Gran Canaria: Uralte Sagen unter den Sternen

Gran Canaria ist berühmt für seine Strände, Speisen und Feste. Mindestens genauso spannend sind die alten Geschichten der kanarischen Insel, deren Spuren man überall verfolgen kann: von den tiefsten Höhlen bis hoch zum Sternenhimmel.

Von Stephen Phelan
Veröffentlicht am 25. Okt. 2023, 17:54 MESZ
Der Fotograf Matthieu Paley taucht in die facettenreiche Geschichte Gran Canarias ein.

Heute wie vor 2.000 Jahren: Von einem einsamen Gipfel auf Gran Canaria offenbart der Nachthimmel immer noch denselben Sternenwirbel, der sich schon in den Augen der ersten Inselbewohner spiegelte. Die Altkanarier, wie sie heutzutage auf der Insel genannt werden, waren vermutlich Kolonisten, Gefangene oder Vertriebene der alten Berberstämme Nordafrikas. In ihrer ureigenen Isolation woben sie aus den kosmischen Bildern über ihren Köpfen ihre Schöpfungsmythen.

Aus Sonne, Mond und Himmel machten sie Gottheiten, und sie beschworen sogar Teufel aus der vulkanischen Erde unter ihren Füßen. Dämonenhunde, Tibicenas genannt, hausten angeblich in hochgelegenen Höhlen und Kratern, die als Tore zur Unterwelt angesehen wurden. Nach Einbruch der Dunkelheit stiegen sie herauf, um im klaren Licht der Sterne Jagd auf Vieh oder glücklose Hirten zu machen, so die Sage.

Die besondere Qualität des Lichts und die gläserne Transparenz der Dunkelheit sind noch Jahrtausende später weitgehend ungetrübt – lange nachdem die Götter und Monster der Ureinwohner durch den katholischen Glauben der Eroberer vom spanischen Festland weitgehend besiegt wurden. Das heutige Gran Canaria ist ein Weltklasse-Reiseziel für die Sternenbeobachtung und wurde 2018 sogar von der UNESCO offiziell dafür ausgezeichnet.

Atemberaubende Felsformationen wie der Roque Bentayga bieten den perfekten Aussichtspunkt, um Sterne zu beobachten.

Foto von Matthieu Paley

Einen Beitrag zu dieser Besonderheit leistet die Lage der Insel auf dem 28. Breitengrad, erklärt Gauthier Dubois. Der Astronom ist gebürtiger Franzose, lebt und arbeitet hier aber bereits seit Jahrzehnten. So nahe am Äquator und so weit von den Polen entfernt drehen sich die Sterne mit den Jahreszeiten und lassen „das gesamte Himmelsgewölbe“ über uns erstrahlen. Dass es keinerlei Lichtverschmutzung gibt, trägt laut Gauthier zu diesem Glanz bei.

Die elektrische Beleuchtung beschränkt sich auf Gran Canaria größtenteils auf die geschäftige nordöstliche Ecke der Insel, rund um die Hauptstadt Las Palmas. Die vorherrschenden Passatwinde wehen in diese Richtung und formen lokal ein niedrig hängendes Wolkengebilde. Es ist als „Eselsbauch“ bekannt und gibt die feuchte Luft als „horizontalen Regen“ ab. Dadurch bleibt der Himmel über den Bergen im Landesinneren und im weniger besiedelten Süden meist klar. Genau dort bietet Gauthier mit seinem Unternehmen AstroGC mobile Astronomie-Workshops an – an optimalen Standorten. „Wenn das Mondlicht nicht so stark ist, können wir mit bloßem Auge Objekte im tiefen Raum sehen, beispielsweise die Andromeda-Galaxie, Herkules oder Omega Centauri.“

Mit seinen vier leistungsstarken Teleskopen – von denen er eines sogar selbst gebaut hat – kann er seinen Kunden auch weit entfernte Nebel, Doppelsternhaufen und Spiralgalaxien in mehr als 30.000 Lichtjahren Entfernung zeigen. Im Idealfall bekommen sie so „das Gefühl, dass wir durch unsere Galaxie navigieren, buchstäblich umgeben von Tausenden von Sternen“. Im März und April ist Canopus, der zweithellste Stern am Nachthimmel, besonders gut über Gran Canaria zu sehen.

Seine Umlaufbahn zu verfolgen, weckt in Gauthier ein Gefühl der Demut, aber auch einen Forschergeist, der ihn den vorspanischen Siedlern näherbringt. „Wer sind wir? Warum sind wir hier? In welcher Beziehung stehen wir zum Universum? Zweifellos haben sich die Altkanarier diese Fragen ebenfalls gestellt“, sagt er. „Obwohl sie nicht über die Mittel verfügten, die uns heute zur Verfügung stehen, waren sie in der Lage, Karten des Himmels zu zeichnen, die ich wirklich erstaunlich finde.“

Die Beweise dafür sind in den weichen vulkanischen Schutt der heiligen Berge graviert. Dort stehen geheimnisvolle Markierungen und Monolithen, die von den sternenbegeisterten Altkanariern hinterlassen wurden – nicht weit von den modernen Hightech-Teleskopen des Astronomischen Zentrums Roque Saucillo und der Sternwarte Temisas. Die umliegenden Hänge sind mit Wanderwegen und Aussichtspunkten gespickt. Hier werden hochwertige Kaffee- und Olivenölsorten angebaut – und hier befindet sich im archäologischen Komplex von Risco Caído eine deutlich ältere Sternwarte.

BELIEBT

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    Die heiligen Berge Gran Canarias sind eine archäologische Schatzgrube voller Höhlenwohnungen, die einst von den indigenen Kanariern direkt in die Felswand gehauen wurden.

    Foto von GRAN CANARIA TOURISM

    Eine archäologisch erschlossene Höhle unter einer symmetrischen Kuppel soll einst ein Himmelskalender gewesen sein. Er wurde von Sonnen- und Mondstrahlen beleuchtet, die durch eine Öffnung im Deckengewölbe schienen. In der nahe gelegenen Höhlensiedlung Acusa Seca sind die Höhlenwohnungen, die im 5. Jahrhundert in die Felswand getrieben wurden, auch heute noch von Einheimischen bewohnt. Einige werden sogar an Gäste vermietet. Die einstigen Bewohner der Siedlung bemalten auch die Höhlenwände mit den lebhaften geometrischen Formen, die heute noch in der Cueva Pintada erhalten sind. Das Cenobio de Valerón ist ein gemeinschaftlicher Getreidespeicher aus zahlreichen kleinen Silos, die sie in den weichen Vulkanstein bauten.

    Archäologen von Tibicena – einer archäologischen Grabungsfirma, die nach den Dämonenhunden der Altkanarier benannt ist – haben in versteckten Kammern dieser Kulturlandschaft einen wahren Schatz von Artefakten ausgegraben. Viele davon sind mittlerweile im Museo Canario in Las Palmas zu sehen: Werkzeuge, Kunstwerke, Götzenbilder und sogar mumifizierte Leichen. Es sind faszinierende Einblicke in das Leben der Altkanarier. Doch das Geheimnis jener Menschen, die vor der Ankunft der Spanier die Inseln bewohnten, können sie nicht gänzlich lüften. Selbst der Name des Archipels bleibt rätselhaft.

    Der Begriff „Kanaren“ leitet sich vom lateinischen „canārius“ ab, was so viel bedeutet wie „Hunde betreffend“. Gran Canaria war einst „Canariae Insulae“ – die Insel der Hunde. Eine Geschichte erzählt davon, dass eine frühe Expedition aus dem Römischen Reich an der Küste der Insel auf Scharen von riesigen, wilden Hunden stieß. Vielleicht waren es die Vorfahren der einheimischen Hunderasse Podenco Canario, die von den Bauern immer noch zur Kaninchenjagd eingesetzt wird. Vielleicht waren es aber auch Robben, die den Römern wortwörtlich als „Seehunde“ bekannt waren. Womöglich waren es auch die einheimischen Rieseneidechsen, die hier noch heute leben, oder menschenfressende Ungetüme aus der heidnischen Unterwelt. Wahrscheinlicher ist aber eine sprachliche Verwechslung: Anderen Theorien zufolge liegen die Wurzeln der ersten Siedler in den Canarios aus dem marokkanischen Atlasgebirge.

    Die heutigen Inselbewohner teilen eine reiche genetische Vielfalt aus prä- und postkolonialen Kulturen. Bei einem Besuch der Inselhauptstadt Las Palmas de Gran Canaria lässt sich der Übergang von der Antike zur Moderne im historischen Viertel Vegueta nachvollziehen. In der Casa de Colón, dem Gouverneursgebäude aus der Renaissance, sind Karten und Instrumente ausgestellt. Sie wurden einst von Seefahrern und Händlern benutzt, die auf ihrem Weg in die Neue Welt hier ankerten. Günstige Winde und Strömungen machten diesen Hafen zu einer regelrechten Boomtown zwischen Europa und Amerika. Die hölzernen Schiffe der spanischen Silberflotte wichen schließlich den Frachtdampfern und Kreuzfahrtschiffen. Heute landen Passagiere hier, um zollfrei einzukaufen, einheimische Gofio-Fischsuppen und Fleischtöpfe zu genießen oder den Strand von Las Canteras mit seinem vorgelagerten Korallenriff zu bewundern. 

    Las Palmas de Gran Canaria ist ein Schmelztiegel prä- und postkolonialer Kulturen. Hier können Besucher die Geschichte der Insel von der Antike bis zur Moderne auf eigene Faust entdecken.

    Foto von GRAN CANARIA TOURISM

    Reisen zum Zweck des Freizeitvergnügens haben hier ihre eigene Geschichte und Tradition. Wahrzeichen wie das Hotel Santa Catalina aus dem 19. Jahrhundert zeugen von einer Zeit, als man der süßen Meeresluft selbst gesundheitsfördernde Eigenschaften zuschrieb. Damals wurde Gran Canaria zu einer Art frühem Wellness-Refugium. Wer heute zwischen Ende Januar und Anfang März zum Karneval von Las Palmas de Gran Canaria kommt, nimmt an einer wilden, farbenfrohen, kulturübergreifenden Feier des etwa 500 Jahre alten Erbes dieser Insel teil.

    Zur selben Zeit geht der weiße, helle Riesenstern Canopus über den Feierlichkeiten auf. In einer sternklaren Nacht ist die Atmosphäre auf der Insel besonders faszinierend. Und man kann fast den Eindruck bekommen, dass die großen Himmelsgötter der Altkanarier auf all das herabblicken, was ihr Volk erreicht hat in diesem langen Zeitraum der menschlichen Geschichte, der für sie nur einen Wimpernschlag gedauert hat.

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