Tod im Moor

Tief im Winter 2003 kam der Mann - oder was von ihm übrig war - aus dem Moor ans Licht.

Von Karen E. Lange
bilder von Robert Clark
Foto von Robert Clark

Tief im Winter 2003 kam der Mann - oder was von ihm übrig war - aus dem Moor ans Licht. Seine Haare lagen noch so, wie er sie in den letzten Minuten seines Lebens getragen hatte: hinten kurz, auf dem Kopf 20 Zentimeter lang und mit Kiefernharz zu einer Tolle frisiert. Man fand den Unbekannten im Sieb einer Torffabrik. Er war nackt, und der Kopf war weit nach links verdreht. Beine und Unterarme fehlten. Abgerissen von der Maschine, die ihn aus einem Moor nahe der irischen Stadt Clonycavan nach oben befördert hatte. Kopf und Hals wiesen Spuren von Gewalt auf. Die Nase war gebrochen, der Schädel zertrümmert, der Bauch aufgeschlitzt. Das Gewicht des Torfmooses hatte seinen Schädel platt gedrückt, das Wasser seine Haut lederartig gegerbt und seinem Haar eine orangefarbene Tönung gegeben. Archäologen wurden herbeigezogen, denn dies war kein gewöhnliches Mordopfer - sondern eine Moorleiche, ein von der Natur einbalsamiertes Zeugnis geheimnisvoller Rituale in der nordeuropäischen Eisenzeit, den Jahrhunderten kurz vor und nach Beginn unserer Zeitrechnung. Man nannte ihn den Clonycavan-Mann.

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In den vergangenen Jahrzehnten hat man Hunderte dieser Mumien in den Mooren Irlands und Großbritanniens, Deutschlands und der Niederlande, besonders aber in Dänemark gefunden. Sauerstoffmangel und die antimikrobiellen Wirkstoffe der Torfmoose sorgten dafür, dass sie erstaunlich gut erhalten blieben. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wissen die Forscher, aus welcher Epoche diese gruseligen Zeugen vergangener Zeiten stammen. Heute können die Wissenschaftler den Leichen und den bei ihnen gefundenen Dingen mithilfe moderner Methoden - Computertomografie , Radiokarbonmethode - viele Geheimnisse entlocken. Andere Möglichkeiten, etwas über sie zu erfahren, gibt es kaum, denn schriftliche Aufzeichnungen über den Glauben und die Bräuche dieser Menschen geben nicht viel her. Überdies gingen viele Moorleichen verloren: Einige begrub man außerhalb des Moors erneut oder überließ sie der Verwesung, andere wurden von übereifrigen Konservatoren beschädigt. Überhaupt ist man in der Erforschung der Moorleichen immer wieder falschen Fährten gefolgt. So orientierten sich die Forscher vor Jahrzehnten bei der Suche nach historischen Berichten über germanische Gesellschaften am römischen Geschichtsschreiber Tacitus. So berichtete er, dass die Germanen Feiglinge töteten und die Stellen, an denen sie die Leichen versenkt hatten, mit Reisig bedeckten.

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    Angestoßen von den Zeilen des Römers, interpretierten die Forscher viele Moorleichen als Menschen, die in Ungnade gefallen, gefoltert, hingerichtet und dann im Moor versenkt worden waren. So galt das 1952 bei Eckernförde in Schleswig-Holstein entdeckte Mädchen von Windeby zunächst als Ehebrecherin. Scheinbar hatte man ihr in einer bei Tacitus beschriebenen Weise den Kopf geschoren. Danach, so spekulierten die Forscher, habe man das Mädchen mit verbundenen Augen im Moor ertränkt. Eine in der Nähe gefundene männliche Leiche hielt man für seinen Liebhaber. Bereits 1979 widerlegte der deutsche Archäologe Michael Gebühr die Mär von der angeblichen Missetäterin. Und im vergangenen Jahr stellte die kanadische Anthropologin Heather Gill-Robinson von der North-Dakota-State-Universität durch eine eingehende Untersuchung des Skeletts fest: Die Moorleiche von Windeby ist gar kein Mädchen, sondern ein junger Mann! DNA-Untersuchungen bestätigen das. Andere Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass der "Liebhaber" schon 300 Jahre früher gelebt hat. Das "Mädchen" von Windeby könnte seine Haare durch unvorsichtige Handhabung der Werkzeuge bei der Ausgrabung eingebüßt haben.

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    Auch in Dänemark nehmen Forscher um den Anthropologen Niels Lynnerup von der Universität Kopenhagen die Moorleichen des Landes seit einiger Zeit erneut unter die Lupe. Sie haben festgestellt, dass manche der als Folter oder Verstümmelung interpretierten Beschädigungen in Wirklichkeit Hunderte Jahre später zugefügt wurden. Wie beim Grauballe-Mann, der 1952 in einem Moor nordwestlich von Kopenhagen entdeckt worden war. Er ist eine der besterhaltenen Moorleichen - und mittlerweile auch die am gründlichsten untersuchte. Bei früheren Röntgenuntersuchungen war nicht allzu viel zu erkennen gewesen: Das saure Moorwasser hatte zu einer Demineralisierung der Knochen geführt; sie sahen aus wie Glas. Mittlerweile haben CT-Untersuchungen erwiesen, dass der Schädel des Grauballe-Manns unter dem Gewicht des Moors zerdrückt wurde. Zudem war bei der Ausgrabung versehentlich ein Junge in Holzschuhen auf ihn getreten. Auch sein Bein könnte durch das Gewicht des Moors gebrochen sein und nicht, wie lange angenommen, durch einen heftigen Schlag, um den Mann für die Hinrichtung in die Knie zu zwingen.

    Der Däne Niels Lynnerup hat die neuesten wissenschaftlichen Verfahren eingesetzt, um dem Grauballe-Mann seine Geheimnisse zu entlocken. Es stört ihn nicht, dass sich manche Rätsel nicht klären lassen. "Im Moor geschehen seltsame Dinge", sagt er. "Vieles wird für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben."

    Erst war es Tacitus, der Archäologen auf eine falsche Fährte lockte, später waren es die Forscher selbst, die auf der Suche nach Erklärungen zahlreiche Geschichten "erfanden".

    (NG, Heft 9 / 2007)

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