Paul Salopek: Schiff der Selbstliebe

Die "Abuyasser II" bringt Paul Salopek von Afrika in den Nahen Osten. Es ist eine bedrückende Überfahrt.

Von Paul Salopek
Die "MV Abuyasser II" bringt afrikanische Schafe zu arabischen Schlachtereien.
Foto von Paul Salopek

An Bord der MS Abuyassaer II nahe des Bab-el-Mandeb, 13°48'12'' N, 42°31'32'' E

„Du musst dein Herz abhärten“, sagt der Seemann.

Wir fahren nach Arabien, auf einem Schiff so lang wie ein Fußballfeld.

An Bord sind fast 9000 Seelen – 8000 Schafe, 855 Kamele und 24 Menschen (die Liste der letztgenannten Spezies: 20 Besatzungsmitglieder, drei Veterinäre, ein Passagier.) Der Seemann wirkt entmutigt, beschämt, verlegen. Er sorgt sich um das Ansehen seiner Arbeit. Die bescheidene Fracht seines Schiffes: lebende Tiere, die die brütend heiße Fahrt über das Rote Meer überstehen müssen. Die Schafe blöken in ihren Metallverschlägen auf dem Oberdeck. Die schwerfälligen Kamele stehen weiter unten. Wie Bäume in einem unterirdischen Wald schwanken ihre Hälse im Halbdunkel des Schiffbauches. Wir sind eine Anti-Arche. Die Tiere sind für die Schlachtung im Nahen Osten bestimmt. Aber der sensible Seemann beschwert sich zu viel. Er ist jung. Er scheint nicht verstanden zu haben, dass wir unsere Herzen von Beginn an abgehärtet haben – lange bevor unsere Vorfahren vor 60.000 Jahren das Rote Meer überquerten; als sie Afrika den Rücken kehrten und sich essend ihren Weg durch die Welt bahnten. Was gegessen wurde, ist weg. Heute schleifen wir unsere gezähmte Nahrung mit uns.

Der Motor der "Abuyasser II": mein düsteres Ticket heraus aus Afrika.

Das Schiff fährt unter der Flagge Sierra Leones. 1978 wurde es in Italien gebaut (Die Armaturen auf der Brücke lesen sich immer noch wie eine Oper: Adagio, Mezza, Tutto, Finito.) Ursprünglich transportierte die "Abuyasser II" Fahrzeuge. Im orangenen Licht der Hafenanlagen von Dschibuti hatten Dockarbeiter die Tiere nach Mitternacht über die Autorampe an Board getrieben. (Die Stille dieses Unterfangens, die weichen Kamelfüße, die absolut geräuschlos über den gewellten Stahl der Rampe liefen, waren wie eine Halluzination.) Auf dem Weg nach Dschidda in Saudi Arabien werden wir drei Tage über die See schaukeln. Eine schwimmende Scheune. Im Kielwasser ziehen Strohalme hinter uns her. Die Offiziere an Bord stammen aus Syrien.

„Warum töten sie Kinder?“ sagt Kapitän Abdulla Nejem. „Warum töten sie Männer? Warum töten sie Frauen? Die Straßen? Zerstört! Das Krankenhaus? Zerstört! Die Schule? Zerstört! Mein Land? Zerstört! Syrien – am Ende! Am Ende!”

Der Krieg hat das glänzende, etwas altmodische, Bild , das Nejem von seinem Heimatland hatte, zerstört. Er wirkt wie ein später Nachfahre phönizischer Händler. Wie ein Swami sitzt er im Schneidersitz auf der Brücke und schneidet Orangenstücke mit seinem Taschenmesser. Er ist ein freundlicher, eindringlicher Mann. Wiederholt er sich dreimal, dann nicht um seine Meinung zu verdeutlichen. Nein: Was er dreifach sagt, ist universelles Gesetz. Und Kapitän Abdullah Nejem wiederholt sich häufig, weil es viele universelle Gesetzte gibt. Dieses hier handelt von den Verführungen der Technik:

„Alles elektronisch! Alles elektronisch! A-lles elektronisch! Mit der Hand! Mach es mit der Hand! Mach es mit der Hand! Besser! Besser! Besser!“

Nejem zeigt mir seinen alten Sextanten. In der mit grünem Tuch ausgeschlagenen Teakholzschachtel glänzt er wie ein Goldnugget. Einmal hat er mit diesem Gerät einen Frachter nach Indien und wieder zurück navigiert. Doch als ich später am Abend zur Brücke hinaufsteige, sehe ich das Leuchten eines iPhones, das auf der Konsole liegt. Nejem benutzt eine GPS-App, um das Schiff nordwärts durch die Wellen zu navigieren. Im fahlen blauen Licht des Telefons erhasche ich eine Blick auf sein Gesicht – traurig und nach innen gekehrt blickt er auf das Display.

An Bord der "Abuyasser II" sieht man viel Abwesenheit und Weltflucht. Der Chefingenieur sitzt stundenlag kettenrauchend vor seinem Laptop. Mit geschlossenen Augen lauscht er Vogelgesängen, die er sich aus dem Internet heruntergeladen hat. Teetrinkend steht der erste Offizier am Ruder. Mit leeren Augen blickt er auf den schieferblauen Horizont.

Diese Schwermut ist ansteckend. Ich sehe Afrika langsam am Horizont verschwinden: eine Kreidelinie, eine weiße Scheibe, von der man nur die Kante sieht, ein blasser Gastgeber, der auf der Zunge des Ozeans zerschmilzt. Mit jeder gegessenen Olive, die es in der Messe gibt, kommen wir Arabien näher. Das Bullauge meiner Kabine ist nach hinten ausgerichtet. Die kleine Kammer ist eine Überraschung. Ein Offizier hat sie mir für die Dauer der Überfahrt überlassen. Sie ist mit roten Weihnachtsbaumkugeln dekoriert. An Schnüren hängen sie von der Decke. Ein großes Plüschherz schwingt über dem schmalen Bett hin und her. Das Dekor eines billigen Liebesnestes. Doch es gibt wenig Liebe auf einem Kamelschiff, außer vielleicht Selbstliebe.

Wir tuckern durch den Bab-el-Mandeb, die enge „Straße des Kummers“ zwischen Afrika und Arabien. Ich beobachte das Stroh im Kielwasser. Ein anderer Name für diesen Flaschenhals lautet „Die Straße der Tränen“.

„Das Rote Meer ist salziger als das Mittelmeer“, sagt Kapitän Abdullah.

Natürlich ist es das. Natürlich. Natürlich.

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