Der Zug nach Westen

Wenn du Zeit hast, dann nimm die Bahn, heißt es in Kanada. Was das bedeutet, erleben Reisende auf einer dreitägigen Fahrt durch den Westen des Landes.

Von Ole Helmhausen
bilder von Colour Box
Veröffentlicht am 3. Nov. 2017, 09:57 MEZ
Banff-Nationalpark
Der Banff-Nationalpark in Kanada.
Foto von Colour Box

Meine Bahnreise durch Kanadas wilden Westen beginnt kurz vorm Schlafengehen mit einer E-Mail von VIA Rail. Morgen will ich von Edmonton, der Hauptstadt der Provinz Alberta, meine Reise an die Pazifikküste antreten – im Canadian, Kanadas berühmtester Eisenbahn, dann ab Jasper mit dem Skeena bis zum Meer. Aber werde ich den Anschlusszug überhaupt erreichen?

Das Bahnunternehmen schreibt mir: Der am Vortag 3500 Kilometer östlich in Toronto gestartete Canadian habe leider zwei Stunden Verspätung. Nichts Ungewöhnliches, sie könne durchaus wieder aufgeholt werden. Verunsichert rufe ich die beigefügte Nummer des Kundenzentrums an. „Kein Problem“, antwortet ein freundlicher Herr. Der Canadian sei inzwischen wieder pünktlich und werde am nächsten Morgen fahrplanmäßig um 7.37 Uhr in Edmonton eintreffen. „Seien Sie rechtzeitig da.“

Der Westen Kanadas pflegt noch immer eine Eisenbahnkultur, die in Europa schon vor Jahrzehnten zu Ende gegangen ist. Zugfahren bedeutet hier mehr als nur anzukommen. Der Canadian ist sogar so beliebt, dass sein Bild die Zehn-Dollar-Note schmückt. Die gerippten, in der Sonne silbern glänzenden Waggons aus Edelstahl wurden in den 1950er-Jahren in Dienst gestellt, als die Route quer durch Kanada noch von Canadian Pacific Railway bedient wurde. Sie schuf 1885 Kanadas erste transkontinentale Eisenbahnverbindung von Montreal nach Vancouver. Der Bau dieser Strecke ist ein nationaler Mythos, eine Leistung voller heroischer Taten der Ingenieure und Arbeiter, die es schafften, fast 5000 Kilometer Gleise durch ein nur lückenhaft bekanntes Land zu legen. Durch Sümpfe, Wälder, endlose Prärie. Über Brücken und durch Tunnel, bis endlich die Rocky Mountains überwunden waren.

Erst 18 Jahre zuvor, am 1. Juli 1867 – vor genau 150 Jahren –, war der Staat Kanada gegründet worden. Die Trasse trug dazu bei, dass weit verstreute Regionen zu einer Nation zusammenwuchsen. Um die Strecke rentabel zu machen, beteiligte sich die Bahngesellschaft zudem an staatlichen Siedlungsprogrammen entlang der Linie und lockte Touristen an, auch aus Europa. Der Slogan war für die Zeit revolutionär: „Erlebt in Kanada die Schönheit der unberührten Natur!“

“Warum nehmen die Passagiere, kanadische Normalverbraucher allesamt, solche Zumutungen in Kauf? „Weil Zugfahren einfach schön ist“, sagt einer.”

Ich selbst gehe nach meinem Anruf im Kundenzentrum beruhigt zu Bett, und schon bald fließen der Canadian und der Skeena in meinen Träumen mit anderen Zuglegenden wie dem Orientexpress und dem Royal Scotsman zu einem eleganten Superzug zusammen, der mich bei gutem Brandy und gepflegter Konversation durch die erhabene Natur Kanadas schaukelt.

Doch ganz so glamourös wird diese Reise nicht. Frühmorgens komme ich pünktlich am Bahnhof an, doch statt eines Prachtbaus aus der großen Zeit der kanadischen Eisenbahn finde ich einen mickrigen Pavillon am gottverlassenen Stadtrand vor. Kein eleganter Wartesaal, sondern blaue Plastiksitze und Automaten mit Cola und Süßigkeiten.

Dafür ist die Stimmung ausgezeichnet. „Welcome, Sir!“, ruft der korpulente Beamte am Schalter und strahlt. Er bietet mir Kaffee und Plätzchen an und ruft sogleich bedauernd in die Runde, dass der Canadian nun doch zwei Stunden Verspätung habe. Oder etwas mehr, das könne man nicht so genau sagen. Ich blicke in die Runde. Nicht das leiseste Anzeichen von Aufstand. Alle lesen, dösen, unterhalten sich. Irgendwann holt ein Angestellter eine Gitarre hervor und zupft Lagerfeuerklassiker. Ich versuche, mir das auf deutschen Bahnhöfen vorzustellen. Warum nehmen die Passagiere, kanadische Normalverbraucher allesamt, solche Zumutungen in Kauf? „Weil Zugfahren einfach schön ist“, sagt einer. Und die Verspätungen? Achselzucken. „Am Ende kommen wir doch an, oder?“

Der Text wurde bearbeitet und gekürzt. Die ganze Reportage steht in der Ausgabe 2/2017 des National Geographic Travelers. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen. 

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