Schottlands Sagenlandschaften: Erkundungsreise durch die lebendige Landschaft von Badenoch

Diese herrliche Region ist in vielerlei Hinsicht mit ihrer Natur verbunden. Von Wiederbegrünungsprojekten bis hin zum Schutz bedrohter Arten – hier kann man engagierte Menschen in einer spektakulären Landschaft erleben.
Foto von Michael George
Von MICHAEL GEORGE
Veröffentlicht am 12. Jan. 2022, 09:47 MEZ

Ich fahre auf einen nicht gekennzeichneten Parkplatz, trete auf den weichen Torf und suche im bunten Herbstlaub nach einem weißen Schild mit der Aufschrift „Wooden Tom”. Ich finde es an einem Zaunpfahl befestigt. Es weist mir den Weg in den Wald hinein. Ich laufe zwischen den Farnen und verzweigten Flechten umher und bemerke einen Baumstumpf, in den ein Gesicht geschnitzt ist, und finde einen zweiten Hinweis: Einer der Äste weist mir den Weg. Ich erfahre bald, dass dieses Geheimnisvolle, dieses Gefühl, in einem Märchen zu sein, von Anfang an Toms Absicht war. Er wartet in einer winzigen Hütte auf mich, liegt auf dem Boden und pustet kräftig in einen Holzofen, um das Feuer zu schüren.

Tom ist ein „grüner Holzarbeiter”, der mit Handwerkzeugen frisch gefällte Bäume bearbeitet. Er sagt, dass er nur zwei große Birken (seine Lieblingsbäume) braucht, um seine Ausgaben für das Jahr zu decken. Das Grundstück hat er von einem Landgut in der schottischen Region Badenoch and Strathspey gemietet, die an der Grenze des Cairngorms-Nationalparks liegt. In den Cairngorms leben 18.000 Menschen, die das große Glück haben, den Park ihr Zuhause zu nennen. Tom nimmt diese Verantwortung nicht auf die leichte Schulter und gibt Kurse, die Menschen jeden Alters dazu ermutigen, nicht nur das Land zu respektieren, sondern auch ihre Hände zu benutzen, um Kunstwerke aus Bäumen, einer begrenzten lokalen Ressource, herzustellen.

Links: Oben:

„Wooden Tom” schlürft einen Kaffee vor seinem selbst gebauten Schuppen zwischen Kincraig und Aviemore. Hier fertigt er seine Kunstwerke und unterrichtet Besucher in der Holzbearbeitung.

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Tom verwendet frisches Birkenholz, um die filigranen Tassen zu schnitzen, die sich in seinem Holzverarbeitungsbetrieb am besten verkaufen.

bilder von Michael George

In den Cairngorms werden die Bäume mit besonderer Ehrfurcht betrachtet. Es ist noch nicht lange her, da waren sie fast ausgerottet. Ich treffe Polly Freeman, Rangerin in den Cairngorms, die seit 1993 innerhalb der Grenzen des Parks arbeitet. Polly sagt: „In der viktorianischen Zeit haben wir es zugelassen, dass die Hirschpopulationen zu groß wurden. Das Vereinigte Königreich zahlt noch heute den Preis dafür. Badenoch ist jedoch einer der wenigen Orte, an denen wieder aufgeforstet wird. Glenfeshie, ein rund 100 Quadratkilometer großes Landgut, widmet sich ganz der Aufgabe, sein Land wieder zu dem zu machen, was es einst war. Die Bäume wachsen den Berghang hinauf, anstatt in einer geraden Linie. In der Nähe des Anwesens gibt es unzählige Wanderwege, vom Wildcat Trail bis zum Badenoch Way, auf denen man tagelang gehen kann, ohne auf eine Straße zu treffen.” In Schottland gibt es so etwas nur selten. Der Wald, die Berge und die Flüsse werden renaturiert und bekommen eine andere Bestimmung.

Polly Freeman, Rangerin im Cairngorms-Nationalpark, geht mit einem Besucher ein Stück des Badenoch Way und erklärt die Geschichte der lokalen Wälder.

Foto von Michael George

Schottland hat zwar keine größeren Raubtiere mehr, eineVielzahl an anderen Wildtieren zieht es nun aber wieder in die aufgeforsteten Wälder. In Badenoch steht die schottische Wildkatze im Mittelpunkt, eine der wenigen Tierarten, die nur in Schottland vorkommen. Sie ist etwas größer als eine durchschnittliche Hauskatze, hat einen buschigen Schwanz und ein viel dickeres Fell als Hauskatzen, das sie in den kalten schottischen Wintern warm hält. In der Stadt Newtonmore befindet sich das Wildcat Centre, eine gemeinnützige Einrichtung, die sich für den Schutz der Wildkatze einsetzt. Hier erfahre ich, dass der RZSS Highland Wildlife Park Teil eines Zuchtprogramms ist, das ab 2022 jährlich 20 Wildkatzen in die freie Wildbahn entlassen will. Diese kämpferischen Zeugen einer anderen Zeit machen den Gemeinden von Badenoch Hoffnung.

Eine schottische Wildkatze, die Teil des Naturschutz- und Zuchtprogramms des RSSZ Highland Wildlife Park ist. Das Programm zielt darauf ab, ab 2022 20 Wildkatzen pro Jahr im Cairngorms-Nationalpark in die freie Wildbahn zu entlassen.

Foto von Michael George

Man muss nicht weit fahren, um die Spuren und Ruinen aus längst vergangenen Zeiten zu sehen. Die Ruthven Barracks, Überbleibsel der Reaktion auf den gescheiterten Jakobitenaufstand, die zwischen 1719 und 1721 erbaut wurden, sind monumental und unschwer am Horizont zu erkennen. Eine kurze Autofahrt östlich von Newtonmore liegt Glen Banchor, ein Gebiet von ungeahnter Schönheit, das mit verlassenen Steinbauten übersät ist. Ich werfe einen Blick durch das Fenster in eines dieser Häuser und treffe dabei auf einen Mann, der allein wandert. „Eigentlich wollte ich genau sechs Stunden unterwegs sein, aber deinetwegen habe ich jetzt vier Minuten verloren”, sagt er lachend, während er sich auf den Weg über die Hügel macht. Es dauert nicht lange, bis sein roter Rucksack am Horizont verschwindet. Polly hat recht: Das Bild von jemandem, der in der Landschaft verschwindet, hat etwas Schönes, denn ich weiß, dass diese Art von Wildnis in diesem Land eine Seltenheit ist.

Die Ruthven Barracks stehen fest an einem Abgrund in der Nähe von Kingussie. Hier können Touristen die Barracks betreten und sich in die Zeit um 1700 zurückversetzen lassen.

Foto von Michael George
Ein Wanderer begibt sich auf eine sechsstündige Wanderung durch die einzigartige Landschaft von Glen Banchor außerhalb von Newtonmore. VIDEO VON MICHAEL GEORGE

 

Die Menschen hier lieben diese Gegend – von ihrer Landschaft bis zu ihrer Geschichte. An einem Nachmittag treffe ich mich mit den Organisatoren der Storylands Sessions, Merryn Glover und Hamish Napier, einem lokalen Schriftsteller und einem Musiker. Diese Sessions fördern die Musik, bewahren die Geschichten der Region und bringen die vielen Erzählungen ans Licht, die sich durch die lokale Gemeinde ziehen. Wie Merryn erklärt, geht das Projekt auf die uralte Tradition des „cèilidh” zurück – ein gälisches Wort für eine Zusammenkunft in den Häusern der Menschen, bei der Dichter , Musiker und Geschichtenerzähler zusammenkamen, um Gedichte und Lieder auszutauschen. Bei einer der jüngsten Veranstaltungen erzählt Duncan Freshwater vom Rechtsstreit seines Vaters, den Fluss Spey befahren zu dürfen. Der Fall ging bis zum House of Lords in London und er gewann. Dort zitierte man einen Fall aus dem Jahr 1782, in dem ein öffentliches Schifffahrtsrecht auf dem Fluss Spey festgelegt wurde. Es war ein Sieg, der Hand in Hand mit Schottlands „Recht auf verantwortungsvollen Zugang” geht. Dieses Urteil trägt dazu bei, dass das Land den Ruf genießt, Abenteurern das wilde Zelten fast überall zu erlauben, solange sie verantwortungsbewusst reisen und das Land so belassen, wie sie es vorfinden. Freshwater ist zusammen mit seinen beiden Brüdern einer der Leiter des Loch Insh Outdoor Centre. Sein Nachname wirkt wie eine augenzwinkernde Verpflichtung. Das Zentrum ist ein Ort, an dem Besucher auf Segel- oder Kajaktour gehen oder einer Reihe anderer Aktivitäten auf dem Wasser nachgehen und so die Rechte nutzen können, die sein Vater geschützt hat.

Eine Gruppe von Ruderern aus dem Loch Insh Outdoor Centre in der Nähe von Kingussie fährt den Fluss Spey für einen mehrtägigen Camping-Trip hinunter. VIDEO VON MICHAEL GEORGE
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Dave Craig, ein Kanuführer, betreibt sein eigenes Tour-Unternehmen, bekannt als „Spirit of the Spey“. Dave führt seit Jahrzehnten Besucher auf dem Fluss.

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Hamish Napier und Merryn Glover, Veranstalter der Storylands Sessions, am Ufer des Loch Insh.

bilder von Michael George

Badenoch, so erzählt mir Merryn, bedeutet „ertrunkenes Land”. Wie die Wälder hat auch das Wasser eine wichtige Rolle in seiner Geschichte gespielt. Alle Städte in Badenoch, von Dalwhinnie bis Kincraig, liegen an einem Nebenfluss. Der örtliche Experte Dave Craig, der das Unternehmen „Spirit of the Spey” betreibt, nimmt seit Jahrzehnten Gruppen zu mehrtägigen Kanutouren mit und gibt unterwegs sein grenzenloses Wissen weiter. Dave trägt einen Metallkoffer im James-Bond-Stil mit sich, in dem sich eine Sammlung von Whiskyproben und eine Flasche des hiesigen Scotch befinden. „Der wahre Geist des Spey”, scherzt er, als er sich nach ein paar Stunden auf dem Wasser eine kleine Kostprobe gönnt. Dave kennt jede Flussbiegung und schätzt die Entfernung zu den Stromschnellen mit wissenschaftlicher Präzision ab. In der kurzen Zeit, die wir auf dem Wasser verbringen, erfahre ich alles – von der Geschichte der Brücken, die wir unterqueren, bis hin zum Standort des Nests eines seltenen Fischadlers.

Eine Biegung im Fluss Spey in der Nähe von Kincraig, Schottland, von oben gesehen. Die Gräser weisen auf die starke Strömung des Flusses hin. VIDEO VON MICHAEL GEORGE

 

An meinem letzten Tag in Badenoch, wird mir empfohlen, den „heiligsten Ort der Gegend” zu besuchen – ein Shinty-Feld. Jeden Tag stoße ich auf Zeichen, die auf diesen Sport hinweisen: ein Kachelmosaik am Rathaus, eine Shinty-Bar im Balavil Hotel, ein Autokennzeichen mit dem Namen. Shinty wird mit einem gebogenen Stock und einem kleinen, harten Lederball gespielt und ist in der Gegend von Badenoch schon seit jeher bekannt. Um den Einfluss des Spiels auf die heute bekannten Sportarten ranken sich viele Mythen, darunter, dass das Eishockey in Kanada schottischen Auswanderern zugeschrieben wird, die in den kalten Wintermonaten spielten. Diese Mythen werden von Einheimischen leidenschaftlich beschrieben, die auch gerne auf die historische Rivalität zwischen den Städten Kingussie und Newtonmore hinweisen. An einem Dienstagabend beobachte ich eine Mannschaft aus Kingussie beim Training. Ihr Trainer lässt es sich nicht nehmen, auf bestimmte Sportler zu zeigen und die vielen Generationen von Spielern aufzuzählen, von denen sie abstammen.

Eine Gruppe von Shinty-Spielern trifft sich an der Kingussie High School für das wöchentliche Training.

Foto von Michael George

Es sind nur etwa 40 Autominuten von einem Ende Badenochs zum anderen, aber meine vier Tage dort reichen trotzdem nicht aus, um alles zu sehen. Badenoch ist ein kleiner, aber mächtiger Teil des Cairngorms-Nationalparks, der reich an Geschichte ist und sich seinen Weg zurück ins Gleichgewicht mit der ihn umgebenden Landschaft erkämpft hat. Rangerin Polly weist darauf hin: „Die Cairngorms haben nicht den höchsten Berg Schottlands, aber wir haben den zweit-, dritt-, viert- und fünfthöchsten Berg.” Es gibt Wanderwege, die man über Wochen erwandern kann, und die Gemeinschaft ist so engmaschig, dass ich schon nach wenigen Tagen in den Cafés den Leuten zuwinke, als wäre ich der neueste Bewohner. Für Reisende gibt es keinen besseren Weg, sich mit dem Land zu verbinden, als in die offenen Arme der Menschen zu laufen.

 

Klicken Sie hier, um weitere Informationen zum Besuch von Badenoch und dem Cairngorms-Nationalpark zu erhalten. Top-Tipp: Der Park ist leicht mit dem Zug zu erreichen. Wenn Sie etwas Neues ausprobieren wollen, machen Sie eine E-Bike-Safari.

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