Sizilianische Geheimnisse

Die Insel ist das Erbe vieler Kulturen. Und einer skrupellosen Bauwirtschaft zum Trotz pflegt sie noch immer ihre herrliche Mischung aus Schönheit und Verfall.

Von Tara Isabella-Burton
Veröffentlicht am 29. Dez. 2019, 22:12 MEZ
Modica im Südosten Siziliens zählt zum Unesco-Weltkulturerbe.
Steinalt: Heute gehören die auf dem Hügel gestaffelten Häuser in Modica im Südosten Siziliens zum Unesco-Weltkulturerbe.
Foto von Colour Box

Haben meine Vorfahren das nicht gut gemacht?“ Die Prinzessin weist mit der siegelberingten Hand auf die klassizistische Fassade der Villa Valguarnera hinter sich, die in der Sonne fast golden leuchtet und deren repräsentative Treppen und Torbögen keinen Zweifel an der Bedeutung ihrer Besitzerin lassen. Von den Balkonen fällt der Blick auf das Dunkelblau des Tyrrhenischen Meers, nur ein paar Schritte unter uns.

Doch ganz zufrieden ist Vittoria Alliata di Villafranca nicht. Ein bisschen zu klein sei das Anwesen schon, verglichen mit all den großartigen Villen ihrer Cousins. Sie sei eben das schwarze Schaf der Familie. Jahrelang hat die schlanke 69-Jährige mit dem roten Lockenkopf im Nahen Osten gelebt, wo sie in Islamwissenschaften promovierte und mehrere Bücher schrieb. Die goldverzierten Räume in ihrem Palazzo aus dem 18. Jahrhundert, in denen sie heute wieder wohnt, hat sie mit marokkanischen Tischen und dicken Teppichen dekoriert.

Die Prinzessin führt mich durch den Zitronenhain auf ihrem Grundstück in Bagheria, einem Städtchen zehn Zugminuten östlich von Palermo. „Die Geschichte ist uns hier sehr wichtig“, sagt sie, „wir leben sie bis ins Detail.“ Jedes architektonische Element an ihrer Villa sei ein Triumph des Wissens über die Unwissenheit, der Harmonie über das Chaos. Man denke nur an die Gemälde in einem der Esszimmer mit den tanzenden Skeletten als Motiv. Bei einem Festmahl habe ein Vorfahre mit Sinn fürs Skurrile dort seine Gäste mit Leichen konfrontiert, die ihnen ähnlich sahen – einfach nur als Erinnerung daran, dass auch Adlige sterblich sind. Oder man nehme die exakte Geometrie der Kolonnaden, die dem Petersplatz in Rom nachempfunden sind. Und die Freimaurerzeichen, die sich zwischen den Fresken und Verzierungen verstecken – auch sie stehen für das alte Sizilien.

Diese Enklaven der Kunst zu schützen sei „ein höllischer Kampf“, sagt Vittoria Alliata di Villafranca, aber das sei es allemal wert.

Schützen? Vor wem? Na, vor den Bauherren, ruft sie, die ohne Rücksicht all die hässlichen, großen Häuser in historische Städte setzen. Vor den Betonbaronen und auch vor der Mafia, mit der immer zu rechnen sei, auch wenn sie in der sizilianischen Politik weniger Einfluss habe als noch vor 50 Jahren. Ihnen allen seien die maroden Betonblöcke und Kettenläden in Bagheria zu verdanken. „Manche Leute haben einfach keine Ahnung von ihren Wurzeln“, sagt sie. „Das ist Siziliens Tragödie.“

Ich bin nach Süditalien gekommen, um mehr über meine Familie in Erfahrung zu bringen – denn ich bin das Ergebnis einer kurzen, aber heftigen Liaison zwischen meiner amerikanischen Mutter und meinem sizilianischen Vater, dessen Herkunft mir meine Mutter nur grob skizziert hat. Ich weiß nur, dass er irgendwann mal in einer prächtigen sizilianischen Villa gelebt haben soll. Als Kind habe ich mir ausgemalt, dass mein Vater ein verarmter Adliger sei, und insgeheim hoffe ich nun, auf seine Spuren zu stoßen.

Die uralte Geschichte ist auf Sizilien immer und überall zu spüren. Die Insel wurde von vielen verschiedenen Mächten regiert, von Arabern, Griechen, Habsburgern, spanischen Königen. Bildlich gesprochen gleicht ihre Vergangenheit einem dieser sagenhaften byzantinischen Mosaike, wie ich sie in der Kathedrale in Cefalù finde, einem Badeort gut eine Stunde von Palermo. Die Kirche ist Teil des Unesco-Weltkulturerbes und liegt zu Füßen des Felsens La Rocca, der den Ort überragt. Bei einer Wanderung zum Gipfel begleiten mich griechische und römische Tempelruinen, Wildblumen und immer wieder Bergziegen.

Mittags esse ich in Palermos belebtem Vorort Mondello. Grandhotels wie die im Jugendstil gehaltene Villa Igiea reihen sich wie Perlen an der Strandpromenade, wo sizilianische Männer an ihren Booten stehen und plaudern. Auf dem zentralen Platz sausen Kinder hin und her. Die Kellnerin ignoriert meine Bitte nach einer Speisekarte und informiert mich streng, dass es heute zu essen gibt, was gerade frisch angeliefert wurde: süße Schwertfisch-Caponata.

Auch die sizilianische Küche zeugt von der faszinierenden Mischung der Kulturen. Dem Namen nach sind die Gerichte italienisch, aber viele sind arabisch geprägt: Die Schwertfisch- pasta wird mit saftiger Aubergine und Minze serviert, die hier oft an Stelle von Basilikum verwendet wird. Das Stockfischpüree ist mit Kardamom bedeckt. Gebackene Panelle aus Kichererbsen, eine pikante Variante von Baklava, kommt mit Arancini-Reisbällchen und frittiertem Pilaw.

In Palermo, der Geburtsstadt meines Vaters, ist das multikulturelle Erbe Siziliens besonders spürbar: Überall sehe ich Einflüsse von byzantinischen, griechischen, arabischen und jüdischen Bewohnern. Um die Via Maqueda sind die Straßenschilder abwechselnd auf Italienisch, Arabisch und Hebräisch geschrieben. In der griechisch geprägten Cattedrale di Palermo auf der Via Vittorio Emanuele ist Friedrich II. (1194–1250) beerdigt, der Enkel Friedrich Barbarossas und einst König von Sizilien. Und auf der Piazza Vigliena wurde mit barocken Statuen Siziliens früheren spanischen Königen ein Denkmal gesetzt.

Während ich durch die Altstadt schlendere, weichen die prachtvollen Hotels um das Teatro Politeama dem Mercato La Vucciria, dem zentralen Marktplatz in der jetzt, im Hochsommer, drückend heißen Altstadt. Um mich herum brausen Laster und mit Klebeband provisorisch reparierte Autos, aus denen arabische Musik plärrt. In einem Durchgang hält ein Fischverkäufer frische Calamari in seinen Händen. Bevor ich nach Sizilien aufgebrochen war, hatte ein italienischer Freund von mir gesagt: Rom und Florenz sind für die Touristen. Aber in Palermo ist alles echt.“

Tatsächlich haben die Palazzi, die ich besuche, keine auf Hochglanz polierten Museumsfassaden. Hier ist die Welt der sizilianischen Aristokratie auch für Besucher erlebbar. Weil es kaum staatliche Beihilfe gibt, sind viele Familien auf private Unterstützung und den Tourismus angewiesen, um die Vergangenheit am Leben zu erhalten. „Kommen Sie doch herein!“, ruft eine Frau vor dem Palazzo Conte Federico und drückt mir sogleich einen Flyer und ein Ticket für ein persönliches Treffen mit dem Hausherrn, einem Grafen, in die Hand. „Wir sind übrigens auch auf TripAdvisor!“

In jedem Palast, den ich besichtige, frage ich mich: Hat hier mein Vater gelebt? Aber je mehr ich Sizilien kennenlerne – von den Straßenverkäufern über die Adligen bis zu den Arabern auf der Seebrücke in Mondello –, desto weniger wichtig ist es mir. Das Sizilien, das sich mir eröffnet, ist eine Insel mit lauter Fremden, die friedlich miteinander leben.

Zurück im Palazzo der Prinzessin Alliata di Villafranca kommt meine Gastgeberin in den Wohnbereich gerauscht, ein fließender Kaftan umweht sie. Von ihrer schwungvollen Exzentrizität eingeschüchtert, habe ich mich bisher noch nicht getraut, ihr von meiner Suche zu erzählen. Jetzt erzähle ich ihr das wenige, das ich über meinen Vater weiß. „Aber das gibt es doch gar nicht“, ruft sie. „Natürlich kenne ich ihn!“ Als Kinder seien sie befreundet gewesen. Mit seiner Schwester sei sie immer noch in Kontakt, aber mit ihm hat sie seit Jahren nicht gesprochen, wisse nicht einmal, ob er noch lebe. Ach, schwärmt sie, als junger Mann sei er so schön gewesen.

Auch seine Geschichte kennt sie ein wenig. Und wie es der Zufall so will, ist sie ganz unromantisch. Mein Vater ist der Sohn eines offenbar skrupellosen Architekten, den die Prinzessin ihren „Feind“ nennt und den sie für die neuen Gebäude in Bagheria verantwortlich macht, die sie so verabscheut. Die prächtige Villa in unserem Familienmythos könne sie ebenfalls deuten, denn es gab sie wirklich. Als mein Vater jung war, hatte mein Großvater mit ihrer Nachbarin aus jenem Haus nebenan eine Affäre. Er und mein Vater seien oft dort gewesen. Wenn also mein Vater meiner Mutter von einem Palazzo erzählt habe, dann könne das sehr wohl hier in Bagheria gewesen sein.

Noch vor einer Woche hätte ich nicht erwartet, meiner Familiengeschichte so nahe zu kommen. Und nun muss ich damit leben, dass mein Vater keinesfalls ein Aristokrat, hingegen Teil einer Familie war, die sich am Untergang des alten Sizilien beteiligte. Aber zum Glück gibt es noch immer die trubeligen Straßen von Palermo und die Ballsäle der Paläste, die Mischung aus Schönheit und Verfall. Ich habe längst angefangen, mich auf der Insel zu Hause zu fühlen.

Die "Sizilianischen Geheimnisse" wurden gekürzt und stammen aus dem Heft 4/2019 des National Geographic-Travelers. Dort finden Sie Tipps für 59 weitere Reisen!

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