Laos: Die Früchte des Krieges

Mehr als zwei Millionen Tonnen Bomben warfen die USA während des Vietnamkriegs über Laos ab. Alle acht Minuten eine Flugzeugladung. Neun Jahre lang. Wie kann sich ein Land davon erholen?

Von T. D. Allman
bilder von Stephen Wilkes
Foto von Stephen Wilkes

Zusammenfassung: Mehr als zwei Millionen Tonnen Bomben warfen die USA während des Vietnamkriegs über Laos ab. Alle Acht Minuten eine Flugzeugladung. Neun Jahre lang. Bis heute sind viele Gebiete noch nicht von den Blindgängern geräumt, doch das asiatische Land ist dabei, sich von der Tragödie zu erholen. Und die Mentalität der Laoten hilft dabei – erfinderisch und kreativ nutzen sie die Reste der Bomben zum Beispiel für Besteck oder als Baumaterial.

Bombenhülsen, das ist es. Ich bin durch Thong Hai Hin gefahren, durch die Ebene der Tonkrüge, auf der Suche nach einem Bild, das die Geschichte dieses Volks erzählen könnte, und nun sehe ich sie vor mir. Sie liegen an einer Hauptstraße der Provinzhauptstadt Phonsavan: leere Sprengkörper, ein riesiger Haufen. Gleich in der Nähe steht ein neuer Geldautomat, in leuchtendem Blau und Weiß überstrahlt er die rostenden Reste des gnadenlosen Regens, der einst auf das Land eingeprasselt ist. Ich inspiziere den Bombenschrott, dann gehe ich hinüber und ziehe eine Million Kip, rund 110 Euro.

Auch die Scheine, die der Automat ausspuckt, erzählen etwas über Laos. Sie erzählen etwas über seine Gegenwart: Das Zeitalter des Geldes hat das Zeitalter der Bomben abgelöst.

Kein anderes Land der Welt wurde schwerer bombardiert als dieses. Dennoch ist Laos nicht daran zugrunde gegangen. Im Krieg hielten sich die Menschen hier in der Provinz Xieng Khouang jahrelang in Höhlen und Tunneln versteckt. Heute herrscht in der Hauptstadt wieder so viel Verkehr, dass man unbedingt eine Ampel benutzen sollte, wenn man die Straße überqueren will. Allerdings muss man gar nicht die Seite wechseln, um eine Bank, ein Restaurant, einen Gemüsemarkt oder ein Geschäft für Sportschuhe zu finden. Und die Bomben? Werbung für die Region macht man heute nicht nur mit den berühmten Steinurnen aus der Ebene der Tonkrüge, sondern auch mit den makabren Andenken des US­Luftkriegs: Die Laoten haben den Bombenhaufen direkt neben der Touristeninformation platziert.

Die Gegend hier erinnert mit ihren sanften Hügeln und grasbewachsenen Plateaus manchmal an einen riesigen Golfplatz, nur dass die Sandbunker durch Millionen von Explosionen ausgehoben wurden. Und einige Millionen Bomben sind noch nicht einmal detoniert. Sie sind bis heute eine Gefahr. Am gefährlichsten sind sie für jene, die von ihnen leben: die laotischen Unternehmer, die das Metall von den Blindgängern schneiden, um es zu verkaufen.

„Welcome to Mr. Phet Napia making the Spoon and Bracelet“ steht auf dem Schild an Phet Napias Haus im Dörfchen Ban Naphia. In seiner Schmelzerei hinter dem Haus macht Phet Munitionshülsen und Metallschrott flüssig und gießt daraus Essbesteck, Armbänder und Schlüsselanhänger in Bombenform. Wenn man seinen vollgestopften Laden sieht, könnte man meinen, dass in ganz Phonsavan nur mit Gabeln, Löffeln und Stäbchen aus Kriegsresten gegessen wird. Phets Geschäft lohnt sich jedenfalls: Er hat ein neues Haus, Satellitenfernsehen, elektrisches Licht. Nur dass in einer Marktwirtschaft Dinge, die man bereits gekauft hat, immer noch Geld kosten, will ihm nicht so recht einleuchten. „60 Kanäle“, sagt er, als wir seine Satellitenschüssel bewundern, „aber den Strom muss ich extra bezahlen.“ Auch für das Handy, das er für die Akquise braucht, „bezahlt man immer noch weiter, um es zu benutzen“.

In Laos kommen inzwischen fast fünf Millionen Mobiltelefone auf knapp sieben Millionen Einwohner. Und der Fortschritt treibt sonderbare Blüten: Da stehen in einem kleinen Flussdorf die Fischer regungslos auf ihren Pirogen im Mekong, malerische Silhouetten vor bernsteinfarbenem Licht, es ist ein Bild wie vor Jahrhunderten, nur dass jeder beim Fischen sein Handy ans Ohr hält. Die Zeiten drehen sich schnell in diesem Land.

Vientiane, die Hauptstadt, war früher eine schmuddelige Kleinstadt. Heute ist sie eine schmuddelige Großstadt mit zwölfstöckigen Hochhäusern. Früher wurde die Stille hier nur vom Rauschen des Regens, von Babygeschrei, Gelächter und den Gesängen der Mönche unterbrochen. Jetzt versinkt alles in einem einzigen Brei: Klimaanlagen klappern, Generatoren brummen, Motorräder heulen auf, Autos hupen.

Die Wirtschaft des Landes wächst um fast acht Prozent jährlich. Auf der Fahne der Laotischen Revolutionären Volkspartei, die auch heute noch neben der Nationalflagge weht, prangen wie auf ihrem sowjetischen Vorbild Hammer und Sichel – doch die Regierung setzt sich mittlerweile für eine Freimarkt­Zone in Südostasien ein. Spätestens 2020 will Laos von der UN­Liste der am wenigsten entwickelten Länder verschwinden.

Selbst die Ärmsten in den abgelegensten Gebieten haben heute Zugänge zur Außenwelt, die früher undenkbar gewesen wären. In Zentral­Laos unweit der vietnamesischen Grenze sehe ich einen jungen Motorradfahrer mit einer Satellitenschüssel unter dem Arm nach Hause fahren. In den Gebirgsdörfern begegnen mir Horden von Schulkindern in blau-weißen Uniformen. Überall schlendern Mönche in safranfarbenen Kutten auf den Straßen wie eh und je, bloß dass sie jetzt Notebooktaschen tragen.

Auch der Uferbereich des Mekong in Vientiane hat sich völlig verändert. Wo früher Schlammbänke und Sandgruben waren, verläuft jetzt die etwa drei Kilometer lange Promenade, an der eine Laufstrecke vorbeiführt und Hantelbanken stehen wie am Venice Beach in Kalifornien. Jeden Abend tummeln sich hier Liebespaare, Gaukler, lachende Kinder, Breakdancer und Straßenmusiker. Fitnesstrainer bieten Kurse an, während die Neonröhren an den Wagen der Straßenhändler und die Motorradscheinwerfer das Spektakel ausleuchten. Die Uferpromenade schützt die Einwohner zugleich vor Überflutungen, denn sie wurde auf einem großen Deich errichtet.

Wie so vieles in Laos ist auch sie ein Symbol: Sie steht für eine Entwicklung, die neuerdings den Menschen im Blick hat. Finanziert wurde sie größtenteils mit einem Kredit aus Südkorea. Heute kommt Wirtschaftshilfe immer häufiger aus Asien, und sie orientiert sich viel stärker an den tatsächlichen Bedürfnissen des Landes als die Maßnahmen der westlichen Länder.

Während all der Jahre, in denen Frankreich und die USA in Laos großen Einfluss hatten, wurde keine einzige Brücke über den Mekong gebaut. Heute überspannen sechs große den Fluss, eine davon in Thakhek, wo die Transitstrecke zwischen den aufstrebenden Volkswirtschaften in Thailand und Vietnam am kürzesten ist, nur 145 Kilometer.

Eines Morgens treffe ich im Foyer meines Hotels in Vientiane auf einen Motorradklub. „Wir kommen aus Malaysia und machen eine kleine Spritztour“, erklärt einer der Biker höflich – 4200 Kilometer hin und zurück. An einem anderen Morgen, dieses Mal in Luang Prabang, wache ich auf und sehe, dass sich auf der Straße neu angekommene Autos stauen, alle mit chinesischem Nummernschild. Die wohlhabenden Biker aus Kuala Lumpur sind nach Norden gefahren, die wohlhabenden Chinesen aus Kunming befinden sich auf dem Weg nach Süden. Allesamt machen sie einen Stopp in Laos.

Es ist ein neues Zeitalter des friedlichen Miteinanders angebrochen. Das ist sogar aus der Luft erkennbar. Wenn man von Savannakhet kommend über den Mekong fliegt, sieht man eine weitere Brücke, über die Menschen und Produkte nach Laos hinein- und hinausgelangen. Flussaufwärts wiederum zeichnen sich riesige Masten ab, die den Strom, den Laos nach Thailand exportiert, über den Fluss leiten.

Vor Jahrzehnten stand ich in Vientiane am Mekongufer und stellte mir eine Frage, auf die es keine Antwort gab und nie eine geben wird: Wie können scheinbar rational denkende Menschen auf die Idee kommen, man könne den Vietnamkrieg gewinnen, indem man Laos wahllos zerstört? Die Amerikaner und ihre Alliierten warfen zu jener Zeit Abertausende von Bomben über dem Land ab, um ihre Feinde in Vietnam vom Nachschub abzuschneiden und deren Unterstützer im Nachbarland zu demoralisieren. Damals schrieb ich zum ersten Mal über den „geheimen Krieg“ in Laos und machte auf der ganzen Welt damit Schlagzeilen.

Dabei war die in den 1950er-Jahren begonnene und bis 1974 andauernde US-Militärintervention in Wahrheit kein Geheimnis. In Laos wussten jede Lotusblütenverkäuferin auf dem Morgenmarkt und jeder Rikscha-Boy Bescheid, nicht nur über den Ho-Chi-Minh-Pfad, auf dem sich die Truppen des Vietcong durchs Land bewegten, sondern auch über die Geheimarmee der CIA und die Bombardierung der laotischen Zivilbevölkerung durch die Amerikaner, die in den USA geheim gehalten wurde. Sie wussten auch, dass die USA in den Opiumhandel verwickelt waren.

1968, im Jahr, in dem die Tet-Offensive im benachbarten Vietnam startete, fuhr ich mit einem Sammeltaxi vom Tiefland des Mekong hinauf auf das Bolaven-Plateau. Als der Fahrer sich weigerte weiterzufahren, ging ich zu Fuß. Über mir dröhnten US-Kampfbomber. Am Horizont huschten Figuren in Tarnkleidung durch die Wälder. Es war das einzige Mal während des gesamten Krieges, dass ich tatsächlich nordvietnamesische Truppen sah – oder die US-Luftwaffe im Einsatz. Ich war 23 und wollte die Wahrheit aufdecken.

In Pakxong, der heutigen Kaffeehauptstadt von Laos, traf ich nur auf einen einzigen Menschen, einen einbeinigen französischen Priester. Vor sich hatte er eine Flasche Whiskey, sein Holzbein lehnte an einem Tisch. Er schenkte mir ein Glas ein. Er las gerade „The Green Berets“, auf Deutsch „Die Grünen Teufel“, eine fiktive Geschichte über die Heldentaten verwegener Amerikaner im Dschungel. „Ist der Vietnamkrieg wirklich so?“, wollte er von mir wissen.

Jahrzehntelang hatte ich hierher zurückkehren wollen. Mir war klar, dass es den Priester nicht mehr geben würde. Aber dass auch das alte Pakxong verschwunden ist, hatte ich nicht erwartet. Nach meiner Expedition von 1968 war es durch zweimaliges Flächenbombardement vernichtet worden. Dennoch gibt es etwas, was mich nun bei meiner Rückkehr mit einer gewissen Freude erfüllt: wie entschlossen und zufrieden die Menschen hier für ein besseres Leben arbeiten.

Pakxong ist heute kein Schlachtfeld mehr, sondern ein Marktplatz. Wo früher die französische Militärbasis stand, platzt jetzt ein Markt aus allen Nähten – chaotisch, schlammig, voller Plastik und organischer Abfälle, aber auch mit allem, was käuflich oder verkäuflich ist. Am meisten fasziniert mich der eiserne Büffel.

Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Bauer in Laos und würden gern alles kaufen, was es im Fernsehen gibt, können sich aber nur eine einzige Anschaffung leisten. In diesem Fall ist der eiserne Büffel genau das Richtige für Sie. Anders als ein Wasserbüffel kann der eiserne Büffel sowohl Wasser pumpen als auch einen Pflug ziehen, und er kann Licht in Ihr Zuhause bringen. Er ist im Grunde ein transportabler Mehrzweck-Verbrennungsmotor, den man an fast alles anschließen kann. Wenn Sie Ihre Pumpe damit antreiben, können Sie auch in der Trockenzeit die Felder bestellen. Wenn Sie ihn an einen Pflug anschließen, können Sie die vierfache Fläche bewirtschaften. Und wenn Sie den eisernen Büffel vor Ihren Eselskarren spannen, wird ein zweitägiger Fußmarsch zum nächsten Marktzentrum und zurück zum Morgenausflug.

Lan Keopanya ist mit einem solchen Gespann nach Pakxong gefahren. Wir kommen auf dem Markt ins Gespräch, als er gerade seinen Pick-up Marke Eigenbau anlassen will. Sein Dorf, sagt er, liege 20 Kilometer von hier entfernt. „Die Fahrt kostet mich vier Liter Diesel, aber das ist es mir wert.“ Da er jetzt viel schneller und öfter zum Markt gelangt, kann er frisch geernteten Kaffee, Obst und Gemüse zum Höchstpreis verkaufen.

Jedes seiner sechs Kinder gehe zur Schule oder würde demnächst eingeschult, erzählt er mir stolz. Es gebe jetzt auch eine neue Straße, die bis in sein Dorf führt. „Wir hoffen, dass wir in den nächsten zwei Jahren Strom bekommen“, sagt er und wirft den Motor an. Er wolle schnell nach Hause, das Dach neu eindecken, bevor es anfängt zu regnen. Zum Schluss frage ich ihn, was er sich als Nächstes wünsche. „Unser Land muss unbedingt von den Bomben geräumt werden“, sagt er. „Wenn die Bomben nicht wären, könnte ich viel mehr produzieren.“

Eines ändert sich in Laos nie: Beim Reisen schwitzt man. Auf meiner Suche nach einer kalten Cola stoße ich an der Nord-Süd-Verbindung nach Luang Prabang auf den Minimarkt von Khenchan Khamsao. Der Durst zieht mich zum Kühlschrank mit den Glastüren, aber dann sehe ich diesen sonderbaren grasgrünen Mülleimer, und Khenchan und ich kommen ins Gespräch. „Die werden aus gebrauchten Lkw-Reifen hergestellt“, erklärt sie. Die Laoten haben eine Kunst daraus gemacht, aus Abfall etwas Nützliches herzustellen, seien es Eimer aus Reifen oder Löffel aus Bomben.

Auch Khenchan Khamsao hat ihr Leben aus Trümmern wiederaufgebaut. Sie stammt aus einem verwüsteten Teil der Provinz Khammouan in Zentral-Laos, in der teilweise noch so viele Blindgänger im Boden liegen, dass das Bestellen der Äcker bis heute unmöglich ist. Da sie ihr Land nicht nutzen konnten, zog sie mit ihrem Mann in diese Siedlung; zwölf Jahre später haben die beiden eine typische laotische Erfolgsgeschichte geschrieben. Der Laden befindet sich im Erdgeschoss ihres neuen Hauses. Ihr Mann arbeitet als Bauarbeiter bei einem Bewässerungsprojekt in Vang Vieng, 105 Kilometer nördlich. Alle drei Kinder besuchen öffentliche Schulen – die beiden jüngeren vor Ort, der Älteste in Vientiane.

Khenchan und ihre Familie haben die Zeit der Bomben überlebt, und jetzt erleben sie die Zeit des Geldes. Aber auch Geld, das haben sie gelernt, kann gefährlich sein. Als ich sage, dass ihr Sohn in der Hauptstadt sicher eine bessere Ausbildung bekäme, antwortet sie: „Das ist nicht der Grund, warum wir ihn dorthin geschickt haben. Ich wollte ihn von den Drogendealern fernhalten.“ Die USA hatten 1989 den Drogen den Krieg erklärt und Geldmittel für die Opiumbekämpfung bereitgestellt. Im Jahr 2006 erklärte sich Laos für opiumfrei, doch der Wirtschaftsaufschwung ließ den Appetit auf Methamphetamine und andere Drogen wachsen. Das Land ist heute ein wichtiger Umschlagplatz für Designerdrogen, Heroin und auch Opium, das wieder beliebter wird. Die ländlichen Gebiete sind besonders betroffen.

Wenn der Winter kommt, beginnt in Laos die tödliche Jahreszeit. Sobald die Temperatur unter 20 Grad Celsius fällt, holen die Leute ihre Jacken und Mützen heraus und machen Feuer. An einem Silvesterabend waren drei Freunde aus der Provinz Xieng Khouang zum Camping unterwegs. Als es abends kalt wurde, zündeten sie ein Lagerfeuer an. Unter ihnen explodierte eine Bombe. Einer wurde sofort getötet, ein weiterer schrecklich verstümmelt. Ich besuche das dritte Opfer, Yer Herr, in seinem Heimatdorf. Der 18-Jährige zieht sein T-Shirt aus und zeigt mir die 19 Narben auf seinem Rücken. In Yers Dorf haben die Leute Strom, Satellitenfernsehen, Handys. Doch jede Mutter, jede Ehefrau, jede Schwester und jedes Kind, so scheint es, hat einen Ehemann, einen Bruder oder eine kleine Tochter, die lange nach Kriegsende durch amerikanische Bomben getötet oder verstümmelt worden sind.

Auch in den Träumen der Menschen fallen noch Bomben. „Ich lebe das in mir“, erklärt mir der weltbekannte Stickereikünstler Tiao Nithakhong Somsanith. Er ist ein Meister der traditionellen Goldstickerei auf Seide, nur dass seine Bilder keine Seenlandschaften zeigen, sondern Bomber. Tiao Nithakhong gehört zu denen, die in Laos die überlieferten Künste am Leben erhalten: klassischen Tanz, Blumenbinderei, Kostümdesign, Orchestermusik und alle Arten von Web- und Flechtwerk.

Er führt in seinen Stickereien fort, was einst die Frauen der Bergvölker von Laos begannen. Ihre Region litt fürchterlich unter den Bombardierungen, die keinen Unterschied zwischen Kommunisten und Antikommunisten, zwischen Soldaten und Kindern machten. Die Frauen hatten von klein auf gelernt zu sticken und zu nähen, und mit dem Krieg fingen sie an, die Katastrophe in Bilder zu fassen. Es war eine Art Kunsttherapie, ihre Wandteppiche zeigten blutende Kinder, brennende Felder und verängstigte Tiere. Sie erinnern an Pablo Picassos „Guernica“.

Als ich Tiao Nithakhong Somsaniths feine Arbeiten in einer Kunstgalerie in Luang Prabang genauer betrachte, sticht mir wieder ins Auge, was mir schon bei vielen Künstlern und Handwerkern auf meiner Reise aufgefallen ist: Ob mit Bambus oder Plastik, Seide oder synthetischen Fasern – Flechten und Weben ist die eigentliche laotische Kunst. Die Laoten flechten Palmwedel zu Körben, Bambus zu Fischreusen. Sie weben Seide und Goldfäden zu wunderschönen Röcken, die hier Sin heißen. Auf einem Regal meiner Wohnung in New York City liegt ein aus Rattan geflochtener Kataw­Ball, eine Art Volleyball, den man mit den Füßen in der Luft hält. Er ist so vollkommen rund, dass selbst Buckminster Fuller, der Erfinder der geodätischen Kuppel, nichts daran auszusetzen hätte.

Insgesamt warfen die USA über 270 Millio­nen kleine Streubomben, sogenannte bombies, über Laos ab – mehr als eine für jeden Amerikaner, ob Frau, Mann oder Kind. Hinzu kamen vier Millionen große Bomben. Das Gesamtgewicht der Sprengkörper war um ein Vielfaches größer als das Gewicht der gesamten damals in Laos lebenden Bevölkerung von vielleicht zwei Millionen: Pro Einwohner ging eine Tonne Bomben auf das Land nieder.

Im Verlauf des Krieges verkündete Washington zwar immer wieder „Bombardierungsstopps“, doch das Fließband, das die Munition aus den amerikanischen Waffenfabriken 12.000 Kilometer über den Pazifik beförderte, ließ sich nicht einfach so an­ und abschalten. Es war der erste angebotsgesteuerte Krieg der Welt – die Bomben, die man nicht über Vietnam abwarf, wurden über Laos entsorgt. Und die tödliche Luftfracht aus der Massenproduktion unterlag keiner Qualitätskontrolle: Bis zu 80 Millionen bombies detonierten beim Aufprall nicht; sie sind immer noch scharf. Auch bis zu zehn Prozent der regulären Bomben gingen nicht hoch.

In einem Kurs der britischen Mines Advisory Group über die Gefahren von Blindgängern höre ich zu, wie Explosions­Opfer vor Schulklassen von ihren Verletzungen erzählen – von den seelischen wie von den körperlichen. Als man die Kinder anschließend fragt, was sie den Bombenwerfern sagen würden, wenn sie ihnen zufällig begegneten, meldet sich ein kleiner Junge. „Ich würde ihnen sagen, sie sollen uns dafür Geld geben.“

2014 stellte der US­Kongress zwölf Millionen Dollar für die Räumung von Blindgängern bereit. Die neue Botschaft der USA in Laos kostete 145 Millionen. Der berechtigte Wunsch, die eigenen Diplomaten besser zu schützen, geht mit einer fast völligen Missachtung der historischen Verantwortung einher, obwohl fast jede Bombe auf Laos in den USA hergestellt und von Amerikanern abgeworfen wurde.

Die Geschichte dieses Landes ist grausam, doch der Geist der Laoten ist noch nie gebrochen worden – weder von Ausländern noch von den eigenen Herrschern. Die Menschen hier besitzen eine besondere Gabe, die sie durchhalten lässt: Sie können Nutzen und Schönheit in Dingen sehen, die für andere nur Müll sind. Während des Luftkriegs fertigten laotische Handwerker aus den abgeworfenen Treibstofftanks der B-52-Bomber schnittige motorisierte Kanus – ein so vielsagendes Beispiel ihrer Kunst, dass das Londoner Imperial War Museum ein Exemplar für seine Sammlung erwarb.

Heute, in dieser Zeit, die vom Massenkonsum, Fast Food und nicht biologisch abbaubarem Müll beherrscht wird, steht im Tempel hinter einem Hotel in Vientiane ein Votiv-Kerzenhalter aus einer Chips-Dose. Im Laufe der Jahre ist der Schrein mit dem großen benachbarten Schattenbaum zusammengewachsen, und so befindet sich dort nun ein spirituelles Gesamtkunstwerk aus Chipsdosen, Steinen aus dem Mekong und Baumwurzeln.

Sogar in der Nähe des Flughafens von Luang Prabang kann ich vor meinem Abflug sehen, wie sich in Laos das Leben seinen Weg sucht und immer wieder erblüht. Um die toten Antennenleitungen, mit denen die CIA früher ihrer Geheimnisse übermittelte, winden sich heute Ranken. Es ist ein Meisterwerk der Überlebenskunst. Es lässt einen staunen. Und es lässt einen hoffen. Doch eines kann es nicht: Das geschehene – und immer noch geschehende – Leid ungeschehen machen.

Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell

(NG, Heft 2 / 2016, Seite(n) 130 bis 147)

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