Paul Salopek: Der lange Weg in die Welt

60.000 Jahre hat der moderne Mensch gebraucht, um von Afrika aus die Erde zu besiedeln. Der Reporter Paul Salopek folgt dieser Spur. Von Äthiopien bis nach Feuerland. 34.000 Kilometer weit. Sieben Jahre lang.

Von Paul Salopek
Foto von John Stanmeyer

60.000 Jahre hat der moderne Mensch gebraucht, um von Afrika aus die Erde zu besiedeln. Der Reporter Paul Salopek folgt dieser Spur. Von Äthiopien bis nach Feuerland. 34.000 Kilometer weit. Sieben Jahre lang.

Paul Salopek ist Reporter und Pulitzer-Preisträger. Sein erstes Buch, das auf dieser Reise beruht,
„A Walk Through Time“, wird 2016 bei Random House erscheinen. Der Fotograf John Stanmeyer wurde mit dem Robert-Capa-Preis und dem Photographer-of-the-Year-Preis ausgezeichnet.

Gehen heißt vorwärtsfallen.
Jeder Schritt, den wir machen, ist ein gebremster Sturz, ein abgewendetes Hinschlagen, eine verhinderte Katastrophe. Gehen wird so zu einem Akt des Vertrauens. Wir vollführen ihn Tag für Tag: ein zweischlägiges Wunder, ein Halten und Loslassen. In den kommenden sieben Jahren werde ich durch die Welt stolpern.

Ich bin auf einer Reise. Ich bin einer Idee auf der Spur, einer Geschichte, vielleicht auch einem Wahn. Ich jage Geistern hinterher. Ausgehend vom Geburtsort der Menschheit im Großen Afrikanischen Grabenbruch, folge ich, zu Fuß, den Pfaden jener Vorfahren, die vor mindestens 60.000 Jahren als Erste die Welt entdeckten. Das bleibt mit Abstand unsere größte Reise. Weil der frühe Homo sapiens, der als Erster über die Grenzen des Mutterkontinents hinauswanderte – alles in allem zählten diese Pioniere kaum ein paar hundert –, uns auch Eigenschaften vermacht hat, die wir heute mit dem voll entwickelten Menschsein verbinden: komplexe Sprache, abstraktes Denken; den Drang, Kunst herzustellen; das Talent zum technologischen Fortschritt; die vielen Rassen, die es heute gibt.

Wir wissen so wenig über diese Vorfahren. Sie überbrückten die Meeresstraße Bab al Mandeb – das „Tor der Tränen“, das Afrika von Arabien trennt – und verbreiteten sich dann explosionsartig, in nur 2500 Generationen – erdgeschichtlich ein Wimpernschlag – bis zum äußersten bewohnbaren Winkel des Globus.

Jahrtausende später komme nun also ich.

Das Bild afrikanischer Migranten und ihrer Handys von John Stanmeyer wurde zum "World Press Photo of the Year 2013" gekürt.

Mithilfe fossiler Funde sowie der Genografie – einer Wissenschaft, die die DNA lebender Völker nach Mutationen durchsiebt, die dazu bei­ tragen können, einstige Migrationsbewegungen aufzuspüren – werde ich von Afrika aus gen Norden in den Nahen Osten wandern. Von dort führt meine Route östlich über die weiten Schotterebenen Asiens nach China, dann nach Sibirien. In Russland werde ich ein Schiff nach Alaska besteigen, um mich dann Schritt für Schritt die Westküste der Neuen Welt bis Feuerland hinunterzubewegen, dem letzten neuen kontinentalen Horizont unserer Gattung. Ich werde 33.800 Kilometer wandern.

Ich habe mich auf diesen „Out of Eden Walk“, wie ich mein Vorhaben nenne, eingelassen: um im menschlichen Tempo von fünf Kilometern pro Stunde die Konturen unseres Planeten neu kennenzulernen. Um mich zu verlangsamen. Um zu denken. Um zu schreiben. Ich wandere, wie jeder, um zu sehen, was vor mir liegt. Ich wandere, um mich zu erinnern.

Die Pfade, die durch die äthiopische Wüste gescharrt wurden, sind womöglich die ältesten menschlichen Spuren auf der Welt. Noch heute gehen Menschen dort entlang: die Hungrigen, die Armen, die vom Klima Gebeutelten, Männer und Frauen auf der schlafwandlerischen Flucht vor Krieg. Fast eine Milliarde Menschen sind gegenwärtig auf der Erde unterwegs.

Wir erleben derzeit die größte Massen­Völkerwanderung, die es in der Geschichte unserer Gattung je gab. In Dschibuti standen afrikanische Migranten nachts an den mit Müll übersäten Stränden und hielten ihre Handys in die Höhe. Sie versuchten, ein billiges Funksignal aus dem benachbarten Somalia aufzufangen. Ich hörte sie murmeln: Oslo, Melbourne, Minnesota. Nach 600 Jahrhunderten suchen wir noch immer nach Geleit, ja sogar Rettung, durch die, die uns vorausgegangen waren.

Herto Bouri, Äthiopien
«Wohin geht ihr?», fragen die Afar­Hirten. «Richtung Norden. Nach Dschibuti.» (Wir sagen nicht Feuerland oder Tierra del Fuego. Es ist viel zu weit weg – es ist bedeutungslos.) «Seid ihr verrückt? Seid ihr krank?» Mohammed Elema Hessan – drahtig und dynamisch, ein charmanter Gauner, mein Begleiter und Beschützer im glutheißen Afar­Dreieck – biegt sich vor Lachen. Er führt unsere Mikrokarawane an: zwei magere Kamele. Ich habe ihn schon oft so lachen hören. Dieses Vorhaben ist für ihn eine einzige Pointe, ein kosmischer Scherz. Sieben Jahre lang wandern! Quer durch drei Kontinente! Er genießt den Aberwitz dieser Geschichte. Das passt. Besonders angesichts unseres lächerlichen Aufbruchs.

Ich wachte vor Morgengrauen auf und sah Schnee: dick und dicht, beißend, blendend. Es war Staub – im Licht meiner Stirnlampe. Hunderte von Tieren in Elemas Dorf hatten eine talkumfeine Wolke aufgewühlt. Ziegen, Schafe und Kamele – nur leider nicht unsere Kamele.

Die Lasttiere, die ich Monate zuvor angefordert hatte, schienen nirgends auffindbar. Ihre Treiber, zwei Nomaden namens Mohammed Aidahis und Kader Yarri, blieben ebenfalls verschwunden. Sie tauchten auch nicht mehr auf. Also saßen wir im Staub und warteten. Die Sonne stieg. Es wurde allmählich heiß. Fliegen summten. Im Osten, jenseits des Großen Grabenbruchs, unserer ersten Grenze, wich Dschibuti mit einer Geschwindigkeit von zwei Zentimetern pro Jahr zurück – genauso schnell, wie Arabien von Afrika wegdriftet.

Seid ihr verrückt? Seid ihr krank? Ja? Nein? Vielleicht?

Das Afar­Dreieck im Nordosten Äthiopiens ist als wasserlose Mondlandschaft gefürchtet. Temperaturen bis zu 50 Grad. Salzpfannen, so hell, dass sie einem die Augen ausbrennen. Aber heute hat es geregnet. Elema und ich haben keine wasserdichten Zelte. Dafür haben wir eine äthiopische Flagge, die Elema sich umwickelt, als wir losgehen. Wir haben zwei Kamele gefunden und gemietet. Jetzt zuckeln wir über eine von den warmen Regentropfen schokoladen­ braun gefärbte Akazienebene.

Nach 20 Kilometern möchte Elema schon wieder umkehren.

Er hat seine neuen Wanderschuhe aus Amerika vergessen. Und seine Taschenlampe, seine Mütze, sein Handy. Also trampt er von unserem ersten Lager zu seinem Dorf zurück. Und weil er Zeit gutmachen wollte, ist er den ganzen Rückweg gejoggt, bis hierher. Er beklagt sich, lachend, über Ausschlag im Schritt.

Solche Zerstreutheit ist verständlich. Es scheint unmöglich, auf einer Wanderung dieses Ausmaßes an alle Details zu denken. Auch ich habe manches vergessen – Nylontragesäcke zum Beispiel. Deshalb beginne ich meine Wanderung in Afrika mit Flugzeuggepäck, dem Koffer eines Großstädters, auf den Rücken eines Kamels geschnallt.

In Herto Bouri loszugehen, bei unserem symbolischen „Kilometer null“ im Äthiopischen Grabenbruch und einem der reichsten Knochenfundorte der Welt, war ein Rat der Wissenschaftler des „Middle Awash“-Forschungsprojekts. Es ist die berühmte Stätte, an der einige der ältesten menschlichen Überreste gefunden wurden. Homo sapiens idaltu. Vor 160.000 Jahren von der Erde verschwunden. Ein großknochiger Vorfahr, eine frühe Version von uns.

Die Forscher des „Middle Awash“-Projekts haben in Äthiopien viele der wichtigsten homininen Fossilien unserer Zeit entdeckt, einschließlich des Ardipithecus ramidus, eines 4,4 Millionen Jahre alten Zweibeiners. Mein unberechenbarer Afar-Begleiter Elema ist ihr altgedienter Fossilienjäger.

Elema ist in einer wegen ihrer harten Krieger gefürchteten Nomadenkultur aufgewachsen und spricht drei Sprachen – Afar, Amharic und eine profane englische Mundart, die er sich von den „Middle Awash“-Wissenschaftlern abgelauscht hat. Er ist selbst ein kundiger Paläontologe, der «Wow» und «Crazy, man» und «Jeezus» ausruft, wenn er wichtige geologische Schichten des Grabens identifiziert hat. Er ist der balabat, der traditionelle Anführer des Bouri-Modaitu-Clans der Afar. In seinem Handy hat er die Telefonnummern äthiopischer Granden und französischer Akademiker gespeichert. Er ist bis zur achten Klasse auf Schulen des Kaisers Haile Selassie gegangen, er ist ein Phänomen.

Wir zelten in Aduma, als die „Middle Awash“- Wissenschaftler zu uns stoßen. Sie sind gekommen, um uns einen Fundort aus der mittleren Steinzeit zu zeigen.

«Diese Werkzeuge sind noch ein bisschen zu früh für die Menschen, denen ihr folgt», sagt Yonatan Sahle, ein äthiopischer Forscher an der Universität von Kalifornien in Berkeley. «Aber ihre Technik war im Wesentlichen schon genauso gut. Sie stellten Wurfwaffen her, mit denen sie andere Hominiden, denen sie außerhalb Afrikas begegneten, übertrumpften.»

Wir beugen uns über einen filigranen steinernen Axtkopf, ein Kunstwerk, das dort liegt, wo sein Hersteller es vor 80 000 bis 100 000 Jahren hat fallen lassen. In der Ferne hören wir Geschrei. Wir blicken auf.

Eine Afar-Frau kommt aus der Wüste, wild mit den Armen fuchtelnd, in unsere Richtung. Sie geht geradewegs auf einen nicht weit von uns auf dem Boden dösenden Mann zu. Verpasst ihm einen harten Tritt. Hebt einen Stein auf und droht, ihm den Schädel einzuschlagen. Geht es um das Eintreiben einer Schuld? Um eine Herzensangelegenheit?

Ich höre das Opfer lachen. Dieses irre Lachen kenne ich. Es ist von dem Mann, der mich nach Dschibuti führen will, zum Golf von Aden.

Dalifagi, Äthiopien
Wasser ist Gold im Afar-Dreieck Äthiopiens. Dies ist eine der heißesten Wüsten der Welt. In den drei Tagen, die Elema und ich unweit der westlichen Abbruchkante des Grabens entlang- wandern, finden wir nur eine einzige segensreiche Pfütze aus schlammigem Regenwasser. Hier lindern unsere Kamele ihren Durst. Aber einen Tag später stoßen wir auf eine Oase ganz anderer Art: eine Elektronen-Oase. 
Die gewaltigen Salzlandschaften, von denen die Grenzgebiete Äthiopiens, Dschibutis und Eritreas überzogen sind, waren bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein auf keiner Karte verzeichnet. Jahrhundertelang widersetzten sich die kriegerischen Afar-Hirten, die dieses Gebiet beherrschten, allen Übergriffen von außen.

Heute aber sind sie, von den üblichen spitzen Dolchen und den Kalaschnikows abgesehen, mit Handys bewaffnet. Das Werkzeug der sofortigen Kommunikation haben sie sich vehement zu eigen gemacht. «Es gibt ihnen Macht», sagt Mulukan Ayalu, ein vom Staat angestellter äthiopischer Techniker, der in dem Dorf Dalifagi ein kleines Kraftwerk betreibt. «Jetzt können sie andere Ziegenhändler anrufen. Sie können ihre Verkaufspreise abstimmen.»

Der Dieselgenerator in Dalifagi spuckt sechs Stunden am Tag 220-Volt-Strom aus. Ayalu lädt die Handybatterien der Nomaden für ein paar Cent pro Stück auf. Montags – am Markttag – stehen wettergegerbte Afar vor seiner Bürotür Schlange. Ihre sarongartigen Röcke bauschen sich von all den toten Handys weit entfernt wohnender Nachbarn. «Halloo? Halloo?», bellt Elema unterwegs in sein Telefon. Er fragt nach dem Weg zu irgendeinem alten Brunnen. Und tauscht Neuigkeiten über die gefürchteten Issa aus, bewaffnete Gangster einer rivalisierenden Nomadengruppe.

Die Elektronen-Oase – das ist ein Thema, das die wahre Geschichte des heutigen subsaharischen Afrika erzählt. 900 Millionen Menschen. Ein Hechtsprung ins digitale Zeitalter. Explodierende Ansprüche. Konsequenzen unbekannt.

In der Nähe des Flusses Talakak, Äthiopien
Schuhe sind ein Kennzeichen moderner Identität. Wie verschafft man sich Anfang des 21. Jahrhunderts am besten einen Eindruck von den Grundwerten eines Menschen? Man schaue ihm auf die Füße – nicht in die Augen.

Im wohlhabenden „globalen Norden“ künden Schuhe von der Schicht, vom Status, von der Berufswahl, der sexuellen Verfügbarkeit, ja sogar von der politischen Einstellung ihrer Träger. Es ist daher verwirrend, durch eine Landschaft zu wandern, wo alle Menschen jeden Morgen die gleichen Schuhe anziehen: die billigen, demokratischen, vielseitigen Plastiksandalen Äthiopiens. Armut bestimmt die Nachfrage. Die einzige Marke ist die Notwendigkeit.

In einer Palette chemischer Farbtöne erhältlich – schwarz, rot, braun, grün, blau –, sind die bescheidenen Gummischuhe, eine triumphale hiesige Erfindung. Jedes Paar kann für den Gegenwert von einem Tag Feldarbeit (vielleicht zwei Dollar) erworben werden. Die Sandalen kühlen, weil sie auf dem glühend heißen Wüstenboden Luft an die Füße lassen. Die allgegenwärtigen Schuhe des ländlichen Äthiopien wiegen nichts. Sie sind wiederverwertbar. Und jeder repariert sie selber, indem er die formbaren Plastikschnallen über Holzfeuer schmilzt und ausbessert.

Unserer Zweikamelkarawane – die beiden Tiere heißen „A’urta“ („Gegen eine Kuh getauscht“) und „Suma’atuli“ („Mit Brandzeichen am Ohr“) – haben sich inzwischen auch die beiden verloren geglaubten Kameltreiber Mohammed Aidahis und Kader Yarri angeschlossen. Um uns einzuholen, haben diese Männer die etlichen Kilometer Schotterebenen und hügeliges Ödland von unserem Ausgangspunkt in Herto Bouri aus in tagelangem Schnellschritt zurückgelegt. Hiesigen Sitten entsprechend, wurde eine Erklärung für ihre einwöchige Verspätung weder verlangt noch gegeben. Sie hatten sich verspätet. Jetzt waren sie da. Beide trugen die Plastiksandalen der Region. Farbe: Lindgrün.

Äthiopiens Sandalen mögen zwar ein Massenprodukt sein – ihre Träger sind es nicht. Ein Mann zieht die linke Ferse nach. Eine Frau beschädigt sich die Sohle ihres rechten Schuhs, indem sie auf ein Stück glühender Kohle tritt.

Elema kniete sich neulich auf den Pfad und untersuchte diese endlose Mutation von Abdrücken. «La’ad Howeni wird in Dalifagi auf uns warten», sagte er. Er zeigte auf eine einzelne Sandalenspur. La’ad wartete in Dalifagi auf uns.

In der Nähe von Hadar, Äthiopien
Wir gehen Richtung Warenso.
Die Welt verändert sich, wenn man Durst hat.

Sie schrumpft. Sie verliert an Tiefe. Der Horizont rückt näher. Es ist das durstige Gehirn, das die Entfernungen des Grabenbruchs komprimiert, die Kilometer durch die Augen saugt, sie vergrößert, nach der kleinsten Andeutung von Wasser absucht. Wenig anderes zählt.

Elema und ich sind mehr als 30 Kilometer durch die erdrückende Hitze getrottet. Wir haben uns von den Lastkamelen getrennt, um eine archäologische Grabungsstätte zu besuchen: Gona, den Fundort der weltweit ältesten bekannten Steinwerkzeuge. 2,6 Millionen Jahre alt. Unsere Wasserflaschen sind leer. Wir fühlen uns nicht gut, sind angespannt. Wir reden wenig. Die Sonnenstrahlen bohren sich wie Korkenzieher in unseren Kopf. Eine Afar-Weisheit: Wenn du dich verlaufen hast oder durstig bist, gehe am besten in der Sonne weiter, dann wird dich irgendwann jemand sehen. Sich in den Schatten locken zu lassen und unter einen der zehntausend Dornbüsche zu legen bedeutet den Tod: Niemand wird dich finden. Also taumeln wir weiter ins grelle Nachmittagslicht hinein – bis wir, ganz leise, Ziegen meckern hören. Da lächeln wir, entspannen uns. Wo Ziegen sind, sind auch Menschen.

Unsere Gastgeber: eine auf einem Hügel lagernde Afar-Familie. Zwei starke, freundliche junge Frauen. Acht Kinder in dünnen Fetzen, die einmal Kleidungsstücke gewesen sein mögen. Und eine sehr alte Frau – sie kennt ihr Alter nicht –, die wie ein Gnom im Schatten einer Schilfrohrplane kauert. Ihr Name ist Hasna.

Sie lädt uns ein, uns zu ihr zu setzen, die Knochen auszuruhen, die Schuhe auszuziehen. Aus einem zerbeulten Kanister gießt sie uns Wasser ein, es ist kreidig und warm. Sie bietet uns eine Handvoll gelber Beeren von einem Baum an, der in Wadis wächst. Sie ist unsere Mutter.

Als unsere Vorfahren vor 60.000 oder mehr Jahren aus Afrika auswanderten, trafen sie auf andere Hominiden-Gattungen. Die Welt war voller seltsamer Verwandter: Homo neanderthalensis, Homo floresiensis, den Denisova-Menschen und vielleicht noch anderen Menschen- arten, die nicht ganz so wie wir waren.

Wenn wir ihnen begegneten, würden wir dann Wasser mit ihnen teilen oder uns sogar friedlich untereinander fortpflanzen, so wie Genetiker es herausgefunden haben? Außerhalb Afrikas weisen moderne menschliche Populationen angeblich bis zu 2,5 Prozent Neandertaler-DNA auf. Oder würden wir vergewaltigen und morden und so unsere lange und schreckliche Geschichte der Genozide in Gang halten? In einer von modernen Menschen bewohnten Höhle wurde ein durch Schnittverletzungen beschädigter Neandertaler-Kiefer identifiziert, der auf ein Gemetzel hindeutet, vielleicht sogar auf Kannibalismus.

Wissenschaftler diskutieren über dieses Rätsel noch immer. Sicher ist nur, dass wir allein übrig geblieben sind, um Anspruch auf die Erde zu erheben. Das hat seinen Preis: Wir haben keine nahen Verwandten. Wir sind eine vom Schuldbewusstsein der Überlebenden geplagte Gattung. Wir sind der einsame Affe.

Hasnas sanfte Stimme wiegt mich in den Schlaf. Als ich aufwache, hockt Elema da und unterhält sich leise mit den Männern des Nomadenlagers. Sie sind von ihren Viehherden zurückgekehrt. Wir schütteln ihnen die Hand. Wir danken ihnen. Wir lassen Crackerschachteln für die grinsende Hasna da und gehen weiter. Am Abend, als wir um ein rotes Feuer her- um sitzen und an dem salzigen Wasser – unserem Geschenk – nippen, erzählt mir Elema, die Männer von Hasnas Lager hätten ihn bedroht. Und er habe ihnen beinahe eins mit seinem Wanderstock übergezogen.

Dubti, Äthiopien
Erst gen Norden, dann gen Westen wandernd, lassen wir die Wüste hinter uns und stoßen mit den Zehen an das Anthropozän – das Zeitalter des modernen Menschen.

Asphalt taucht auf: die Straße zwischen Dschibuti und Äthiopien, vom Lastwagenverkehr dröhnend. Wir kommen durch eine Reihe trister Orte. Staub und Diesel. Bars. Läden mit rohen Brettertheken. Vor den Türen Girlanden aus Blechbechern, die im Wind klappern.

Dann, kurz vor Dubti: ein Meer – nein, eine Wand – aus Zuckerrohr. Kilometerlange industrielle Bewässerungssysteme. Kanäle. Umleitungsdämme. Planierte Felder. Von Kipplastern wimmelnde Deiche. Elema verliert die Orientierung. Nacht umhüllt uns. Am Ende haben wir die müden Kamele in einem riesengroßen Kreis herumgeführt. «Wow, Mann!», sagt Elema wütend. «So nicht! Zu viel Veränderung!»

Dies ist die millionenschwere Tendaho-Zuckerplantage, ein äthiopisch-indisches Projekt, dank dessen das Afar-Dreieck aufblüht. 50.000 Wanderarbeiter werden hier bald Schwerstarbeit leisten, um 50.000 Hektar Wüste zu bewirtschaften, die vom Awash geflutet wurden, um den Kaffee der Welt zu süßen und ihren Tee. Letztlich könnte das Afar-Dreieck Äthiopien zum sechstgrößten Zuckerproduzenten der Welt machen. Es wird dazu beitragen, die Abhängigkeit des Landes von fremder Hilfe zu beenden – eine gute Sache.

Doch die Früchte des ökonomischen Fortschritts werden nur selten gleichmäßig unter all denen aufgeteilt, die dazu beigetragen haben. In jedem Verbesserungsprojekt gibt es Gewinner und Verlierer. Hier ist eine der Verliererinnen eine intelligente junge Afar-Frau – ein Mädchen im Grunde, obwohl ihre Haltung sie älter erscheinen lässt, als sie ist. Rot gewandet, steht sie bei einem neuen Deich und holt Wasser aus dem einstigen Fluss Awash.

«Das Unternehmen hat uns von unserem Land verdrängt», erzählt sie und wedelt mit dem Arm in Richtung Zuckerrohrblätter. «Wir bekommen ein bisschen Arbeit, wir Afar, aber es sind immer die niedersten Aufgaben. Wachdienste. Oder Schaufelarbeiten.»

Ein typischer Zuckerplantagenlohn: 20 Dollar pro Monat. Das Mädchen sagt, die Polizei sei gekommen, um die Afar zu vertreiben, die nicht weichen wollten. Es habe Schusswechsel gegeben. Auf beiden Seiten sei Blut geflossen.

Wie alt ist diese Geschichte? Es ist eine der ältesten Geschichten der Welt.

Wie lauteten die einzelnen Namen der Sioux, die von Goldgräbern aus den Schwarzen Bergen Dakotas vertrieben wurden? Wer weiß das noch? Wer sind die Millionen Menschen, die heute für irgendeine abstrakte gemeinsame Sache ihre Lebensgrundlage verlieren – irische Bauern in der Europäischen Union, mexikanische Rancher, die von Highways beiseitegedrängt werden? Das nachzuverfolgen ist unmöglich. In einem immer schneller werdenden Kreislauf der Veränderung, der mit dem Mutterboden auch unsere Geschichten verschwinden lässt, formt die Menschheit die Welt um. Die atemraubenden Veränderungen unserer Epoche verwischen die kollektive Erinnerung, lassen Gewesenes verschwimmen, kappen Verantwortungslinien. Was beunruhigt uns an den Vorstädten? Nicht nur ihre Gleichförmigkeit, sondern dass die Zeit dort abwesend ist. Wir sehnen uns in unseren Landschaften nach Vergangenheit.

Dubti ist eine geschäftige grüne Grenzstadt. Äthiopier strömen hierher, bringen neue Hoffnungen, Neigungen, Ambitionen, Stimmen, eine neue Zukunft mit – eine neue Geschichte.

In Dishoto, einer weiteren Fernfahrerstadt, lade ich meinen Laptop in einer Polizeiwache auf. Die Polizisten sind allesamt Auswärtige, keine Afar, aus dem Hochland, aus dem Süden. Freundlich, neugierig, großzügig. Sie füllen Elema und mich mit Tee ab. Er ist dickflüssig vor Zucker. Unser Gespräch wird von Regierungswerbespots unterbrochen. Die Polizisten verfolgen diese staatsbildende Reklame aufmerksam: mit Musik unterlegte, wiederkehrende Videoaufnahmen vom Tagebau, vom Straßenbau, von Arbeitern in medizinischen Laboren. Wir danken ihnen und ziehen weiter.

Milan Kundera, der tschechische Schriftsteller, hat einmal geschrieben, der Kampf des Menschen gegen die Macht sei der Kampf der Erinnerung gegen das Vergessen.

Das Afar-Mädchen heißt Dahara. Sie ist 15.

Kurz vor der äthiopisch-dschibutischen Grenze
Wir zelten an einem Hang des Fatuma, einem Basalt-Wachposten oberhalb der gewundenen Karawanenpfade, die sich gen Osten zum alten Küstensultanat Tadjoura hin verflechten.

Unter uns erstreckt sich die kleine Republik Dschibuti: eine verbrannte Ebene, heißer und trockener als die äthiopische Wüste, mit ausgedörrten Seebetten aus grellweißem Salz, metallgrauen Abbruchkanten und zweifelsfrei, irgendwo im Schatten einer Palme kauernd, weiteren Afar-Nomaden – Hirten, die durch eine koloniale Grenze, von ihren äthiopischen Brüdern getrennt, holpriges Französisch sprechen.

Hier beginne ich, mich von den Afar-Kameltreibern aus Herto Bouri zu verabschieden.

Elema, Yarri und Aidahis erklären sich bereit weiterzulaufen. Sie möchten mich bis zu den Stränden am Golf von Aden begleiten. Aber das ist unmöglich. Zwei von ihnen haben keinen Pass, keine Dokumente, nicht den geringsten Wisch, der ihre Existenz bestätigt. («Dies ist alles Afar-Land!», sagen sie.)

Außerdem ist Elema krank. Er verteilt seine Anweisungen zum Beladen der Kamele im Liegen, unter seinem Sarong hervor, den er sich wie eine Decke über den Kopf gelegt hat. In ein paar Stunden werden sich unsere Wege in der hässlichen Grenzstadt Howle trennen.

Wie ist es, durch die Welt zu wandern?

Es ist so: Du öffnest am Morgen die Augen und siehst nichts als einen nahtlosen Himmel, Tag für Tag; eine blasse, göttliche Leere, die dich für einen flüchtigen Moment, gleich nach dem Aufwachen, emporzusaugen scheint, aus deinem Körper heraus, aus dir selbst. Es ist die Klarheit des Hungers, eine Transparenz, die vom Wind durchweht zu werden scheint, so wie durch ein hohles Rohr geblasen wird, damit ein Pfeifton entsteht. Gestern sind wir 29 Kilometer gewandert, mit wenig im Magen, jeder nur eine einzige Schale Nudeln und eine Handvoll Kekse. Mein Ehering, der vorher eng saß, schlackert um meinen Finger.

Durch die Welt zu wandern bedeutet, die Landschaft mit dem ganzen Körper, mit der Haut lesen zu lernen, nicht nur mit den Augen – Kamelfutter in einem Dorngestrüpp zu wittern, nahenden Staub im Geruch des Windes und natürlich kostbares Wasser in den Furchen des Landes: eine limbische Erinnerung an große Kraft. Es bedeutet, die Ewigkeit Afrikas im Schritttempo vorbeiziehen zu sehen und vage zu verstehen, dass man auch mit fünf Kilometern pro Stunde noch zu schnell unterwegs ist. Es ist eine gemeinsame Reise.

Mohammed Aidahis: kraftvoller Gang, gut zum Ameisenzertreten. Kader Yarri: die marionettenhaft losen Bewegungen eines dünnen Mannes. Mohammed Elema Hessan: federnder Schritt, ein Squaredancer. An unseren besten Tagen begreifen wir vier Wanderfreunde unser immenses Glück. Im Zickzack, beinahe rennend, schießen wir steile Bergpfade hinunter, während die Wüste Äthiopiens zu unseren Füßen leuchtet. Wir lassen in Echo-Wettbewerben unsere Stimme von den Wänden der Schwarzfelsschluchten widerhallen. Dann tauschen wir Blicke, drei Afar-Männer und ein Mann vom gegenüberliegenden Längengrad der Erde, und wir grinsen wie die Kinder. Der Funke springt auf die Kameltreiber über, und sie beginnen zu singen.

Wie ist es, durch die Welt zu wandern?

So ist es. Es ist wie ein ernstes Spiel. Ich werde diese Männer vermissen.

Lavafeld Ardoukba, Dschibuti
Die Toten tauchen am 42. Tag der Wanderung auf.

Es sind fünf, sechs, sieben – Frauen und Männer, mit dem Gesicht nach oben oder nach unten auf der schwarzen Lava-Ebene liegend, als wären sie vom Himmel gefallen. Die meisten sind nackt. Sie haben sich in einem letzten Anfall von Wahnsinn ihrer Kleider entledigt. Sandalen, Hosen, BHs, billige Nylonrucksäcke – ihre Habseligkeiten liegen verstreut herum, verschossen, verwaschen, von der Sonne blassgrau gebleicht wie unterseeische Dinge. Die Haut der Toten ist zu einem dunklen, verbrannten Gelb verdorrt. Die kleinen wilden Hunde, die in der Nacht kommen, haben ihre Hände mitgenommen, ihre Füße. Vielleicht waren es Äthiopier. Oder Somalier. Ein paar wahrscheinlich Eritreer. Sie waren Richtung Osten unterwegs. Sie wollten zum Golf von Aden – zu den offenen Booten der Jemeniten, die bettelarme Afrikaner zu Tagelöhnerjobs in den Nahen Osten schleusen. Wieviele solche Migranten sterben im Afar-Dreieck? Niemand weiß es. Nach UN-Angaben versuchen jedes Jahr mindestens 100.000 Menschen, zur Arabischen Halbinsel hinüberzugelangen. Die Polizei jagt sie. Sie verirren sich. Der Durst bringt sie um.

«Ein Verbrechen!», ruft Houssain Mohammed Houssain mir über die Schulter zu. «Eine Schande!»

Houssain ist mein Begleiter in Dschibuti. Er ist ein rechtschaffener Mann. Er ist wütend, und vielleicht schämt er sich auch. Während er weiter vor mir hergeht, schüttelt er seinen Wanderstock in den ganz und gar weißen Himmel. Ich bleibe zurück. Ich wische mir den Schweiß aus den Augenhöhlen und betrachte die Toten. Ein Demograf hat einmal errechnet, dass 93 Prozent aller menschlichen Wesen, die jemals auf der Erde gelebt haben – mehr als 100 Milliarden – bereits verschwunden sind. Der Großteil der Menschheit ist tot. Die Mehrheit unserer Leiden und Triumphe liegt hinter uns. Wir lassen sie täglich im Brachland der Vergangenheit zurück. Und das ist richtig so.

Denn auch wenn ich Ihnen erzählt habe, dass ich wandere, um mich zu erinnern, stimmt das nicht ganz. Während wir die Entdeckung der Erde immer wieder neu inszenieren, um weiter- zumachen – auszuhalten und uns nicht hinzu- setzen –, müssen wir uns auch auf so manche Reise des Vergessens begeben. Houssain scheint das zu wissen. Er blickt nie zurück.

Einen Tag später sind wir am Golf von Aden.

Ein Strand aus grauen Kieselsteinen. Wellen aus gehämmertem Silber. Wir schütteln uns die Hand. Wir lachen. Houssain öffnet einen Beutel gehorteter Datteln. Es ist eine Feier. Wir stehen am Rand von Afrika. Das Meer wandert – es fällt unablässig vorwärts, nach Afrika hinein, und weicht dann auf ewig zurück, gen Osten, zum Jemen und zum Küstenstreifen Tihamah, zu den Lupinentälern des Himalaja, zum Eis, zum Sonnenaufgang, zu den Herzen unbekannter Menschen. Ich bin glücklich. Dann schreibe ich es in mein Tagebuch: «Ich bin glücklich.»

Oh, ihr mutigen, dummen, verzweifelten Reisenden. Ihr hattet es fast geschafft. Ihr seid fünf Kilometer vor der Küste gefallen.

(NG, Heft 3 / 2014, Seite(n) 36 bis 63)

BELIEBT

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