„Auch Tiere haben Kultur“

Der Verhaltensbiologe Christian Rutz von der schottischen Universität St Andrews über die Bedeutung von erlerntem Wissen bei Tieren für den Naturschutz.

Von Siebo Heinken
Veröffentlicht am 23. Apr. 2019, 10:52 MESZ
In den Regenwäldern Neukaledoniens entwickeln schlaue Geradschnabel-Krähen raffinierte Methoden um an Larven in Baumstämmen zu gelangen.
In den Regenwäldern Neukaledoniens entwickeln schlaue Geradschnabel-Krähen raffinierte Methoden um an Larven in Baumstämmen zu gelangen.
Foto von James St Clair

Herr Rutz, was verbirgt sich hinter dem Begriff „Kultur bei Tieren“?

Darunter verstehen wir Verhaltensforscher Wissen innerhalb einer Gruppe von Tieren, das durch soziales Lernen erworben wurde und weitergegeben wird. Manche Wissenschaftler halten weitere Kriterien für wichtig, vor allem, dass dieses Wissen über lange Zeit Bestand haben muss und zu Unterschieden im Verhaltensrepertoire verschiedener Gruppen führt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Es ist bekannt, dass Elefantenherden matriarchalisch geführt werden – also von in der Regel alten, in jedem Fall sehr erfahrenen Kühen. Sie haben ihr ganzes Leben lang kritisches Wissen angesammelt und geben dieses nun an ihre Gruppe weiter, zum Beispiel wo unter besonders schwierigen Umständen noch Futter und Wasser zu finden ist.

Haben alle Tiere eine solche Kultur?

Wir haben Hinweise dafür, dass soziales Lernen im Tierreich weit verbreitet ist. Aber entwickeln sich daraus auch stabile Kulturen? Das können wir bisher definitiv nur für ein paar gut studierte Arten sagen.

Bekannt sind neben Elefanten auch die Wale...

Richtig. Und Primaten, vor allem Schimpansen. Sie werden schon seit Jahrzehnten erforscht, etwa von Jane Goodall, die bereits in den sechziger Jahren beobachtete, wie diese Tiere Werkzeuge benutzten und ein komplexes Sozialleben führen.

Lernen ist also weniger ein langer evolutionärer Prozess, sondern Wissenserwerb über eine kürzere Zeitspanne?

Genauso, wie genetische Information von einer Generation an die nächste weitergegeben wird, passiert dies auch mit dem kulturellen Erbe. Wissen kann aber auch innerhalb von Generationen vermittelt werden. Beide Prozesse gehen Hand in Hand. So ist es ja auch bei uns Menschen. Und manchmal breiten sich neue Ideen oder Verhaltensmuster – wie zum Beispiel eine besonders effiziente Art des Nahrungserwerbs oder eine ungewöhnliche Kommunikationsform – in der Tat überraschend schnell innerhalb einer sozialen Gruppe aus.

Wie lernen Tiere?

Es gibt zahlreiche Mechanismen des sozialen Lernens. Meistens passiert das durch Beobachtung von Artgenossen, die mehr wissen. Ein naives Jungtier sucht dabei die Nähe eines älteren, erfahrenen Individuums, während dieses wichtige Probleme löst: zum Beispiel Futter finden oder verarbeiten, oder Fressfeinde vermeiden. Die Forschung meiner Arbeitsgruppe zeigt allerdings, dass wichtige Informationen auch indirekt weitergegeben werden können. Wir erforschen eine Krähenart, die auf einer entlegenen Insel im Südpazifik mit Werkzeugen auf Futtersuche geht. Jungkrähen beobachten häufig gespannt wie ältere Vögel Werkzeuge herstellen und benutzten, aber sie zeigen auch großes Interesse an den Werkzeugen selbst, wenn diese nach dem Gebrauch zurückgelassen werden. Wir vermuten, dass dies eine gute Gelegenheit darstellt, durch gewissenhafte Inspektion des Artefakts zu lernen wie ein gutes Werkzeug auszusehen hat.

Welche Folgen haben solche Erkenntnisse über die Kultur bei Tieren für deren Schutz?

Wir lernen immer mehr über das soziale Verhalten von Tieren und insgesamt über deren Gemeinwesen – und das hat natürlich Konsequenzen darauf, wie wir sie wahrnehmen und am besten schützen sollten. Unsere Erkenntnisse helfen uns vor allem bei zwei Herausforderungen: dabei, Tiere zu identifizieren, die besonderen Schutz benötigen und dabei, praktische Strategien und Methoden im Naturschutz zu verbessern. Bei Tieren mit besonderer Schutzwürdigkeit kann es sich um individuelle Tiere, soziale Gruppen oder aber auch ganze Populationen handeln.

Sie sprechen davon, dass einzelne Tiere unter Umständen besonders geschützt werden müssen. Es geht also nicht nur um Populationen?

So ist es, und das ist sehr wichtig. Ein exzellentes Beispiel hierfür sind wiederum die Elefanten mit ihren unfassbar kenntnisreichen Matriarchinnen. Sie haben über Jahrzehnte Wissen über ihr Habitat und das soziale Gefüge aufgebaut, das sie mit ihrer Herde teilen. Wenn man diese alten Kühe zum Beispiel durch Wilderei verliert, kann das dramatische Folgen für die ganze Gruppe haben, die unter Umständen untergehen wird. Mit anderen Worten: Die alten Kühe – und ihr Wissensschatz – sollten unbedingt geschützt werden. Wir müssen allerdings stets Fall für Fall betrachten; bei anderen Arten braucht man möglicherweise eine andere Schutzstrategie. Die Kultur bei Tieren ist einfach zu komplex, um einfache, allgemeingültige Strategien ableiten zu können.

Foto von Vicki Fishlock

Verstehen wir die Kultur bei Tieren schon gut?

Ich denke schon. Wir haben bei vielen Arten genügend Erfahrungen gesammelt, um effiziente Entscheidungen für den Naturschutz treffen zu können. Wenngleich weitere Forschung sehr wichtig ist, können wir schon Praktiker des Naturschutzes anleiten und Möglichkeiten aufzeigen, wo der Schutz verbessert werden kann.

Was bedeutet es genau, Tiere zu schützen, indem man ihre Kultur in den Blick nimmt?

Kulturelle Vielfalt sollte geschützt werden, weil sie Tieren hilft, auf Veränderungen in ihrer Umwelt zu reagieren: Wo finden sie auch unter neuen Bedingungen Futter, wo gibt es natürlichen Schutz für sie? Je mehr sie wissen, desto größer ist ihre Chance zu überleben. Manchmal ist nur eine ganz kleine Information der Schlüssel zum Überleben. Wenn dieser Schlüssel verloren gegangen ist, können ganze Gruppen unter Umständen in Schwierigkeiten geraten.

Gibt es Fälle, in denen Tiere verlorenes Wissen wieder erlangen?

Wir wissen aus der Forschung, dass das schwer sein kann. Aber es gibt Beispiele, bei denen es zu gelingen scheint. Nehmen wir mal Zugvögel, die alljährlich zwischen den Brutplätzen des Sommers und den Rastplätzen des Winters pendeln. Das Wissen über bestimmte Flugrouten wird in machen Arten höchstwahrscheinlich von Generation zu Generation weitergegeben. Die Tiere haben zwar ein genetisches Programm, das ihnen mitteilt, dass sie zu einer bestimmten Zeit des Jahres aufbrechen müssen – aber sie müssen von anderen Vögeln lernen, wohin die Reise geht. Ein gutes Beispiel für den Verlust und das erneute Erlernen dieses Wissens sind die Waldrappen, eine Ibisart, die in Europa ausgestorben war, im Rahmen von Schutzprogrammen aber derzeit wieder angesiedelt wird. Waldrappen in manchen Regionen sind Zugvögel und überqueren die Alpen – aber die Kenntnis der Routen ist offensichtlich verloren gegangen. Artenschützer gewöhnen Tiere daher an Ultraleichtflugzeuge, die sie sicher über die Berge leiten können.

Sie und andere Wissenschaftler schrieben kürzlich in der Fachzeitschrift Science über die Notwendigkeit, die Kultur von Tieren im Naturschutz stärker zu berücksichtigen. Was meinen Sie damit?

Wir sehen uns an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Naturschutz, Politik und Praxis. Uns ist wichtig, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema im Naturschutz stärker Berücksichtigung finden. Ich denke dabei vor allem auch an eine bahnbrechende Initiative des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) im Rahmen des Übereinkommens zur Erhaltung wandernder wild lebender Tierarten (CMS). Die UNEP hat schon vor Jahren die Bedeutung von Kultur für Wale und Delfine erkannt. Wir haben nun vorgeschlagen, den politischen Rahmen so auszuweiten, dass er den Schutz anderer Arten einschließt. Bei Primaten, Vögeln und anderen Tierarten spielt kulturell übermitteltes Wissen ebenso eine wichtige Rolle für das Überleben.

Denken Sie, dass das Wissen über Kultur von Tieren das Interesse an diesen Tieren erhöhen kann?

Absolut. Lange Zeit waren wir Menschen der Ansicht, dass wir die einzigen Wesen auf der Erde seien, die Kultur besitzen. Wir reden bei Tieren natürlich nicht über Malerei und Musik. Aber für sie wie auch für uns ist ein geteilter Wissensschatz gleichermaßen wichtig zum Überleben. Diese Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier kann ein sehr hilfreiches Instrument sein, um ein breites Interesse und eine aktive Beteiligung am Tierschutz anzuregen. Wenn wir wissen, dass manche Gruppen von Tieren Wissen in einer ganz ähnlichen Weise mit ihrem Nachwuchs teilen wie wir Menschen, ist das gewiss eine Motivation, uns für ihren Fortbestand zu engagieren.

Mehr zum Thema finden Sie bei Science. 

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