Das Grab im Eis: Auf der Spur von Erebus und Terror

Ein National Geographic-Team folgte der Route, die John Franklin mit den Schiffen Erebus und Terror auf der Suche nach der Nordwestpassage genommen hatte. Spuren der verschollenen Männer finden sich bis heute. Doch die Arktis wahrt ihre Geheimnisse.

Von Mark Synnott
Veröffentlicht am 31. Juli 2023, 10:56 MESZ
Nordwestpassage Eis

„Ich hatte Angst, dass eine Scholle den Rumpf aufreißt oder dass wir gegen Felsen gedrückt werden“, sagt Synnott. „Aber auch, dass die ganze Bucht zufriert und wir genau wie Franklin festsitzen.“

Foto von Renan Ozturk

Wo war der Eisbär? Jacob Keanik ließ sein Fernglas über das Eisfeld wandern, das unser Segelboot umgab. Er hielt Ausschau nach dem Tier, das uns während der letzten 24 Stunden gefolgt war. Alles, was er sehen konnte, war ein Teppich aus blau-grünem Packeis, der sich bis zum Horizont erstreckte. „Der Winter naht“, murmelte er. Jacob hatte nie „Game of Thrones“ gesehen und keine Ahnung, dass dieser Satz in der Fantasy-Serie die bedrohlichen Horden von Eiszombies ankündigt. Für uns war die Gefahr durch diese realen „Eis-Horden“ nicht geringer. Hier, in der abgelegenen Pasley Bay, tief in der kanadischen Arktis, würde der Winter Eismassen bringen, die mit Leichtigkeit Boote zerquetschten – auch unseres, wenn wir nicht bald einen Weg hinaus fanden. Es war Ende August, und wir hatten uns vor einem heftigen Sturm in diese Bucht geflüchtet. Mehr als eine Woche lang hatte der Wind mächtige Eisbrocken von der Polkappe herangetrieben.

Dieses schwimmende Mosaik trieb jetzt um unser Boot, jede Scholle ein Torpedo, der unseren Fiberglasrumpf durchbohren konnte. So hielten wir rund um die Uhr abwechselnd Wache, um mit langen Holzstangen stetig das Eis vom Schiff wegzuschieben. Aus einem Tag wurden zwei, aus zweien drei, und das Eis zog sich allmählich wie ein Schraubstock zusammen. Als wir am neunten Tag aufwachten und das Wasser zwischen den Schollen gefroren war, schien sicher, dass wir den Winter über hier festsitzen würden. Wäre unsere Lage nicht so prekär gewesen, dann hätte die Ironie der Situation fast witzig sein können.

Das Schicksal der Crew: Raum für 170 Jahre blühender Spekulationen

Mehr als zwei Monate zuvor hatten wir mit einer fünfköpfigen Mannschaft auf meinem Segelboot Polar Sun Maine an der Ostküste der USA verlassen, um der Route des legendären Entdeckers Sir John Franklin zu folgen. Im Mai 1845 hatte er sich von England aus auf die Suche nach der vielbeschworenen Nordwestpassage gemacht. Der Seeweg um die eisige Spitze Nordamerikas sollte eine neue Handelsroute in den Fernen Osten eröffnen. Doch Franklins zwei Schiffe Erebus und Terror mit 128 Mann Besatzung verschwanden spurlos, tief in der Arktis vom Eis eingeschlossen. Es gab keine Überlebenden, die hätten berichten können, was genau passiert war; nie wurde ein detailliertes schriftliches Zeugnis über ihr Martyrium gefunden. Das gab den Anstoß zu mehr als 170 Jahren blühender Spekulationen. Und es brachte Generationen von „Franklinianern“ hervor, die regelrecht besessen davon waren zu rekonstruieren, wie mehr als 100 britische Seeleute versucht hatten, einer der lebensfeindlichsten Regionen der Erde zu entkommen.

Im Laufe der Jahre war auch ich zum Franklinianer geworden. Ich verschlang alle Bücher, die ich zum Thema finden konnte, und rätselte über die vielen offenen Fragen: Wo lag Franklin begraben? Wo waren seine Logbücher geblieben? Hatten die Inuit versucht, der Besatzung zu helfen? So fasste ich schließlich den Plan, die Polar Sun so umzurüsten, dass ich in denselben Gewässern wie die Erebus und die Terror segeln und in denselben Häfen ankern konnte. Natürlich hoffte ich auch, die Reise, die Franklin zum Verhängnis geworden war, erfolgreich zu Ende zu bringen: vom Atlantik aus in das Labyrinth von Meerengen und Buchten vorzudringen, die die Nordwestpassage bilden, und auf der anderen Seite des Kontinents, an der Küste Alaskas, wieder herauszukommen.

Und jetzt, nach fast 3000 Seemeilen, also etwa der Hälfte der Strecke, war mein Wunsch, in das Franklin-Mysterium einzutauchen, ein wenig zu real geworden. Wenn die Polar Sun im Eis eingeschlossen würde, könnte ich sie verlieren. Und selbst wenn wir es irgendwie sicher an Land schafften – trotz des Eisbärs –, könnte eine Bergung hier schwierig werden. Für Franklin war sie seinerzeit schlicht keine Option.

Devon Island, die größte unbewohnte Insel der Erde. Die Franklin-Expedition verbrachte 1845/46 ihren ersten Winter in einem Camp auf der winzigen Nachbarinsel Beechey Island (im Hintergrund), ehe sie sich tiefer in die Nordwestpassage vorwagte.

Foto von Renan Ozturk

​Hoffnungsloser Marsch durch die Eiswüste

Der britischen Version der Geschichte zufolge waren die Erebus und die Terror zuletzt im Juli 1845 von Walfängern vor der grönländischen Küste gesichtet worden; danach hörte man nie wieder von ihnen. Ein entscheidender Hinweis tauchte 14 Jahre später auf: Eine von Franklins Witwe finanzierte private Expedition entdeckte 1859 an einem Ort namens Victory Point an der Nordspitze von King William Island eine Botschaft in einem Metallzylinder. Die Victory-Point-Nachricht ist der bedeutendste schriftliche Bericht vom weiteren Verlauf der Franklin-Expedition. Das Dokument enthält zwei separate Einträge. Der erste, datiert vom Mai 1847, besagt, die beiden Schiffe seien acht Monate zuvor 15 Seemeilen nordwestlich von King William Island vom Eis eingeschlossen worden. Er endet mit: „Sir John Franklin kommandiert die Expedition. Alles ist gut.“

Der zweite Eintrag wurde ein knappes Jahr später angefügt. Demnach wurden die Schiffe im April 1848 aufgegeben. Die Besatzung hatte 15 Matrosen und neun Offiziere verloren, darunter Franklin, der zwei Wochen nach Verfassen der ersten Notiz verstorben war. Am Ende heißt es, die noch lebenden Besatzungsmitglieder, nun unter dem Kommando von Francis Rawdon Crozier, beabsichtigten, zu Fuß die Mündung des südlich gelegenen Back River und von dort aus den nächstgelegenen Außenposten der Hudson’s Bay Company zu erreichen – eine fast 1000 Kilometer weite Strecke.

Sofern aus der verzweifelten Notiz die leiseste Hoffnung herausklang, dann die, dass Crozier ein höchst erfahrener Polarforscher war. Er hatte bereits eine Expedition erlebt, die im Eis festgesessen hatte, und einige Zeit bei den Inuit verbracht, die ihm den Namen Aglooka (Langer Läufer) gegeben hatten. Doch in London hatte man eine eigene Sicht der Dinge. 1854 war ein anderer Bericht aufgetaucht. John Rae, ein schottischer Pelzhändler und Entdecker, erzählte von einer Begegnung mit dem Inuit In-nook-poo-zhe-jook, demzufolge eine Gruppe von 35 oder 40 Koblunas (weiße Männer) einige Jahre zuvor in der Nähe der Mündung eines großen Flusses verhungert war.

BELIEBT

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    Synnott besucht die Gräber von drei Mitgliedern der Franklin-Expedition, die im Winter 1845/46 auf Beechey Island ums Leben kamen.

    Foto von Renan Ozturk

    ​Machte sich Kannibalismus in der Mannschaft breit?

    Die Inuit zeigten Rae mehrere Dutzend Objekte, die sie an der Stelle gesammelt hatten, darunter eine Medaille, die Franklin 1836 erhalten hatte. Und In-nook-poo-zhe-jook beschrieb auch ein Lager mit grausigen Spuren: verstümmelte Leichname und Körperteile, die noch in den Kesseln lagen, in denen sie gekocht worden waren. Als Rae diese Geschichte erzählte, sträubte sich die britische Öffentlichkeit zu glauben, dass die Mannschaft Kannibalismus praktiziert hatte. Stattdessen setzte sich die Überzeugung durch, es seien Inuit gewesen, die Franklin und seine Männer getötet hatten – nicht Naturgewalten, mangelhafte Vorbereitung der Besatzung oder schlichtweg Pech.

    Und so blieben bei den meisten späteren Rekonstruktionen der Endphase der Expedition die umfangreichen mündlichen Zeugnisse der Inuit unberücksichtigt. Sie hätten eine deutlich andere Geschichte erzählt. Als 2014 und 2016 die gesunkenen Wracks der Erebus und der Terror entdeckt wurden, konzentrierten sich die meisten Franklinianer auf das, was Archäologen daraus bergen würden. Doch ich hatte von einem Mann gehört, der im hintersten Winkel der kanadischen Northwest Territories lebte und weiterhin nach dem suchte, was er für den Heiligen Gral des Mysteriums hielt: das Grab von Sir John Franklin.

    Das NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 8/23 ist seit dem 28. Juli im Handel erhältlich.

    Foto von National Geographic

    Die ganze Geschichte über den Verbleib der Überreste von Sir John Franklin und seiner Crew lesen Sie im NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 8/23. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis! 

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