Asturien: Geheimnisse eines mittelalterlichen Königreichs

Antik und unentdeckt: Die aufregende Landschaft Asturiens reicht weit hinein in Küsten- und Berghöhlen mit jahrtausendealten Geheimnissen der Mythologie, Geschichte und Kochkunst.

Von Stephen Phelan
Veröffentlicht am 17. Aug. 2022, 17:41 MESZ
Asturien: Geheimnisse eines mittelalterlichen Königreichs
In Asturiens vernebelten Berglandschaften sollen schlangenartige Wesen leben, so erzählt man sich. Zum Beispiel Cuélebre, ein mythischer geflügelter Drache. Der Weg zu ihm führt durch historisch geprägte Landschaften.

In den Bergen Asturiens ist die Grenze zwischen Himmel und Erde steinig und scharf. Manchmal wirkt sie allerdings auch zerbrechlich dünn und erscheint in Nebel gehüllt. So überrascht es nicht, dass Legenden in dieser Landschaft mit ihren hoch aufragenden Bergmassiven, tiefen Abgründen und wirbelnden Wolkengebilden mythische Ungeheuer wie den Cuélebre zum Leben erweckt haben. Die drachenähnliche Kreatur der spanischen Volksmärchen haust laut den Sagen in den Karstklüften und bewacht Schätze, die tief im Kalkstein versteckt liegen. Sei sie hungrig, stürze sie sich auf das Vieh der Bauern – oder auf gelegentlich vorbeiziehende Jäger, Hirten, Jungfrauen oder Mönche.

Das Revier des mythischen Schlangenwesens erstreckt sich über die Gebirgskämme der Picos de Europa und umschließt mehrere UNESCO-geschützte Biosphären. So zum Beispiel Muniellos: den größten Eichenwald Spaniens. Zwischen den Bäumen leben Wildschweine und Wölfe – und der Kantabrische Braunbär, dessen Population sich gerade vom drohenden Aussterben erholt. Ein Wesen, fast so mythisch wie das des Cuélebre. „Das Gefühl, einen Bären zu sehen, ist schwer zu beschreiben“, sagt José Tuñon, Leiter der gemeinnützigen Naturschutzorganisation Fundación Oso de Asturias. „Es ist eine Mischung aus Nervenkitzel, Abenteuer und Freude...“

Ob mit oder ohne Reisebegleitung: Die Wanderwege entlang der Täler um Sotres, das höchste Dorf Asturiens, bieten eine sagenhafte Aussicht auf die Gebirgskämme der Picos de Europa. 

Foto von Matthieu Paley

Ganz so unwahrscheinlich ist das Sichten eines Braunbärs allerdings nicht mehr: Die Zahl der Tiere ist von weniger als 75 in den frühen 1990er Jahren mittlerweile auf schätzungsweise 350 gestiegen. Laut Tuñon ist Muniellos ein idealer Futterplatz, um „Körperfett aufzubauen, bevor der Winterschlaf beginnt“. Die Bären fühlen sich in den abgeschiedenen, unberührten Landschaften Asturiens am wohlsten.

Mit geführten Touren können auch Besucherinnen und Besucher tief in die Wildnis dieser ruhigen Ecke des „Grünen Spaniens“ gelangen. Wer die Iberische Halbinsel nur für staubige Ebenen mit mediterranen Stränden hält, für den könnte Asturien wie ein völlig anderes Land wirken. Beim Wandern oder Radfahren warten schattige Wälder und grasbewachsene Weideflächen, steile Felswände und klare Gletschergewässer darauf, entdeckt zu werden.

Wanderinnen und Wanderer können zwischen zwei Routen entlang des mittelalterlichen Jakobswegs wählen: dem Camino del Norte, einem Küstenweg, oder dem älteren und schwierigeren Camino Primitivo, der ursprünglichen Route durch die Täler des Inlands. Radfahrende finden ihr Glück auf der fast hundert Jahre alten Route des Straßenradrennens La Vuelta, welche an Seeufern und Aussichtspunkten um Covadonga entlangführt.

Auf den Spuren prähistorischer Kreaturen am Playa de la Griega an Asturiens „Dinosaurier Küste“.

Foto von Matthieu Paley

Unter der Oberfläche verbirgt sich Gold – und im Römischen Reich wurden Berge versetzt, um dort heranzukommen. Wie sich die Hügel von Navelgas durch antiken Bergbau verändert haben, können sich Reisende heute neben der Ausgrabungsstätte im Hochland von Chao Samartín anschauen. Dort funktionierten die Römer bronzezeitliche Festungen um, damit sie ihre Beute lagern konnten. Die Sage des Cuélebre mag in puncto Schätze, die es zu beschützen gilt, also einen Funken Wahrheit besitzen.

Vielleicht ist die mythische Kreatur sogar auch mit den Dinosauriern verwandt, von denen Fossilien und Fußabdrücke entlang der „Dinosaurier Küste“ zwischen Gijon/Xixón und Ribadesella/Ribeseya gefunden wurden. Nebenan, in der nahegelegenen Tito de Bustillo Höhle, befinden sich außerdem antike, 35.000 Jahre alte Zeichnungen von Menschen, eiszeitlichen Säugetieren und sogar einem Wal. Laut Rodrigo de Balbín-Behrmann, Professor für Urgeschichte, könnten diese Zeichnungen von den frühesten Homo sapiens oder Verwandten der Neandertaler gemalt worden sein.

„Von wem genau, das ist noch offen“, erklärt er. Auch die Bedeutung der Motive ist nicht geklärt, für ihn bergen sie spannende Geheimnisse: Möglicherweise dienten sie religiösen Zwecken, allerdings will er nicht zu viel interpretieren. „Wir befinden uns im Zeitalter von Menschen, die imstande waren, Dinge zu abstrahieren und Formen zu erschaffen, die wir immer noch nicht vollständig verstehen“, sagt Balbín-Behrmann. 

Aber auch andere Schätze lagern in den Höhlen von Asturien. Cabrales zum Beispiel – ein würziger, senfartiger Blauschimmelkäse. Benannt ist er nach der Berggemeinde, in welcher er in tiefen, dunklen Kalksteinhöhlen reift. Óscar Díaz Bada von der Käserei Ángel Díaz Herrero stellt eine preisgekrönte Sorte namens Los Mazos her, die auf dem Rezept seiner Großeltern basiert. Kuh-, Schafs- und Ziegenmilch werden dafür gemischt, erwärmt, geronnen und gesalzen. Im Anschluss reift der Käse in einer Höhle in über 1.500 Metern Höhe bei einer optimalen Temperatur von 6,5 bis 7,5 Grad Celsius. „Es funktioniert wie Kochen bei niedriger Hitze. Alles geht langsamer, aber der Geschmack und die Konsistenz sind besser“, sagt Díaz Bada.

Díaz Badas Großmutter warnte ihn als Kind auch vor dem Cuélebre. „Ich glaube, diese Geschichte war ein Mittel, um Kinder von Orten fernzuhalten, an denen sie tief fallen könnten – an Abhängen zum Beispiel. In den alten Geschichten wird das Ungeheuer oft mit reichlichen Gaben an Milchprodukten und frischem Fleisch besänftigt. Daran ist auch etwas Wahres: Die Asturier lieben ihr Essen und verleihen dadurch ihrer regionalen Küche eine ganz eigene Kraft und Tiefe – außerdem neigen sie zu außerordentlich großzügigen Portionen.“

Der asturische Käsemacher Pablo Asiegu beim Besuch einer Höhle, in welcher der berühmte Cabrales Käse gelagert wird. Die Milch, die für die Herstellung von Cabrales verwendet wird, darf ausschließlich von Herden stammen, die in einem kleinen Anbaugebiet in den Bergen der Picos de Europa gehalten werden. 

Foto von Matthieu Paley

Nach einer langen Wanderung kehrt man im Idealfall mit großem Hunger in einer Sidrería oder einem Apfelweinhaus ein. In diesen Tavernen werden typische Gerichte wie fabada asturiana serviert: ein reichhaltiger, deftiger Eintopf mit Chorizo, Schweineschulter und Blutwurst mit weißen granja-Bohnen. Der Apfelwein ist ebenfalls ein regionales Highlight: Er wird süß oder naturbelassen serviert und in einem sozialen Ritual aus einer gewissen Höhe ins Glas gegossen. Der Wein wird in geselligen Runden getrunken – sowohl in winzigen ländlichen Kneipen und Fischrestaurants am Meer in Llanes als auch in den großen Bars in Oviedo/Uviéu – der Hauptstadt – oder Gijón/Xixón, der größten Stadt Asturiens.

Laut der Legende hat es einen Cuélebre in Oviedo gegeben, gleich hinter dem Kloster Santo Domingo. Es ist eine der vielen beeindruckenden gotischen, barocken und vorromanischen Kirchen in Asturien – eines der frühesten christlichen Königreiche des Mittelalters. Die Kreatur fraß die Bewohner, bis ein schlauer Klosterkoch eines Tages anfing, sie mit Brot zu füttern, das mit Nadeln und Nägeln versehen war. Das tötete das Ungeheuer. Dieser Sieg wird bis heute jedes Jahr Mitte Juni gebührend gefeiert: mit dem Fest von San Juan/San Xuan. Einheimische legen sich ins Zeug für ihr größtes religiöses Fest. Mit Lagerfeuern, Tänzen und Aufführungen von Legenden und Sagen wird damit in Asturien auch der Beginn des Sommers eingeläutet. Zu dieser Zeit, sagt man, sei der Cuélebre am schwächsten, da Asturien hell leuchtet und sich die Mächte der Finsternis zurückziehen.

Hier gibt es weitere spanische Legenden zu entdecken.

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