Grand Canyon: Wanderung durchs Weltwunder

Zwei Abenteurer durchqueren den Grand Canyon zu Fuß. Auf der gefährlichen 1000-Kilometer-Tour erleben sie die Felslandschaft auf ganze neue Art – und entdecken, dass die einzigartige Natur der Schlucht akut bedroht ist.

Von Kevin Fedarko
Foto von Pete McBride

Keine Wege, nicht einmal Pfade: Wer den Grand Canyon zu Fuß durchqueren möchte, muss 1000 Kilometer unwegsames Gelände überwinden. Rich Rudow, ein Elektroingenieur aus Phoenix und Chris Atwood, wagten die Durchquerung des Canyons ohne Unterbrechung. Eine Wanderung, die erst zehn Menschen gelang. Die beiden lernten eine Landschaft kennen, die durch die Immobilienindustrie, Tourismus und Bergbau akut bedroht ist.

Es gibt kein Zurück: „Wenn ihr hier abrutscht, stürzt ihr in den Abgrund“, ruft Rich Rudow. Normalerweise ist der erfahrene Bergsteiger immer cool, aber er weiß nur zu gut, dass man sich an dieser Stelle nicht die kleinste Unachtsamkeit erlauben darf.

Wir befinden uns auf einem Felsvorsprung der Great Thumb Mesa, einem Hochplateau, das wie der Bug eines gigantischen Schiffes aus dem Südrand des Grand Canyons herausragt. Etwa 1000 Meter über dem Fluss Colorado. Es handelt sich um eine der entlegensten Regionen des Canyons, die selbst von ausdauernden Wanderern nur selten erreicht wird. Ist man erst einmal so weit in die Great Thumb Mesa vorgedrungen, reicht der schwindende Proviant im Rucksack nicht mehr aus, um die acht Tagesmärsche bis zum Ausgangspunkt zurückzuwandern. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzugehen. Also: Vorwärts!

Direkt vor uns verschwindet der Felssims, auf dem wir die vergangenen Tage gewandert waren, in einer Einbuchtung der Canyon-Wand. Wir müssen auf einem steilen Schotterhang weitergehen und aufpassen, dass wir nicht abrutschen. Owl Eyes („Eulenaugen“) wird diese Stelle auch genannt, weil dort zwei große, ovale Vertiefungen in der Felswand zu sehen sind. Man hat wirklich den Eindruck, als würde man von einem gigantischen Raubvogel beobachtet, der jeden Moment angreifen könnte.

NG-Video: Entdecken Sie den Grand Canyon und den wilden Colorado River

Owl Eyes ist ein gespenstischer Ort mit einer tragischen Geschichte: An einem sonnigen Wintertag 2012 stürzte hier eine junge Frau in den Tod. Rich Rudow, unser Tour-Guide, war mit ihr gut befreundet. Knapp vier Jahre später blicken wir über dasselbe gefährliche Gelände – bei schlechteren Bedingungen. Am Vorabend war ein Sturm über den Canyon hereingebrochen. Es ist kalt. Auf dem Boden liegen 20 Zentimeter Neuschnee. So hatten wir uns das sicher nicht vorgestellt, als wir das Abenteuer planten.

Es ist halt auch eine ziemlich unvernünftige Idee, den Grand Canyon von einem Ende zum anderen zu durchwandern. Schließlich gibt es weder ein ausgebautes Wegenetz noch einzelne Pfade, die sich über den kompletten Nord- oder Südrand erstrecken würden. Am einfachsten ist es, die Strecke mit dem Boot auf dem Colorado zurückzulegen, der sich durch den Canyon schlängelt – 450 kurvenreiche Kilometer lang. Mit einem Boot war auch der Forscher John Wesley Powell unterwegs, der im Sommer 1869 die erste dokumentierte Durchquerung des Canyons geleitet hatte. Nach seiner Expedition vergingen jedoch mehr als hundert Jahre, bis ein Mensch den Canyon zum ersten Mal zu Fuß durchquerte. In dieser Zeit entwickelte sich der Grand Canyon von einem Waldschutzgebiet zu einem Nationaldenkmal. Heute ist er das Kronjuwel der US-Nationalparks und wohl eine der berühmtesten Landschaften weltweit. Der Canyon wurde zum Urlaubsziel für Millionen Familien und zu einer Ikone, die für die grenzenlose Freiheit des amerikanischen Westens steht. Unzählige Postkarten mit Bildern der wilden Schluchten und leuchtenden Felsen wurden in die ganze Welt verschickt.

Seit der Grand Canyon ins amerikanische Bewusstsein getreten ist, ruft er im Menschen vor allem zwei Reaktionen hervor: den Drang, die Natur zu schützen, und das Verlangen, dort möglichst viel Geld zu verdienen. Schon in den ersten Jahren nach Powells Expedition im 19. Jahrhundert strömten zahlreiche Bergleute in die Region, um sich Schürfrechte für Kupfer, Zink, Silber und Asbest zu sichern. In den 1880er-Jahren wollte ein Großindustrieller den Grund des Canyons in eine Eisenbahntrasse verwandeln, um Kohle von Denver nach Kalifornien zu befördern (er selbst und zwei weitere Teilnehmer einer Vermessungsexpedition ertranken jedoch im wilden Colorado). In den 1950er-Jahren versuchte ein Bergbauunternehmen ein Riesengeschäft zu machen, indem es Fledermaus-Guano in einer Höhle abbaute und mit einer gigantischen Seilbahn aus dem Canyon abtransportierte. Das Geschäftsmodell sah vor, den Dung als Dünger an Rosengärtner zu verkaufen, hatte aber keinen Bestand. Der Staat plante sogar, mitten im Herzen des Canyons zwei riesige Wasserkraftwerke und Dämme zu bauen. Aus dem Wildfluss Colorado wäre so eine Reihe von Stauseen geworden, an deren Ufer sich heute zweifellos Hausboote und Jetski drängen würden.

Die Kampagne gegen den Bau dieser Dämme, die die amerikanische Naturschutzorganisation Sierra Club in den 1960er-Jahren initiierte, war so erfolgreich, dass das Gebiet für lange Zeit als unantastbar galt. Aktuell herrscht im und um den Grand Canyon allerdings wieder Goldgräberstimmung. Um der strengen Aufsicht des National Park Service zu entgehen, der für die Nationalparks zuständigen Bundesbehörde, planen clevere Unternehmer die neuen Projekte jedoch meist knapp außerhalb der Canyon-Grenzen. Dort müssen sie sich dann nur mit der US-Forstverwaltung oder den Anführern der fünf Indianerstämme auseinandersetzen, deren Reservate an den Canyon grenzen. Was ist an den Berichten dran? Wie gefährdet ist der Grand Canyon wirklich? Und was setzen wir aufs Spiel, wenn der Nationalpark zerstört wird? Antworten auf diese Fragen bekommen wir am ehesten, indem wir dem Beispiel von Kenton Grua folgen und durch das Herz des Canyons wandern.

„Hey, Mann, alles in Ordnung?“, murmelt Pete und rüttelt mich an der Schulter. „Willst du nicht was essen, bevor du total schlappmachst?“ Ende September 2015. Der erste Tag unserer Wanderung. Es ist kurz vor Sonnenuntergang. Wir sollten das Nachtlager aufschlagen, aber ich liege platt auf dem Boden und kann mich kaum mehr bewegen. Unser Abenteuer hat nicht sanft und allmählich begonnen, der Canyon verlangte uns schon am ersten Tag alles ab – und das ist nur eins der vielen Dinge, auf die ich nicht vorbereitet war. Ein 25 Kilo schwerer Rucksack. Mörderisch anstrengendes Gelände. Eine herbstliche Hitzewelle mit Temperaturen bis zu 43 Grad, die unsere Körper bis auf den letzten Wassertropfen ausdörrt und die Sohlen unserer Wanderschuhe ablöst. Am nächsten Morgen geht es Pete sogar noch schlechter als mir. Er hat heftige Muskelkrämpfe und braucht lange, bis er zum Aufbruch bereit ist.

Nach sechs Tagen begreifen wir, dass wir der Sache nicht gewachsen sind, und brechen die Tour ab. Rich Rudow und seine beiden Partner ziehen weiter. Auf dem Rückweg leidet Pete sogar unter Halluzinationen. Als wir in der Stadt Flagstaff ankommen, gehen wir zu einem Arzt. Die Diagnose: Hyponatriämie, ein durch die Hitze verursachter Natriummangel im Blut, der unbehandelt zum Tod führen kann.

Der Grand Canyon hat uns eingeschüchtert, aber nicht besiegt. Wir beschließen, die Wanderung in Etappen zurückzulegen, und steigen Ende Oktober wieder in den nun sehr viel kühleren Canyon hinab – genau an der Stelle, wo wir unsere Wanderung hatten abbrechen müssen. Im Verlauf der nächsten Tage wandern wir eine Reihe schwindelerregender Kalkstein-felsen entlang, die 350 Meter senkrecht zum Fluss abfallen. Kurz vor Flusskilometer 32 sehen wir den düsteren Eingang einer Höhle, in der Artefakte der Pueblo-Indianer entdeckt wurden, die mehr als 10.000 Jahre lang in dieser Gegend gelebt hatten. Auch Überreste längst ausgestorbener Tiere wie dem Ur-Kamel Camelops (Camelops hesternus) wurden dort gefunden.

Bald entwickeln wir eine tägliche Routine: Jeden Morgen stopfen wir uns mit Haferflocken voll, um dann zu einem 20-Kilometer-Marsch aufzubrechen. Wir schleppen die Rucksäcke 300 Höhenmeter hoch, steigen steile Hänge wieder hinab, zwängen uns durch dichtes Dornengestrüpp. So geht es weiter, bis die Sonne sinkt und wir zerschlagen, zerkratzt und hundemüde ein Lager aufschlagen, Wasser kochen, ein karges Abendessen hinunterschlingen und uns hinlegen, um den Nachthimmel zu betrachten. Dazu hören wir auf Petes Handy ein Hörbuch: „Desert Solitaire“ von Edward Abbey.

Im Canyon sind Prozesse im Gang, die von Tourismus und Gier getrieben werden.

Der Essayist und Naturschützer hatte den philosophischen Reisebericht 1967 nach einer Tour durch die US-Nationalparks Canyonland und Arches verfasst. Obwohl ich meistens so erschöpft bin, dass ich nach wenigen Sätzen einschlafe, bitte ich Pete immer wieder, die Passage vorzuspielen, in der Abbey seinen Leser aus zwei Gründen davon abrät, im nächsten Urlaub ins Auto zu springen und loszufahren, um die Wunder, die er in „Desert Solitaire“ beschreibt, mit eigenen Augen zu sehen: „Erstens können Sie aus einem Auto heraus nicht das Geringste sehen. Sie müssen aus der verfluchten Kiste aussteigen und zu Fuß gehen, besser noch auf Händen und Knien über den Sandstein und zwischen den Dornenbüschen und Kakteen kriechen. Wenn die ersten Blutspuren Ihren Weg markieren, sehen Sie vielleicht etwas. Wahrscheinlich ist das aber nicht.“

Die Autos haben wir schon lange Zeit zurückgelassen, meine Muskeln schmerzen jeden Tag mehr. Aber sind wir in der Lage, die Schönheit des Canyons wirklich zu erkennen? Oder leiden wir noch unter Zivilisationsblindheit? Ich versuche wach zu bleiben, denn Abbey ist noch nicht fertig: „Zweitens ist das meiste, worüber ich in diesem Buch schreibe, bereits verschwunden oder verschwindet in rasender Geschwindigkeit. Dieses Buch ist kein Reiseführer, sondern eine Elegie. Ein Mahnmal. Sie halten einen Grabstein in den Händen.“

Edward Abbeys Prophezeiung aus den 1960er-Jahren sollte sich erfüllen. Denn die Wildnis des Arches-Nationalpark, an der er sich einst so erfreute, wird inzwischen von derart vielen Besuchern überrannt – 2015 waren es 1,4 Millionen –, dass der Park an Feiertagen manchmal wegen Überfüllung geschlossen werden muss. Und die wunderbare Landschaft des Glen Canyons, der am Rand des Canyonland-Parks liegt und angeblich ähnlich schön ist wie der Grand Canyon, ist bereits ganz verschwunden. Ein Damm führte dazu, dass er vor Jahrzehnten in einem 300 Kilometer langen Stausee versank.

Auf unserer Wanderung stellen Pete und ich schnell fest, dass die Berichte über die aktuelle Bedrohung des Grand Canyons nicht übertrieben sind. Im Nationalpark sind tatsächlich große Veränderungen im Gang, die von den Kräften befeuert werden, vor denen auch Abbey gewarnt hatte: Wirtschaftswachstum, Massentourismus, die Jagd nach dem großen Geld.

100 Kilometer stromabwärts von unserem Startpunkt Lees Ferry trifft der rötlich-braune Colorado auf seinen größten Nebenfluss innerhalb des Canyons, den Little Colorado, dessen Wasser oft türkisfarben leuchtet. Dieser Ort – auch Confluence („Zusammenfluss“) genannt – ist nicht nur wunderschön, er hat für viele amerikanische Ureinwohner der Region eine große spirituelle Bedeutung; die Havasupai, die Zuni, die Hopi und die Navajo.

Am Morgen des 2. November 2015 erreichen wir hier die Nordseite des Flusses, pumpen zwei Schlauchboote auf, die wir ganz unten in unseren Rucksäcken verstaut hatten, und paddeln ans andere Ufer. Dort beginnen wir den anstrengenden 1200-Höhenmeter-Anstieg durch ein steiles Kar, das uns zum entlegenen Ostrand des Canyons und zum Navajo-Reservat führt. Wir haben diesen Weg gewählt, weil er parallel zu der geplanten Route der „Escalade Tramway“ verläuft, einer Seilbahn, die Bau-Unternehmer aus Scottsdale errichten wollen. Touristen sollen in Acht-Personen-Gondeln vom Rand des Canyons bis in die Nähe des Fluss-ufers befördert werden. Dort sind ein Einkaufszentrum, verschiedene Restaurants und ein Amphitheater mit Blick auf den Confluence geplant. Die Seilbahn könnte täglich 10.000 Menschen zu einer Stelle transportieren, an der sich bisher an einem Sommertag selten mehr als ein paar Dutzend Besucher aufhalten und im Winter häufig gar keiner. Ein vergleichbares Bauprojekt hat es im Canyon noch nie gegeben.

Die treibende Kraft hinter dem Vorhaben ist R. Lamar Whitmer, ein Lobbyist, der einige Navajo-Anführer davon überzeugt hat, dass die Seilbahn der Stammesgemeinschaft dringend benötigte Einnahmen bescheren würde. Umweltschützer und auch viele Indianer der Region kämpfen gegen das Projekt und werfen Whitmer und seinen Geschäftspartnern vor, die Navajo-Bosse mit falschen Versprechungen überredet zu haben (Whitmer streitet das ab).

Die Umweltschützer haben eine Gruppe namens „Rettet den Confluence“ gegründet. Als eine der Aktivistinnen, Renae Yellowhorse, erfährt, dass Pete und ich am Confluence vorbeikommen, bittet sie einen Freund, sie vom 65 Kilometer entfernten Wohnort zum Canyon zu fahren. Sie will uns einen traditionellen Lammeintopf servieren – und ihre Meinung sagen.

Im Navajo-Reservat brodelt laut Yellowhorse die Gerüchteküche. Whitmer und seine Kollegen suchen bereits aktiv nach Investoren, um das Milliardenprojekt zu finanzieren. Angeblich schmieden sie auch Bündnisse mit verschiedenen Politikern im Reservat, um dessen Präsident Russell Begaye zu umgehen. Denn Begaye ist ein prominenter Gegner des Projekts. „Wir sind nicht grundsätzlich gegen die Erschließung, aber an dieser Stelle ist es einfach nicht angebracht“, sagt Yellowhorse, eine energische Frau mit Drahtbrille und Ledermokassins. „Ich möchte, dass meine Enkelkinder diese Landschaft genauso erleben, wie es schon meine Vorfahren getan haben. Wir wollen nicht, dass diese Gegend erschlossen wird – am Rand des Canyons darf kein Disneyland stehen.“

Der Begleiter von Yellowhorse heißt Roger Clark und ist Programmleiter des Naturschutzvereins Grand Canyon Trust, der seit 30 Jahren gegen die Bedrohung des Canyons kämpft. Er befürchtet, dass die Seilbahn nur ein Teil eines viel größeren Projekts ist, welches die Ursprünglichkeit des Canyons auf nie dagewesene Art und Weise gefährden könnte. Tusayan – ein Wort, das Clark und viele andere Umweltschützer in der Region fürchten. So heißt eine kleine Siedlung am Südrand, die nur fünf Kilometer vom Haupteingang des Parks entfernt ist und bislang aus einigen Motels und Tankstellen besteht. Vor Kurzem aber wurde Tusayan von einer Investorengruppe übernommen, die dort eine neue Ferienanlage errichten will: Tausende neue Häuser, Luxushotels, ein Spa, eine Ferienranch und Millionen Quadratmeter Gewerbefläche.

Für ein Bauvorhaben dieses Umfangs benötigt man gigantische Mengen Wasser. Die Baukonzerne um die italienische Firma Stilo behaupten zwar, dass sie vorhaben, das Wasser mit der Eisenbahn oder durch eine Rohrleitung aus der Ferne herbeizuschaffen. Doch sie haben sich auch das Recht gesichert, tiefe Bohrschächte in die trockene Erde am Südrand des Canyons zu bohren, um eine wasserführende Schicht anzuzapfen, aus der sich zahlreiche Quellen im Grand Canyon speisen.

Die Stellen, an denen Wasser aus Felsritzen tröpfelt, machen zwar weniger als 0,01 Prozent der gesamten Canyon-Oberfläche aus. Doch um jede Sickerstelle herum bildet sich eine kleine Oase, in der viele Pflanzen- und Tierarten leben. Und weil zwischen Flussufer und dem nördlichen Canyon-Rand ein Höhenunterschied von 2000 Metern und entsprechend unterschiedliche Klimabedingungen bestehen, finden sich im Canyon fünf der sieben „Lebenszonen“ von Nordamerika – mehr als in jedem anderen Nationalpark. In Breitengraden ausgedrückt ist das so, als wandere man an einem Tag vom Wüstengebiet Nord-Mexikos bis ins nördliche Kanada. Auch deshalb warnen Biologen, dass das Austrocknen oder eine Verunreinigung der Quellen fatale Auswirkungen auf die gesamte Biosphäre des Grand Canyons haben könnte.

Zwar hat es der U. S. Forest Service vor einigen Monaten abgelehnt, einen Antrag der Gemeinde Tusayan auf ein Straßennutzungsrecht zu begutachten, der für die Weiterentwicklung des Projekts entscheidend ist. Aber die Bauunternehmer und Lobbyisten werden nicht aufgeben. Überwinden sie diese Hürde, steht den Plänen kaum noch etwas im Weg.

Der Durst der Bagger und Maschinen ist nicht die einzige Gefahr für die Wasserversorgung der Region. Nur neuneinhalb Kilometer südöstlich von Tusayan – und knapp außerhalb des Nationalparks – hat der Konzern Energy Fuels 2015 nach einem erbitterten Rechtsstreit mit Umweltschutzinitiativen und dem Stamm der Havasupai eine Uranerzmine wiedereröffnet. Ein Firmenvertreter bestreitet zwar, dass ein Unfall dort die Natur gefährden könne. Doch die U. S. Geological Survey, eine Behörde, die für die Wasserqualität zuständig ist, hat festgestellt, dass 15 Quellen und fünf Brunnen innerhalb des Grand Canyons einen gesundheitsschädlichen Urangehalt aufweisen. Der Grund für die beunruhigenden Werte sind alte Uranerzbergwerke, die der Erosion ausgesetzt sind oder ungenügend abgedämmt wurden – so sickert das gefährliche Metall ins Grundwasser.

„Der Canyon zeigt und, wie klein wir sind“ (Roger Clark vom Naturschutzverein Grand Canyon Trust)

Am westlichen Ende des Canyons liegt eine weitere Gefahr für die Natur. Hier starten und landen den ganzen Tag über Hubschrauber. Mit offizieller Erlaubnis der Luftfahrtbehörde bieten die Hualapai über einem 35 Kilometer langen Flussabschnitt Helikopter-Rundflüge für Touristen an, die meist aus dem nur 113 Kilometer entfernten Las Vegas anreisen. Die Hubschrauber fliegen mit ohrenbetäubendem Lärm durch den Canyon. Die Gegend wird inzwischen auch „Helikoptergasse“ genannt.

„Wenn man die enorme Landschaft betrachtet“, sagt der Naturschützer Clark, „kann man sich kaum vorstellen, dass der Mensch in der Lage ist, sie zu vernichten. Aber jeder Einzelne dieser Prozesse vermindert die majestätische Aura des Canyons. Zusammengenommen nehmen sie der Landschaft das, was sie so einzigartig macht: ihre Fähigkeit, uns Demut zu lehren. Denn der Canyon zeigt uns, wie klein wir doch sind im Vergleich zu den Kräften, die diesen Planeten geformt haben. Hier spüren wir, dass wir nicht der Mittelpunkt der Welt sind.“ Je mehr Projekte wie Tusayan, die „Escalade Tramway“ oder die „Helikoptergasse“ genehmigt und erfolgreich betrieben werden, desto größer wird die Gier in der Region. Weitere Erschließungsprojekte könnten folgen. Der lukrative Helikopterbetrieb führt laut Clark dazu, dass einige Navajo bereits über eine Seilbahn an der Ostflanke des Canyons nachdenken. Eine Horrorvision: Wenn sowohl Tusayan weiterentwickelt wird als auch die beiden Seilbahnprojekte verwirklicht werden, wären die Auswirkungen laut Clark enorm. „Dann hätte man ein Mega-Resort am mittleren Canyonabschnitt, das von zwei gewaltigen Seilbahnbetrieben flankiert wird“, sagt Roger Clark. „Das würde die gesamte Landschaft verwandeln. Der Grand Canyon wäre dann kein Nationalpark mehr, sondern ein Freizeitpark!“

Trotz der beunruhigenden Nachrichten führen Pete und ich unsere Wanderung durch den Canyon fort. Wer weiß, wie lange man die grandiose Landschaft noch so ungestört erleben kann. Ende November 2015 kehren wir mal wieder in den Nationalpark zurück und klettern an der Stelle in den Canyon hinab, an der wir wenige Wochen zuvor unsere letzte Etappe beendet hatten. Langsam wandern wir flussabwärts. Nach etlichen Tagen und einer Strecke von 196 Kilometern steigen wir schließlich wieder auf, um den Canyon durch den Eingang am Südrand des Nationalparks zu verlassen. Und so geht es weiter. Gleich nach Neujahr 2016 folgt eine Etappe von 106 Kilometern. Da wir nicht genug Wasser mitnehmen können, wird unser Tagespensum von der Lage der Quellen bestimmt. An einem Ort namens Horn Creek müssen wir eine Quelle auslassen, deren Wasser seit den 1960er-Jahren mit Uranerz kontaminiert ist.

Ende Januar, als wir uns auf den Höhepunkt der Tour vorbereiten – 250 Kilometer rund um die Great Thumb Mesa –, treffen wir wieder auf Rich Rudow, mit dem wir das Abenteuer begonnen hatten. Gemeinsam mit Chris Atwood hatte Rudow nach knapp zwei Monaten die Grand Wash Cliffs im Westen des Canyons erreicht (ihr Mitstreiter Dave Nally hatte frühzeitig wegen Atemproblemen aufgeben müssen). Damit gehören Rudow und Atwood nun zu dem exklusiven Verein der Menschen, die den Grand Canyon in einer einzigen Wanderung komplett durchquert haben. Sie haben die Mitgliedsnummern neun und zehn.

Rudow verfolgte unsere Tour anhand der Satellitenkurznachrichten, die wir ihm in regelmäßigen Abständen schickten. Er machte sich Sorgen, dass wir auf dem Thumb in Schwierigkeiten geraten könnten. Im Winter ziehen hier oft große Stürme auf, die mehrere Zentimeter Schnee abladen. Deshalb beschloss Rudow, uns über das Hochplateau zu führen. Und so stehen wir an diesem kalten Februarnachmittag 2016 zu dritt am Rand von Owl Eyes und fragen uns, wie wir durch den 20 Zentimeter hohen Schnee den richtigen Weg finden sollen – in Richtung Sicherheit.

Am hinteren Ende der hufeisenförmigen Einbuchtung befindet sich ein Felsvorsprung, den wir unbedingt erreichen wollen. Dazu müssen wir über einen steilen Schotterabhang wandern. Rutschen wir ab, droht der Sturz von einer 120-Meter-Klippe in den Abgrund. Die Zeit drängt. Es ist bereits später Nachmittag, und wir wollen unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit sicheren Boden unter den Füßen haben, um bei der Kälte nicht die Nacht auf den heimtückisch glatten Hängen von Owl Eyes verbringen zu müssen.

Nach mehr als zwei Stunden haben wir es erst bis zur Mitte des Hufeisens geschafft, wo ein kleiner Vorsprung aus dem Hang ragt. Er ist nicht länger als 20 Meter, aber am oberen Ende gibt es eine ebene Stelle, auf der eine kleine Stein-Pyramide zu sehen ist. Als wir die Stelle erreichen, bleibt Rudow stehen und senkt einen Augenblick lang den Kopf. Dann nimmt er die Brille ab und wischte sich über die Augen. „Entschuldigt bitte“, sagt er leise. „Aber hier zu stehen ist sehr emotional für mich.“ Dann erzählt er uns, was der jungen Frau zugestoßen war, zu deren Gedächtnis die Steine hier aufgeschichtet wurden.

Sie hieß Ioana Elise Hociota und stammte ursprünglich aus Rumänien, hatte Mathematik und Biologie studiert, sprach vier Sprachen. Mit 24 Jahren, frisch verheiratet, hatte sie zusammen mit ihrem Mann die Etappendurchquerung des Canyons fast vollendet. Im Winter 2012 wollten die beiden den 30-Kilometer-Abschnitt bei der Great Thumb Mesa in Angriff nehmen. Weil ihr Mann aber dann doch keine Zeit hatte, machte sich Hociota zusammen mit ihrem alten Mathematikprofessor Matthias Kawski auf den beschwerlichen Weg. Vor Owl Eyes machten die beiden Wanderer eine Mittagspause und ließen sich nieder. Danach stieg Kawksi weiter den Schotterhang hinauf. Hociota hingegen entschied sich für eine kürzere Route, auf der sie bald aus Kawskis Blickfeld verschwand. Kurz darauf hörte er einen Stein fallen, gefolgt von einem lauten Schrei und, ein paar Sekunden später, einem dumpfen Aufprall. Kawski eilte zum Rand der Klippe, spähte hinunter, hielt vergebens nach Hociota Ausschau. Wieder und wieder rief er ihren Namen. Ioana! Nichts. Erst am nächsten Tag wurde Hociotas Leichnam gefunden. Ein Ranger musste sich von einem Hubschrauber abseilen, um sie aus der Schlucht zu bergen.

Die Geschichte ist zu Ende und sie hat kein Happy End. Rich Rudow blickt schweigend nach Westen, wo die Sonne sich auf den Canyon-Rand zu bewegt. „Jungs“, sagt er. „Wir werden hier übernachten müssen.“

Auf der kleinen ebenen Felsplatte neben Hociotas Denkmal bauen wir zwei Zelte auf. Die Nacht ist bitterkalt. Alle unsere Wasserflaschen frieren ein, obwohl wir sie im Zelt aufbewahrt hatten. Auch unsere Schuhe sind eingefroren. Am nächsten Morgen müssen wir sie über das Lagerfeuer halten, um sie aufzutauen. Wir bauen die Zelte ab und gehen weiter über die schneebedeckten Hänge bis zu dem flachen Felsvorsprung am anderen Ende von Owl Eyes, wo wir erst einmal unser Material in der Sonne trocknen und auf das Gelände hinter uns zurückblicken.

Ein trauriger, gefährlicher Ort, und ich bin ehrlich froh und erleichtert, dass wir das hinter uns haben. Und doch ist es auch sehr schön hier, wie die Felswand im Licht der Morgensonne leuchtet. In diesem Moment, nach all den Gefahren und Strapazen unserer Wanderung, verstehe ich endlich, was Edward Abbey gemeint hatte, als er schrieb, es sei notwendig, auf allen vieren durch das Gelände zu kriechen und zu bluten, bevor man die Natur überhaupt wahrnehmen könne.

Was ich nun sehe, oder besser verstehe, ist: Der Canyon ist kein Freizeitpark, sondern wilde Natur, eine Landschaft, in der es keine Airbags und Geländer gibt und in der reale Gefahren lauern. Wer sich darauf einlässt, wird vom Canyon aber auch mit kostbaren Erfahrungen und Einsichten belohnt. Plötzlich versteht man, welch bescheidener Platz den Menschen auf der Erde zukommt und wie fragil das Leben ist.

Vier Tage später verlassen wir den Canyon für einige Tage, um in Flagstaff unsere Vorräte aufzufüllen. Dann setzen Pete und ich unsere Tour fort – Etappe für Etappe –, bis wir Mitte März noch ungefähr achtzig Kilometer vom Ziel entfernt sind. Aber der Canyon bleibt ein unberechenbarer Gegner. Eines Morgens zeigt das Thermometer 44 Grad – es ist sogar heißer als sechs Monate zuvor, als Pete an Hyponatriämie erkrankte. Eilig beenden wir die Etappe.

In einem Jahr sind wir siebenmal zum Grand Canyon gereist, um ihn zu durchwandern und so auf ganz neue Art und Weise zu erleben. Das große Finale aber liegt noch immer vor uns. Wenn Sie diesen Text im September 2016 lesen, sind Pete und ich wahrscheinlich gerade wieder unterwegs, um unsere Durchquerung des Grand Canyons endlich zu vollenden. Und sollten Sie diesen Bericht erst in einigen Jahrzehnten lesen, etwa im Jahr 2066, dann können wir nur hoffen, dass der Grand Canyon noch immer das ist, was er war: eine unermessliche Wildnis, die größer ist als wir alle.

(NG, Heft 9 / 2016, Seite(n) 78 bis 101)

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