Die Kanaren: Acht irdische Paradiese – und die Legende eines Neunten

Jede der Kanarischen Inseln ist eine Welt für sich, mit ihrer ganz eigenen Landschaft, Tierwelt und Kultur. Doch einige natürliche und menschengemachte Besonderheiten ziehen sich durch den ganzen Archipel – wie das Gerücht über eine weitere, unentdeckte I

Von Stephen Phelan
Veröffentlicht am 25. Okt. 2023, 17:46 MESZ
Der Fotograf Matthieu Paley bereist die acht Kanarischen Inseln auf der Suche nach einer mysteriösen neunten Insel, die ebenso geisterhaft auftaucht, wie sie wieder verschwindet.

Die alten Griechen sehnten sich stets gen Westen. Homer und Platon beschworen rhetorische Visionen eines mythischen Paradieses oder einer verlorenen Zivilisation am Rande der bekannten Welt herauf. Sie vermuteten die elysischen Felder des Jenseits oder den versunkenen Kontinent Atlantis dort, wo wir heute Makaronesien sehen: eine Reihe vulkanischer Inselgruppen vor der Nordwestküste Afrikas, zu denen die Azoren, die Kapverden, Madeira und die Ilhas Selvagens gehören – aber auch die Kanaren.

Von den acht bewohnten Kanarischen Inseln, den vier kleineren Eilanden sowie verschiedenen felsigen Erhebungen hat jede ihre eigene Naturgeschichte. Fuerteventura zum Beispiel hat sich vor 20 Millionen Jahren aus dem Meer erhoben, während La Palma mit nur 1,7 Millionen Jahren vergleichsweise jung ist (und durch sporadische Eruptionen immer noch wächst). Alle Kanarischen Inseln gehören seit mehr als einem halben Jahrtausend zu Spanien. Das Wetter ist auf dem gesamten Archipel beständig warm und mild. Doch während alle Inseln viele biogeografische Gemeinsamkeiten teilen, gibt es auch einige Merkmale, die nur auf wenigen oder nur auf einer dieser Inseln zu finden sind.

Der kanarische Biologe Dr. Antonio Machado zählt eine eindrucksvolle Liste von Flora und Fauna aus etwa 3.600 Tierarten und 500 einheimischen Pflanzen auf: „Der Drachenbaum, die Kanaren-Glockenblume, der Teidefink, die La-Gomera-Rieseneidechse ...“ Mehrere dieser Arten sind vom Aussterben bedroht, ebenso wie andere der Vögel, Reptilien, Fische und Säugetiere der Inseln.

„Das hier ist ein empfindliches Gebiet mit einer einzigartigen Artenvielfalt“, erklärt Dr. Machado. Er hat einen Großteil seiner beruflichen Laufbahn damit verbracht, diese Landschaft  zu schützen. Nationalparks und Naturschutzgebiete machen inzwischen mehr als 50 Prozent der Kanarischen Inseln aus. Die Naturschützer können inmitten ihrer ständigen Sorgen auch viele hart erkämpfte Erfolge vermelden – darunter die Wiederaufforstung uralter Lorbeerwälder und die Wiederansiedlung von vom Aussterben bedrohter Arten.

Der Fall des Cochino Negro, des schwarzen kanarischen Schweins, signalisiert eine Art kulturelles Wiederaufleben. Jahrhundertelang war sein Fleisch ein Grundnahrungsmittel, doch dann verschwand die Art zunehmend. Erst eine jüngst erfolgte Renaissance in der traditionellen Landwirtschaft und Gastronomie brachte die Rasse wieder auf die Höfe und damit auf die Speisekarten. Volksfeste, Tänze und Sportarten (Ringen, Steinheben, eine traditionelle Form des Stabsprungs namens Hirtensprung) zeugen ebenfalls von einem lebhaften Erbe: Vieles davon leitet sich aus den Bräuchen der indigenen Guanches, der Kolonialspanier, oder späterer amerikanischer Einwanderer ab.

Eine besondere Geschichte wird seit jeher auf allen acht Kanarischen Inseln erzählt: die Legende von einer neunten Insel. Die „Geisterinsel“ San Borondón oder Sankt-Brendan-Insel ist auf früheren Seekarten oft noch verzeichnet. Sie wurde nach dem sagenumwobenen irischen Mönch Brendan dem Reisenden benannt. Als er im 6. Jahrhundert das Christentum über die Meere verbreitete, soll er von einem riesigen Fisch zu einer Art Himmel auf Erden am äußersten Rand dieses Archipels geführt worden sein. Als gebürtiger Tinerfeño, wie die Einwohner Teneriffas genannt werden, der seine Ahnenlinie bis zur spanischen Eroberung zurückverfolgen kann, ist Dr. Machado mit solchen Geschichten bestens vertraut.

Und als Mann der Wissenschaft ist er nicht geneigt, den gelegentlichen wilden Aussagen örtlicher Fischer Glauben zu schenken, die schwören, die Sankt-Brendan-Insel wie ein Geisterschiff im Nebel erscheinen und verschwinden gesehen zu haben.

„Wolken am Horizont westlich von El Hierro mögen in der Morgendämmerung wie eine Insel aussehen“, meint er. Aber El Hierro selbst ist ihm weitaus fremder und wundersamer als jedes Hirngespinst der Fischer, so wie es alle Kanarischen Inseln auf ihre ganz eigene Weise sind. Dr. Machado zeichnet ein lebendiges Bild von der Vielfalt, die einem Reisenden heute begegnen kann, wenn er alle acht Inseln nacheinander ansteuert.

„Die älteren Inseln wie Lanzarote sind ausgewaschen und abgeflacht, ähnlich wie afrikanische Wüstenlandschaften. Teneriffa erhebt sich bis zu einer Höhe von 3.715 Metern. Im Winter ist die Bergkuppe von Schnee gekrönt und bietet Lorbeerwäldern, großen Kiefernwäldern und vielen anderen Pflanzen Lebensräume. Gran Canarias dramatische Geologie kann man wie ein offenes Buch lesen.“ Oder um es kurz zu machen: Jede Insel ist auf ihre Art ein irdisches Paradies.

Teneriffa

Die größte und bevölkerungsreichste der Kanarischen Inseln ist auch die meistbesuchte. Sie lockt mit gelben und schwarzen Sandstränden sowie zehn Michelin-gekrönten Restaurants in Luxushotels und restaurierten Kolonialgebäuden. Aber auch im Landesinneren ist die Insel auf eine ruhige Art spektakulär – angefangen bei Wäldern und Ackerland bis hinauf zum schneebedeckten, sternklaren Gipfel des Teide. Der mächtigste Vulkan des gesamten Archipels wirft seinen langen Schatten auf das Meer und liefert damit einen möglichen Ursprung für die Legende der Sankt-Brendan-Insel.   

Im Landesinneren von Teneriffa bieten die natürlichen Landschaften spektakuläre Anblicke, von Wäldern und Ackerflächen bis hin zu kühlen Berggipfeln. 

Foto von Matthieu Paley

Gran Canaria

Auf dieser Insel, die bei Badegästen sehr beliebt ist, trifft dunkles Vulkangestein auf weißen Sand und strahlend blaues Wasser. Fast 60 Kilometer lange Strände flankieren große Ferienorte und charmante Küstenstädte wie den Hafen von Mogán. Gran Canaria ist eine lebendige Insel mit Handel, Musik und einer florierenden gastronomischen Kultur. In den versteckten Winkeln ihrer dynamischen Topografie lassen sich einige ihrer schönsten Naturwunder entdecken. Vulkanische Felsen, tiefe Höhlen, hoch aufragende Dünen, uralte Kiefern und sanfte grüne Hügel bilden fast schon einen kleinen „Miniaturkontinent“.

BELIEBT

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    Die hoch aufragenden Dünen von Maspalomas sind einer von zahlreichen erdgeschichtlichen Naturschauplätzen auf Gran Canaria.

    Foto von Matthieu Paley

    Lanzarote

    Die von der UNESCO geschützte Biosphäre von Lanzarote, die gern mit Mondkratern oder rotstaubigen Mars-Canyons verglichen wird, drängt die meisten menschlichen Aktivitäten an den Rand der Insel: in die geschäftigen Häfen und lebhaften Küstenorte. Das schaurig-schöne Landesinnere lockt zunehmend Wanderer und Radfahrer in die unwirklichen Gebirgsmassive und Ebenen, in die Vulkanlandschaften mit ihren Hügeln und Tunneln, in die gewaltige Wüste El Jable und die Lavafelder der Caldera Blanca. Sportliche Großereignisse wie der vom Club La Santa veranstaltete Ironman sind hier besonders attraktiv, da sie durch eine Traumlandschaft führen.

    Der vulkanische Boden von Lanzarote eignet sich hervorragend für den Weinanbau. Die köstlichen lokalen Sorten kann man hier, inmitten der fremdartigen Landschaft, probieren. 

    Foto von Matthieu Paley

    Fuerteventura

    Die älteste Kanareninsel erhob sich im Miozän aus dem Meer und wurde jahrtausendelang von starken Winden geformt. Sie peitschten Sanddünen in Corralejo zu sanft aufragenden Gipfeln auf und schliffen die ockerfarbenen Hügel mit ihren umherstreifenden Ziegen und einsamen Windmühlen ab. Die Bedingungen an den goldenen Stränden sind optimal für Wassersportarten wie Surfen, während die Nebenstraßen zu abgelegenen Aussichtspunkten, Einsiedeleien und versteckten Buchten führen oder sich durch Schutzgebiete für Vögel und Meeresschildkröten schlängeln.

    Fuerteventuras felsige, wilde und goldene Sandstrände bieten sowohl für Wassersportler als auch für Freunde des entspannteren Zeitvertreibs ideale Bedingungen. 

    Foto von Matthieu Paley

    La Palma 

    Viele ältere Häfen auf den Kanarischen Inseln haben sich das Flair der Kolonialzeit bewahrt – aber keiner so sehr wie Santa Cruz de la Palma. Holzverkleidete Häuser ragen auf einer Welle aus fester Lava über dem Hafen auf. Derweil zeugen der lateinamerikanische Karneval und handgedrehte Zigarren von einer langen Geschichte als Schifffahrtsknotenpunkt zwischen der Alten und Neuen Welt. In den wilderen Teilen der Insel wie dem Nationalpark Caldera de Taburiente lassen sich aktive Vulkane, überwucherte Schluchten und schwindelerregende Wasserfälle entdecken.

    La Palma hat sich die Farben und Aromen der Kolonialzeit auf spektakuläre Weise bewahrt, insbesondere in der Hafenstadt Santa Cruz de la Palma.

    Foto von ISLAS CANARIAS

    El Hierro

    El Hierro galt einst als die Insel am westlichen Rande der bekannten Welt – daher wurde sie von frühen Kartografen als Durchlaufpunkt für den Nullmeridian festgelegt. Der Meridian verlief durch den berühmten einsamen Leuchtturm von Punta de la Orchilla und entlang einer der vielen Steilküsten, die abrupt in tiefe Gewässer abfallen. Heute sind diese für ihre erstklassigen Tauchplätze bekannt. In den vulkanischen Wasserbecken und den dichten Lorbeerwäldern herrscht eine beinahe urzeitliche Atmosphäre – vor allem dort, wo sich der Legende nach Hexen zu rituellen Tänzen versammeln.

    Vulkanische Becken und dichte, abgeschiedene Wälder unterstreichen die urzeitliche Atmosphäre auf El Hierro.

    Foto von ISLAS CANARIAS

    La Gomera 

    La Gomera ist eine der kleinsten, wildesten und am wenigsten besuchten Kanarischen Inseln. Ihre Landschaft erstreckt sich von Stränden und Palmenhainen bis hin zu Nebelwäldern und vulkanischen Höhlen, in denen alte Opferaltäre stehen. Mit nur wenigen Straßen und vielen Wanderwegen ist diese spärlich besiedelte Insel noch immer ein lebendiges Zeugnis ihrer fernen vorchristlichen Vergangenheit. Besonders deutlich wird das in der einheimischen „Pfeifsprache“ Silbo Gomero. Sie wird seit Generationen von den Hirten verwendet, um sich über die tiefen Tälern hinweg zu verständigen. Auch heute noch wird sie von vielen Dorfbewohnern genutzt. Die UNESCO hat sie als immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt.

    Wer durch die nebelverhangenen Wälder La Gomeras schreitet, hört vielleicht die uralte Pfeifsprache der Insel in den grünen Tälern widerhallen.

    Foto von Matthieu Paley

    La Graciosa 

    Die jüngste der offiziellen Kanareninseln wurde erst 2018 als solche anerkannt. Zuvor gehörte sie als vorgelagertes Eiland zu Lanzarote. Sie ist einer der letzten Außenposten Europas – ohne asphaltierte Straßen, weitgehend unentdeckt und unberührt, mit naturbelassenen Sandstränden wie Playa de las Conchas. Ein paar weiß getünchte Häuser und Sommerresidenzen liegen verstreut zwischen tiefblauen Unterwasserhöhlen und terrakottafarbenen Vulkangebirgen, wo es weit mehr einheimische Arten von Vögeln, Fischen und Eidechsen als Menschen gibt.

    Wer Abgeschiedenheit sucht, ist auf La Graciosa genau richtig. Dort sind Reisende inmitten der nahezu unberührten Schönheit der spärlich besiedelten Insel fast allein.

    Foto von ISLAS CANARIAS
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