„Vögel sind Sensoren“

Der Ornithologe Martin Wikelski erforscht die Bewegungen von Störchen und Gänsen mit modernster Technik. Die Daten verraten ihm viel über den Zustand der Erde.

Von Siebo Heinken
Veröffentlicht am 4. Juli 2019, 15:34 MESZ
Wikelski
Martin Wikelski ist Direktor des Max-Planck_Instituts in Radolfzell. Hier wertet er in Russland die Daten von Blässgänsen aus, die mit Sendern ausgestattet worden sind.
Foto von Christian Ziegler, MPI ORN RAD

Herr Wikelski, in diesen Wochen kehren Millionen von Zugvögeln aus den Winterquartieren zurück. Wer oder was gab ihnen das Signal zum Aufbruch?

Bei den meisten Vögeln ist das ein angeborenes Merkmal. Wenn die Tage im Wintergebiet kürzer werden, brechen sie auf.

Aber sie müssen sich abstimmen, schließlich fliegen sie in großen Verbänden.

Stimmt, und es wird immer klarer, dass der Vogelzug ein Schwarmphänomen ist. Die Tiere orientieren sich an anderen Vögeln und koordinieren wohl auch ihre Zugrouten.

Wie machen sie das?

Wir wissen, dass die Vögel miteinander kommunizieren, wenn sie zum Beispiel nachts fliegen. Die Tiere am Boden hören, dass da oben ziemlich viel los ist und sie mitfliegen können, und andersherum erfahren die vorbeifliegenden Vögel, dass unten, wo viele Artgenossen rufen, ein gutes Rastgebiet sein muss.

Und die am Tag ziehenden Vögel?

Bei denen ist es ohnehin kein Problem, die sehen einander und auch die Landschaft. Etwa die Störche: Da ist immer ein Tier dabei, das die Route schon kennt. Einige Störche beobachten wir schon lange. So wissen wir, dass sie im ersten Jahr nur schwer in ihr Geburtsgebiet zurückfinden, im zweiten Jahr schon besser, spätestens im dritten Jahr sehr gut. Sie lernen also.

Das müssen Sie erklären.

Wir beobachteten vor einiger Zeit einen Storch, der im ersten Jahr mit anderen Tieren aus Südeuropa kam und zwischen Elsass, Basel, Freiburg und Schwarzwald hin und her geflogen ist, bevor er endlich zu uns an den Bodensee fand. Im nächsten Jahr flog er gleich den Rhein hoch. Er hat sich also den schnellsten Weg wohl gemerkt.

Das wissen Sie alles, weil Sie die Tiere mit Sendern ausstatten. Welche Daten sammeln Sie mit diesen Geräten?

Sie zeichnen die GPS-Position und Beschleunigungsmaße auf. Wir sehen also, ob der Vogel frisst, fliegt oder schläft. Über die Magnetrichtung auch, ob er zum Beispiel nach Süden fliegen will, aber vom Wind nach Osten abgedriftet wird.

Und in welcher Höhe er sich befindet – sogar, ob er gerade oben oder unten im Baum sitzt. Zudem Temperatur und Luftfeuchtigkeit.

Sie haben vor einigen Jahren im Westen der USA einige Dachsammern, eine amerikanische Singvogelart, gefangen, die von Alaska auf dem Weg ins Wintergebiet nach Kalifornien waren. Die haben Sie an die Ostküste transportiert und dort freigelassen. Was ist passiert?

Die jungen Tiere sind weiter nach Süden geflogen, die erwachsenen Tiere hingegen nach Westen in Richtung Kalifornien. Wir konnten ihnen nur ein Stück weit folgen, nehmen aber an, dass sie an die Westküste zurückgefunden haben.

Welchen Schluss haben Sie daraus gezogen?

Dass die Tiere offenbar eine Karte ihrer Welt in sich haben. Sie wussten, dass sie in eine bestimmte Richtung verfrachtet wurden und auch, wie sie von dort ungefähr wieder heimkamen. Wie sie das genau machen, ist uns bisher noch nicht klar.

Was fasziniert Sie eigentlich so sehr an der Migration von Vögeln?

Ich will die Natur in ihrer Gesamtheit begreifen. Wir verstehen immer mehr, dass Tiere verschiedenster Gruppen, Ordnungen und Gattungen untereinander kommunizieren. Sie lernen voneinander. Sie beobachten, was andere Tiere tun, und nehmen diese Informationen auf. Genau das hat Alexander von Humboldt schon vor 200 Jahren beschrieben: Es gibt ein großes Ganzes, alles hängt mit allem zusammen. Um zu überleben, ist daher nichts wichtiger, als Informationen aus allen möglichen Quellen zu beziehen. Hinzu kommt, dass Tiere im Schwarm substanziell mehr können als jedes Individuum für sich. Bisher haben wir den sechsten Sinn der Tiere als irgendetwas Metaphysisches betrachtet. Jetzt verstehen wir, dass sich dahinter wohl die Eigenschaft des Schwarms verbirgt.

Weil die Gruppe eine höhere Intelligenz entwickelt?

Genau. Ein Schwarm hat ganz andere Fähigkeiten als ein einzelnes Wesen. Der sechste Sinn ist also nicht der einzelne Sinn eines Tieres, sondern die Kommunikation im Schwarm. Und nicht nur im Schwarm, sagen wir, aller Schwalben miteinander, sondern als Schwalbe mit den Schwänen, mit den Schnecken, mit den Hunden.

Die Tiere folgen also weniger ihrem Instinkt, sondern erlerntes Verhalten bringt sie voran?

Tiere sind instinktiv Teil des Schwarms und nutzen dessen Informationen. Was sie daraus machen, ist meines Erachtens überwiegend erlernt. Jedoch wissen wir bisher nicht, was sie alles wissen. Und verstehen nicht wirklich, wie sie Entscheidungen treffen.

Bei Störchen wissen Sie schon viel ...

Das stimmt. Wir können schon komplette Lebensgeschichten schreiben und verstehen, welche Informationen diese Vögel haben und was sie daraus machen. Warum sie sich in bestimmten Augenblicken auf eine bestimmte Weise entschieden haben und warum nicht anders.

Haben Sie ein Beispiel?

Störche können offensichtlich ihre eigene Flugleistung einschätzen. Wenn Tiere nur schwer mit dem Schwarm mithalten können, fliegen sie nicht so weit und bleiben in Spanien. Andere fliegen nach Nordafrika. Und die Kräftigsten in das Gebiet südlich der Sahara.

Welchen Nutzen kann man aus solchen Erkenntnissen ziehen?

Es geht darum, über das Schwarmverhalten der Tiere weltweit Ereignisse vorhersagen zu können, die wir auf anderem Weg noch nicht erkennen. Etwa die Ausbreitung von Krankheiten. Nehmen wir Enten irgendwo in China, die Sender tragen: Wir können sehen, wenn mit ihnen etwas nicht stimmt. Das kann ein Indikator sein, dass gerade die nächste Vogelgrippe entsteht.

Weil die Enten sterben?

Oder sich anders bewegen als gewöhnlich, Krankheitsverhalten zeigen. In diesem Fall wissen wir: Dort passiert gerade etwas, Veterinäre müssen der Sache auf den Grund gehen und eventuell den Virus analysieren. Überdies können wir anhand von Flugbewegungen sagen, wie wahrscheinlich es ist, dass dieser Virus zu einer bestimmten Zeit in Europa auftaucht.

Zeigen Tiere auch Wetterphänomene an?

Allerdings. Bevor es in bestimmten Gegenden zu großen Regenfällen kommt, sind oft schon die Watvögel dorthin unterwegs, weil sie Futter erwarten. Sie können uns anzeigen, wo es große Überschwemmungen geben wird.

Als Sie die Dachsammern erforschten, mussten Sie den Tieren mit Autos folgen. Demnächst startet Ihr Projekt ICARUS. Dann werden die Daten der Tiere auf der Raumstation ISS empfangen und an eine Datenbank gesendet. Was versprechen Sie sich davon?

Das ist eine Revolution in der Biologie, aber auch darüber hinaus. Und zwar, weil wir ein intelligentes Sensorsystem auf der ganzen Erde haben werden. Tiere sind die besten Sensoren. Wir schalten sie global als Schwarm zusammen. Damit bekommen wir Informationen, die es bisher nicht gab. Wir machen einen großen Schritt, um das gesamte System der Natur zu verstehen. Über die Tiere werden wir in Echtzeit Informationen etwa über Naturereignisse bekommen. Denken Sie an Big Data: Heute kann jeder auf der Google-Karte in Echtzeit sehen, dass er fünf Minuten länger zur Arbeit braucht, weil es einen kleinen Stau gibt. Im Prinzip kann man das auf unser System übertragen.

Die ISS braucht 92 Minuten, um einmal die Erde zu umrunden. Sie bekommen also etwa alle anderthalb Stunden eine Positionsmeldung der Tiere…

Unser Empfänger auf der ISS ist erst mal nur ein experimentelles System, ein Anfang. Die Sender an den Tieren zeichnen zwar dauernd Informationen auf, aber auslesen können wir sie nur einmal am Tag. Wir arbeiten jedoch schon daran, dieses System zu verbessern und mehr Auslesegeräte auf existierenden Satelliten zu etablieren.

Ist das Internet der Tiere die Zukunft der Verhaltensforschung?

Unbedingt. Die bisherige Verhaltensbiologie war ein Gedankenanstoß für das, was in Zukunft kommen kann. Das Ziel eines bestimmten Verhaltens ist ja, dass sich ein Tier fortpflanzt und überlebt. Wir wollen verstehen, wie weit dieses Verhalten durch Gene gesteuert wird und was erlernt ist. Aus meiner Sicht stehen wir an einem völligen Neuanfang der Verhaltensbiologie.

Wie viele Vögel müssten mit Sendern ausgestattet werden, um zu aussagekräftigen Daten zu kommen?

Schwierig zu sagen. Das ist wie am Anfang der Meinungsforschung. Damals stellte sich die Frage: Wie viele Leute muss man befragen, um Wahlprognosen abgeben zu können? Auch wir müssen erst mal ganz viele Tiere „fragen“, um daraus zu lernen. Ich würde sagen, dass hunderttausend Vögel weltweit schon ein sehr gutes Bild liefern können.

Dazu brauchen Sie eine große Gruppe von Wissenschaftlern und Helfern.

Richtig, aber das Schöne ist, dass die Vögel ohnehin gefangen und beringt werden, zu Millionen jedes Jahr. Wir wollen weniger Tiere fangen und belasten, ihnen aber sehr viel bessere Möglichkeiten geben, uns über ihr Verhalten zu informieren.

Was sehen sie, was passiert mit ihnen? Wir haben damit aber auch die moralische Verpflichtung, den Tieren zu helfen, um besser überleben zu können. Es ist ein Nehmen und Geben.

Sie werden von der National Geographic Society unterstützt, um die Migration des Kuckucks und seine Rolle als Indikator für Umweltprobleme zu erforschen. Was untersuchen Sie da?

Kuckucke brauchen ja andere Vögel, um ihnen ihre Eier ins Nest zu legen und die Jungen großziehen zu lassen. Das heißt, es muss den anderen Vögeln gut gehen, nur dann kann der Kuckuck gedeihen. Und es muss viele andere Vögel geben, weil der Kuckuck eine Auswahl braucht. In Gegenden, wo es den Kuckuck noch gibt, geht es der Natur also gut. Wir wollen erfahren, woran das liegt. Und wo es schlecht ist. Das ist wie beim Kanarienvogel in der Kohlemine, der anzeigt: Achtung Gas, es wird gefährlich.

Wie entscheiden Sie, wo welche Vögel mit Sendern versehen werden?

Im Moment gehen wir dahin, wo Vögel ohnehin schon gefangen werden. So bauen wir praktisch auf dem Wissensschatz der Amateure auf. Das ist wohl auch später die beste Wahl, weil die vielen Vogelberinger und Vogelbeobachter die Tiere und ihre Landschaften am besten kennen.

Citizen Science spielt in diesem gesamten Projekt also eine große Rolle?

Ohne Citizen Science, also die Hilfe von Amateurwissenschaftlern, kann es nicht funktionieren, das zeigt schon die Beringung von Vögeln.

Welche der gewonnenen Informationen sind auch für andere Wissenschaften hilfreich?

Es gibt direkte Anwendungen in anderen Wissenschaftsbereichen, etwa in der Atmosphärenforschung. Wir können über Tauben auch die Luftchemie in der Stadt messen. Oder im Regenwald des Amazonas das Baumwachstum messen.

Sie erstellen ein umfassendes System zur Erdbeobachtung...

Ja, und es wird die bisherigen globalen Satellitensysteme ergänzen. Wir wollen die Information der Tiere mit anderen Systemen zusammenbringen,mit dem Erdbeobachtungsprogramm Copernikus der European Space Agency ebenso wie mit den entsprechenden Programmen der NASA. So erfahren wir, ob diese Satellitensysteme überhaupt das messen, was wir sehen wollen. Dabei helfen uns die Tiere. Sie überprüfen für uns die Daten der Satelliten und liefern zusätzliche Informationen.

Ist der nächste Schritt, Tiere mit Kameras auszustatten?

Ich denke schon. Natürlich nicht mit Kameras, die dauernd filmen. Aber wir wissen über unsere Beschleunigungsalgorithmen, wann ein Tier irgendwas Spannendes macht. Wir erkennen etwa, ob der Storch gerade von einem Adler angegriffen wird. Oder ob der Storch in der Wüste frisst. Aber was frisst er da? Ist es ein Gecko oder eine Wanderheuschrecke? Das können wir ihn fotografieren oder filmen lassen und diese Informationen auswerten. Auch das ist ja ein Teil des Bildes, das wir uns vom Leben des Vogels machen wollen.

Sie erforschen Vögel seit vielen Jahren. Was überrascht Sie am meisten?

Jedes Mal, wenn wir Tiere mit Sendern ausstatten und elektronisch beobachten, gibt es Überraschungen.

Nehmen wir die Jungfernkraniche, die von China über das Annapurna-Gebirgsmassiv bis nach Pakistan und in einem großen Bogen zurück fliegen. Die überqueren die Berge in 7000 Metern Höhe. Das ist wirklich faszinierend.

Und gefährlich...

Ebenso wie der Flug der Schwarzstörche auf der Ost-Route von Afrika nach Europa, also über Israel und Jordanien. Die werden dort fast alle geschossen. Es ist eine spannende Frage, ob Störche lernen können, in so einer Situation zu überleben oder Regionen zu meiden.

Zu lernen: Da fliegen wir lieber nicht hin?

Bei den Störchen sehen wir schon, dass sie einander positiv beeinflussen. Also kommunizieren: Hier ist es besonders gut, es gibt Mülldeponien mit ausreichend Futter oder Regionen mit vielen Wanderheuschrecken, da lässt sich gut überleben.

So etwas zeigen die sich gegenseitig an. Wie sie sich das Negative mitteilen, das ist eine der Fragen, die wir erst jetzt wirklich angehen können.

 

Icarus soll nach einigen Verzögerungen am 9. Juli in die viermonatige Testphase gehen. Offizieller Projektstart ist Mitte November.

loading

Nat Geo Entdecken

  • Tiere
  • Umwelt
  • Geschichte und Kultur
  • Wissenschaft
  • Reise und Abenteuer
  • Fotografie
  • Video

Über uns

Abonnement

  • Magazin-Abo
  • TV-Abo
  • Bücher
  • Newsletter
  • Disney+

Folgen Sie uns

Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved