Riesenmammutbaum - Der weiße Riese

Der Riesenmammutbaum "Präsident“ ist so groß, dass man ihn nicht im Ganzen sehen kann.

Von David Quammen
Foto von Michael Nichols

Im Westen der USA - insbesondere in Kalifornien - wüten derzeit heftige Waldbrände, etwa 600 Quadratkilometer wurden bereits zerstört. Auch die imposanten Mammutbäume in der Sierra Nevada sind durch die Flächenbrände bedroht. Anfang des Jahres berichtete NATIONAL GEOGRAPHIC über die Bäume, die zu den ältesten Exemplaren der Welt gehören.

An einem sanften Hang im Sequoia National Park in der Sierra Nevada steht auf etwa 2100 Meter Höhe ein gewaltiger Baum. Sein Stamm ist rostrot und von dicken Schichten zerfurchter Rinde geschützt. Sein Fuß misst acht Meter im Durchmesser.

Wer die Baumspitze erspähen oder die Form der Krone bewundern will, muss den Kopf tief in den Nacken legen: „Der Präsident“, wie ihn staunende Betrachter vor 90 Jahren tauften, ist so groß, dass man ihn nicht im Ganzen sehen kann. Er ist ein Riesenmammutbaum, ein Sequoiadendron giganteum, und gehört zu den größten existierenden Baumarten auf unserer Erde.

„Der Präsident“ ist, so viel wir wissen, der zweitgrößte Baum der Welt. Das haben Untersuchungen des Wissenschaftlers Steve Sillett von der kalifornischen Humboldt State-Universität kürzlich bestätigt. Er ist nicht so hoch wie der höchste Küstenmammutbaum oder wie einige Exemplare des australischen Eucalyptus regnans. Aber Höhe ist nicht alles. „Der Präsident“ ist nämlich weitaus massereicher als all die Küstenmammut- und Eukalyptusbäume. Seine nach einem Blitzeinschlag abgestorbene Spitze erreicht 75 Meter. Seine vier Hauptäste – jeder so dick wie ein ausgewachsener Baum – stehen etwa in halber Höhe rechtwinklig ab und bilden eine dichte Krone. Zwar ist sein Stamm nicht ganz so mächtig wie der des größten Riesen – des „General Sherman“ –, aber dafür ist seine Krone dichter: „Der Präsident“ hat fast zwei Milliarden Nadeln.

Bäume erreichen ihre Höhe und ihre breiten Kronen in einem Konkurrenzkampf mit anderen Bäumen. Sie drängen nach oben, strecken sich seitwärts auf der Suche nach Licht und Wasser. Und ein Baum hört nicht auf zu wachsen – anders als Landsäugetiere oder Vögel, deren Größe aufgrund der Schwerkraft begrenzt ist. Auch Bäume unterliegen der Schwerkraft, aber nicht wie ein Kondor oder eine Giraffe. Sie verstärken ihre Struktur, indem sie immer mehr Holz produzieren. Darauf ausgerichtet, Nährstoffe aus der Luft und dem Boden zu gewinnen, kann ein Baum im Laufe der Zeit enorm groß werden – und weiter in die Breite wachsen. Riesenmammutbäume sind Giganten, weil sie uralt werden.

Ihr hohes Alter haben sie erreicht, weil sie alle Bedrohungen überlebt haben. Sie sind zu stark, als dass der Wind sie umknicken könnte; ihr Kernholz und ihre Rinde sind mit Gerbsäure und anderen chemischen Stoffen getränkt, die sie vor Pilzfäule schützen; Holzkäfer können ihnen nichts anhaben; ihre dicke Rinde ist feuer­beständig. Bodenbrände nützen ihnen sogar, weil sie Konkurrenten vernichten, die Baum­zapfen aufplatzen lassen und die Schösslinge dann bei ausreichend Sonnenlicht inmitten nähr­stoffreicher Asche ins Leben starten können. Blitzschlag schädigt die großen älteren Bäume, bringt sie aber normalerweise nicht zum Abster­ben. Und so werden sie über die Jahrtausende hinweg immer älter und mächtiger.

Das Forscherteam von NATIONAL GEOGRAPHIC hat seine Arbeit in einem kurzen Video festgehalten:

Die größte Gefahr für das Leben dieser Riesen ist der Mensch

Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Tausende Mam­mutbäume gefällt. Aber das Holz der alten Gewächse erwies sich als so brüchig, dass viele Stämme beim Aufprall auf den Boden zerbarsten. Die Reste taugten kaum zur Holzverarbeitung. Aus ihnen entstanden Dachschindeln, Zaunpfähle, Spaliere und andere billige Holzprodukte. Zudem war die Verarbeitung der di­cken Holzstämme mühsam, der Einschlag lohnte sich nicht. Und so wurde 1890 der Sequoia National Park gegründet. Mit dem Aufkommen des Autotourismus zeigte sich bald, dass lebende Mammutbäume mehr wert waren als gefällte.

«Eine wichtige Eigenschaft», erläuterte mir Steve Sillett eines Nachmittags unter den Bäu­men, «ist ihre Widerstandsfähigkeit in den Kälte­monaten.» In ihrem bevorzugten Lebensraum herrschen extreme Winterverhältnisse. Schnee türmt sich um sie herum und lastet auf ihren Ästen. Doch sie müssen ihre Kraft auch in gefrorenem Zustand bewahren. «Es sind Schneebäume», sagt Sillett. «Es macht ihnen nichts aus.»

Der Präsident wächst weiter

Zu den überraschenden Entdeckungen seines Teams gehört die Erkenntnis, dass Bäume im Alter schneller wachsen. Ein Greis wie „der Präsident“ produziert pro Jahr mehr neues Holz als ein Jungbaum. Der Stamm wird breiter, die Äste werden dicker. Diese Erkenntnis widerspricht einer in der Waldökologie seit langem gültigen Ansicht: dass nämlich die Holzproduktion ei­nes Baums im Alter abnimmt. Unzählige Wald­management-­Entscheidungen, bei denen schnell­ wachsende Bäume vorgezogen werden, beruhen auf dieser Prämisse. Sie mag auf einige Baumarten einzelner Gebiete zutreffen, nicht aber auf die Riesenmammutbäume oder andere Arten wie die Küstenmammutbäume. Sillett und seine Mitarbeiter haben dies mit einer einfachen, zuvor noch nie angewandten Methode herausgefunden: Sie kletterten auf die großen Bäume, bis ganz nach oben – und vermaßen jeden Zentimeter.

Mit Erlaubnis der Nationalparkbehörde nah­men sie solche Messungen auch am „Präsiden­ten“ vor – als Teil eines Langzeitbeobachtungsprojekts an Riesen­ und Küstenmammutbäumen mit dem Titel „Redwoods and Climate Change Initiative“. Silletts Mitarbeiter zogen ein Seil über die Krone des „Präsidenten“, brachten Kletter­seile an (mit spezieller Ausstattung zum Schutz des Kambiums, der Wachstumsschicht zwischen Holz und Rinde), und rüsteten sich mit Kletter­gurten und Helmen aus. Sie vermaßen den Stamm in verschiedenen Höhen, desgleichen Äste, Zweige und Knoten. Sie zählten die Zapfen und entnahmen Kernproben mit einem sterili­ sierten Bohrer.

Dann gaben sie die Zahlen in Rechenmodelle ein, die mit zusätzlichen Daten anderer Riesenmammutbäume gefüttert worden waren. So ermittelten sie, dass „der Präsident“ aus mindestens 1530 Kubikmetern Holz und Rinde besteht. Und stellten fest, dass der alte Gigant mit seinen 3200 Jahren noch immer kräf­tig zulegt. Er atmet weiterhin große Mengen Kohlendioxid ein, bindet den Kohlenstoff zu Zellulose, Hemizellulose und Lignin – und das in einer Wachstumsphase, die von sechs Mona­ten Kälte und Schnee unterbrochen wird. Nicht schlecht für einen Oldie.

All das, so Sillett, macht Riesenmammut­ bäume so ungewöhnlich. «Die Hälfte des Jahres wachsen sie nicht über der Erde, weil sie von Schnee umgeben sind.»

Ein halbe Stunde bis zur Krone

Da passt es, dass Michael Nichols seine Porträtaufnahme des „Präsidenten“ im Schnee machte. Den Plan dazu hatte er mit dem erfah­renen Kletterer Jim Campbell Spickler entwickelt. Zusammen mit Assistenten trafen sie Mitte Fe­bruar ein. Der Schnee entlang der geräumten Straße türmte sich dreieinhalb Meter hoch. Sie befestigten Seile am „Präsidenten“ und einem hohen Baum in der Nähe – für den Aufstieg und zum Hochziehen der Kameras. Sie warteten, bis es schneite. Und sie machten das perfekte Foto – oder vielmehr zahlreiche Einzelaufnahmen, die später zu einem Poster arrangiert wurden.

Bevor die Seile abmontiert wurden, kletterte auch Nichols auf den Baum. «Um mich von ihm zu verabschieden», sagte er. Er legte den Kletter­gurt an, hängte sich ins Seil ein, steckte die Füße in die Schlaufen und kletterte los.

Als Nichols wieder unten angekommen war, kam ich an die Reihe – langsam und ungeschickt erklomm ich den Giganten, mit Spicklers Hilfe. Beim Aufstieg stützte ich mich dankbar an dem gewaltigen Baumstamm ab. Nach einer halben Stunde erreichte ich die Krone des „Präsidenten“, 60 Meter über dem Erdboden. Ich betrachtete aus nächster Nähe die großen Astknollen. Ich sah die glatte, violett-rötliche Rinde der dünneren Äste, sah den lebenden Baum, der mich umgab. Ich blickte nach oben, und mir wurde schwindlig. Ich bemerkte kleine Risse im abgestorbenen Holz, durch die wie eine zweite Haut die Kambiumschicht hervorscheint. Was für ein erstaunlicher Ort, dachte ich. Und dann: Was für ein erstaunliches Lebewesen.

Am folgenden Nachmittag reisten Nichols und sein Team ab. Ich aber kehrte auf Schneeschuhen allein zum „Präsidenten“ zurück. Der Baum hatte mich so sehr beeindruckt, dass ich ihn noch einmal sehen wollte. Eine Weile starrte ich ihn an. Er war herrlich. Er strahlte Gelassenheit aus. Ich dachte über seine Geschichte nach, über seine Beständigkeit, seine Geduld. Es war ein schöner Wintertag. Von einem Ast in großer Höhe ließ der „Präsident“ einen Schneeklumpen fallen, der in winzige Teilchen und Kristalle zerstob, in denen sich das Licht brach, als sie sanft auf mich herunterschwebten.

«Gesundheit», sagte ich.

(NG, Heft 01 / 2013, Seite(n) 88 bis 109)

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