Zentrum für Naturkunde der Universität Hamburg.
Foto von Sukhina, UHH

In diesem Jahr wäre Alexander von Humboldt 250 Jahre alt geworden. Während die Welt ihn feiert und Historiker ihn würdigen, kommen Sie, Herr Glaubrecht, zu einem anderen Ergebnis und halten Humboldt vor allem nicht für einen Wegbereiter Charles Darwins. Wie war der wissenschaftliche Diskurs in England vor Erscheinen von Darwins Evolutionstheorie 1859?

Darwin fertigte 1842 eine 30-seitige Bleistiftskizze, auf der alle essentiellen Argumentationslinien seiner Theorie zu finden waren. Im Sommer 1844 arbeitete er das auf 230 Seiten sehr intensiv aus, als von dem schottischen Verleger und Journalisten Robert Chambers – wie wir heute wissen – anonym das Buch „Vestiges of the Natural History of Creation“ erschien. Die Idee, die Natur könnte sich verändern und dynamisch entwickeln, wurde darin aufgegriffen, aber naturwissenschaftlich völlig unkundig und falsch beschrieben. Das Buch wurde von der Kritik zerrissen. Man vermutete sogar, dass Darwin dahinter steckte, was dieser empört zurückwies.

Kennt man eine Reaktion Humboldts auf die Debatte?

Während der Naturforscher Alfred Russel Wallace die „Vestiges“ als tolle Idee aufgriff, tat Humboldt gar nichts. Er nahm keinerlei Bezug zu dieser Diskussion. Wallace, Chambers, die Diskussion um die „Vestiges“ und vieles andere in der englischen Naturkunde, die federführend war, nahm Humboldt nicht wahr. Genau wie das Thema Artenwandel im zuvor tonangebenden Paris, interessierte es ihn überhaupt nicht.

Hätte Humboldt dieselben Beobachtungen machen können und müssen wie alle anderen auch?

Ja. Humboldt hätte ein Vorreiter von Darwin sein können. Es gab 1800 mit dem französischen Entwicklungsbiologen Jean-Baptiste de Lamarck und verschiedenen anderen Gelehrten in Paris eine sehr vehemente Debatte darüber, ob sich Arten verändern oder nicht. Auch das hat Humboldt komplett ignoriert. Er war an allem interessiert, auch an vielem bis ins Detail, aber nicht, was die dynamische Veränderung der Erde und der Arten angeht. Er suchte nach Fakten und ihrer Verkettung, fand aber nie eine Theorie. Darwin orientierte sich an Einzelbeobachtungen, abstrahierte und kam zu einer Theorie, die praktisch auf der Straße lag. Er und Wallace fanden unabhängig voneinander die Theorie der natürlichen Selektion; beiden standen dazu auch in Korrespondenz. Nicht so Humboldt.

Weshalb werden Humboldts Schriften von anderen immer wieder mit der Evolutionstheorie in Verbindung gebracht?

Das liegt an einer einseitigen Fokussierung auf Humboldts Schriften selbst. Humboldt schrieb so viel, dass er sich oft kaum noch erinnern konnte, was er gesagt hatte. Er widerspricht sich auch an vielen Stellen. In Humboldts großem Werk, dem „Kosmos“, findet Darwin zu seiner Enttäuschung beim Erscheinen 1845 nichts zu seiner Theorie. Das war ein Jahr, nachdem er selbst diese Theorie erstmal ad acta gelegt hatte.

Warum tat er das?

Weil sein Kollege Joseph Dalton Hooker ihm schrieb: „Es sollte sich nur der zur Artenfrage äußern, der schon Arten beschrieben hat.“ Touché – das hatte Darwin nicht gemacht, und darum beschäftigt er sich die nächsten acht Jahre intensiv mit Cirripedia, mit Rankenfußkrebsen also, und erhielt für seine Arbeit die Royal Medal der Royal Society. Erst danach arbeitete er seine Theorie weiter aus.

Gab es einen wissenschaftlichen Austausch zwischen Humboldt und Darwin?

Es gibt zwei Briefe von beiden, in denen es um nichtige Details geht – um Meeresströmungen und die Wassertemperatur bei Galapagos –, und nur eine einzige Begegnung, die auf Humboldts ausdrücklichen Wunsch hin arrangiert wurde. Bedeutsam ist die Berichterstattung über dieses Treffen: In Humboldts sehr umfangreichen Schriften finden wir keinerlei Hinweis darauf und von Darwin wissen wir, dass er nicht beeindruckt war. Er vermerkte später in seiner Autobiografie über Humboldt nur: „He talked too much“. Man kann es sich gut vorstellen: auf der einen Seite der mit allen Berliner und Pariser Salonwassern gewaschene Humboldt, der vor Anekdoten, Fakten und Erkenntnissen übersprudelt, auf der anderen Seite der schüchterne Charles Darwin, der gerade von seiner Reise zurückgekehrt war.

Gibt es Lücken in der Entstehungsgeschichte von Darwins Evolutionstheorie, die eine Einflussnahme Humboldts offenlassen?

Ich habe das sehr intensiv in den Biografien Darwins und Alfred Russel Wallaces untersucht. Fast auf den Tag und den einzelnen Brief genau können Sie dort sehen, wie diese beiden Wissenschaftler sich miteinander auseinandergesetzt und beeinflusst haben. Eine Einflussnahme Humboldts ist eine falsche Zuschreibung, die dieser gar nicht nötig hat.

War Humboldt als Weltreisender ein Vorbild für Darwin?

Darwin bewunderte als junger Student den Weltreisenden Humboldt und schätzte dessen Reisebericht. Er beschloss, wie Humboldt eine Reise nach Teneriffa zu organisieren und segelte Jahre später tatsächlich mit der „Beagle“ in Richtung der Kanaren. Weil aber in England die Cholera ausgebrochen war, mussten sie in Quarantäne liegen, durften nicht an Land und segelten kurze Zeit später weiter. In der ersten Auflage seines Reiseberichts 1839 orientierte Darwin sich sehr stark am mäandrierenden Erzählstil Alexander von Humboldts. Das Buch war nur mäßig erfolgreich, doch die zweite Auflage 1845 wurde ein Bestseller.

Warum unterscheiden sich beide Auflagen so sehr in ihrem Erfolg?

Darwin bekam Anregungen von seiner literarisch bewanderten Schwester. Sie empfahl ihm, sich von den vielen Verschränkungen zwischen wissenschaftlichen Theorien und seinen Reisebeobachtungen zu trennen und ähnlich zu schrieben wie in seinen Briefen an seine Familie. Darwin erzählte dann viel stringenter die Erlebnisse eines Naturforschers auf seiner Reise. Diese zweite Auflage 1845 wird bis heute nachgedruckt.

Was beeinflusste außerdem Darwins Denken?

Neben Humboldts Reisebericht, den Darwin mit auf die „Beagle“ nahm, gibt es noch ein anderes entscheidendes Buch seines Mentor Charles Lyell: „Prinzipien der Geologie“. Ein zweiter Band erschien während Darwins Reise. Lyell erklärte darin, dass es vertikale Bewegungen des Landes gibt. Charles Darwin dachte das weiter und entdeckte in den Anden den Zusammenhang von Hebungen, Senkungen und dem Vulkanismus. Humboldt hingegen war die vertikale Bewegung der Erdkruste genauso fremd wie eine horizontale Bewegung, also eine Wanderung der Kontinente, die er explizit ablehnte.

Welche Schlüsse zog Darwin aus Lyells Erkenntnissen?

Darwin erkannte die Dynamik der Biologie, der Tiere und der Pflanzen, nachdem er Lyells Beschreibung der Dynamik der Erdkruste gelesen hatte und die Beschreibung vor Ort nachempfinden konnte. Er sah, wie sich Korallenriffe durch tektonische Bewegung, etwa bei Erdbeben, heben und senken und dadurch Atolle entstehen. Als Darwin von seiner Reise zurückkehrte, hatte er etwas erkannt, was Humboldt zeitlebens verborgen geblieben war: dass die Natur weder notwendigerweise harmonisch oder gar zu höherem Zwecke eingerichtet noch statisch ist; vielmehr ist sie höchst dynamisch, und so wandelbar wie die Erde selbst sind auch die darauf lebenden Organismen. Humboldt sah das alles lang vor Darwin, aber er erkannte es nicht.

In welchen Bereichen ist Humboldts Einfluss auf die Biologie bedeutend?

In einer Grafik die Synthese der Abhängigkeit der Pflanzen von abiotischen Parametern darzustellen, das ist ein originärer Beitrag. Aber Humboldt hatte Vordenker. Die Arbeit des Tiergeographen und Biologen August Zimmermann ist als bedeutungslos zur Seite gelegt worden – dadurch wird verkannt, dass die Tiergeografie der Pflanzengeografie voraus geht. Zimmermann hatte das, was Humboldt in der Vertikalen mit seinem Andenquerschnitt gemacht hat, schon 1778 in der Horizontalen gemacht und schrieb in eine Weltkarte zur Tierverbreitung die Gattungs- und Artnamen.

Kannte Humboldt diese Karte?

Humboldt zitierte als junger Student Zimmermanns Grundlagen in der Tiergeografie. Dann machte er auf Reisen seine eigenen Beobachtungen. Er ignorierte aber Zimmermann, obwohl er eine ganz wichtige Idee von ihm bekam. Die spätere übertriebene Zuschreibung, die Humboldt selber verursachte und der alle folgen, dass nämlich die Pflanzengeografie der Tiergeografie vorausgeht, ist wissenschaftshistorisch falsch.

Lassen Sie noch ein gutes Haar an Humboldt als Ökologe?

Ich sehe es so: Humboldt fasste auf eloquente Art und Weise zusammen, was geistiges Gut seiner Zeit war. Wir können bei ihm nachweisen, dass er Vorstellungen von Harmonie und Gleichgewicht hatte, die eigentlich aristotelisches Gedankengut aus der griechischen Antike sind. Er hat wie Goethe und andere die Harmonie und das Schalten und Walten eines Höheren in der Natur gesucht. Humboldt war ein genialer Wissenschaftler und ein genialer Kommunikator der Wissenschaft, aber er war kein Vorbild Darwins.

Lesen Sie auch die Titelgeschichte über Alexander Humboldt in Heft 7/2019 des National Geographic-Magazins!

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