Zuchtprogramm für Haie: Wettlauf gegen das Aussterben

Stark gefährdete Haie werden in Aquarien aufgezogen und später im Meer ausgesetzt. Die beispiellose Mission könnte tatsächlich gelingen.

Von Craig Welch
Veröffentlicht am 30. Juni 2023, 14:33 MESZ
Auswilderung eines Hais

Vor den Wayag-Inseln lässt Meeresforscherin Nesha Ichida einen jungen Zebrahai frei. Mit vier bis fünf Monaten haben die Tiere gelernt, ihre Nahrung im Meer zu fangen, und sind mit etwa drei viertel Metern lang genug, um vor größeren Haiarten sicher zu sein.

Foto von Jennifer Hayes

Nesha Ichida kniet in einer türkisfarbenen Lagune des indonesischen Archipels Raja Ampat. Vorsichtig hält sie einen 15 Wochen alten Zebrahai – ein Baby, das eine weite Reise hinter sich hat. Im Eistadium befand er sich in einem Aquarium in Australien und wurde per Flugzeug nach Indonesien gebracht. In einer Haiaufzuchtstation schlüpfte er, wuchs zunächst in Meerwassertanks, später in Außenbecken heran. Seine Eltern hatte man einige Jahre zuvor an der nördlichen Küste von Queensland gefangen, wo Zebrahaie häufig vorkommen. In den Gewässern der Raja-Ampat-Inseln, etwa 2400 Kilometer nordwestlich, sind sie dagegen nahezu verschwunden – Opfer des weltweiten Haihandels. Von 2001 bis 2021 zählten Wissenschaftler gerade mal drei Exemplare.

Ichidas Zebrahai ist Teil einer großen Idee: Wissenschaftler wollen stark gefährdete Hai- und Rochenarten in Gefangenschaft züchten und anschließend auswildern, um die Raubfischpopulationen in den Weltmeeren wiederherzustellen. Die Zebrahaie sollen den Anfang bilden, und die indonesische Meeresforscherin Ichida will den ersten von ihnen in die Freiheit entlassen. An diesem heißen Januartag schlängelt sich also der Jungfisch unter den turmhohen Kalksteinformationen der abgelegenen Wayag-Inseln in ihrem Griff hin und her. Rund 140 Kilometer mit dem Boot liegt dieser Ort von der nächstgelegenen Stadt entfernt. Nesha Ichida hat den jungen Hai seit Monaten auf sein neues Leben vorbereitet. Sogar einen Namen hat sie ihm gegeben: Charlie.

​Haie: Ist das Aussterben noch zu stoppen?

Jede elfte Tier- und Pflanzenart im Meer ist nach Einschätzung der Weltnaturschutzunion IUCN inzwischen vom Aussterben bedroht. Dazu zählen etwa Dugong-Seekühe ebenso wie diverse Vertreter der Seeohren, Korallen, Grundeln, Felsenbarsche, Thunfische und Wale. Aber nur wenige Lebewesen werden gerade derart rasch ausgelöscht wie Haie und Rochen. Obwohl sie in den vergangenen 420 Millionen Jahren vier Massensterben überlebten, sind heute laut Untersuchungen des renommierten Haiexperten Nicholas Dulvy von der Simon Frazer University im kanadischen British Columbia rund 37 Prozent aller Hai- und Rochenarten vom Verschwinden bedroht. Überfischung ist die treibende Kraft. Jährlich wird weltweit das Fleisch von Millionen Haien gegessen – in asiatischen Küchen häufig auch ihre Flossen.

Dabei sind Haie für das Leben im Meer unverzichtbar. Sie halten die Nahrungsnetze im Gleichgewicht, indem sie Jagd auf kleinere Tiere machen. Die würden andernfalls überhandnehmen und natürliche Systeme zerstören, die die Nahrungsgrundlage für Milliarden von Menschen bilden. Um Haie zu schützen, muss also die Überfischung gestoppt werden. Aber ließe sich in der Zwischenzeit nicht ein Teil des bereits entstandenen Schadens beheben? Könnte man Haie in Gefangenschaft aufziehen und dann wieder auswildern – nicht willkürlich, sondern unter Einsatz modernster wissenschaftlicher Methoden?

Mit dieser Idee regte der Meereswissenschaftler Mark Erdmann von der amerikanischen Umweltschutzorganisation Conservation International das Projekt „ReShark“ an. Die Gruppe besteht mittlerweile aus 75 Partnern – darunter 44 bedeutende Aquarien – in 15 Ländern. Sie möchte innerhalb von zehn Jahren zunächst 585 junge Zebrahaie in den Gewässern von Raja Ampat aussetzen. Sie sollen eine sich selbst erhaltende Wildpopulation bilden und Blaupause sein für weitere Haiarten. Wissenschaftler bekämpfen das Artensterben häufig mit Wiederansiedlungen, wie etwa beim Großen Panda in China. In Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde vor allem der Luchs aktiv wieder angesiedelt, in den Alpen der Bartgeier, in Italien der Braunbär. Im Meer sind Wiederansiedlungen allerdings komplex und eher selten. Die Ozeane sind riesig, ihre Bewohner nicht leicht zu verfolgen.

Schwarzspitzen-Riffhaie schwimmen durch Seegraswiesen im Flachwasser nahe der Insel Kri. Bevor ein Netzwerk aus Meeresschutzgebieten um Raja Ampat eingerichtet wurde, bekam man sie nur selten zu Gesicht. Inzwischen sind die Haie hier wieder verbreitet.

Foto von Jennifer Hayes

​Zuchtprogramm: Schlüsselrolle bei der Renaturierung der Ozeane

Bedrohungen lassen sich zudem nur schwer managen. 2017 versuchten Wissenschaftler, Vaquitas zu fangen – kleine seltene Schweinswale im Golf von Kalifornien, die regelmäßig als Beifang bei der illegalen Kiemennetzfischerei getötet werden. Die Forscher hatten gehofft, die Vaquitas zunächst in Schutzgebiete zu verlegen und später wieder anzusiedeln, wenn die mexikanische Regierung die Fischerei unter Kontrolle gebracht hätte. Als jedoch das erste gefangene Tier aufgrund von Stress starb, stellten die Wissenschaftler ihre Bemühungen ein. Dennoch wächst unter Meeresforschern die Erkenntnis, dass in Gefangenschaft gehaltene Tiere eine Schlüsselrolle bei der Renaturierung der Ozeane spielen könnten.

Im Jahr nach dem Tod des Vaquita forderte eine IUCN-Kommission Experten dazu auf, weiter nach sicheren Fangmethoden für Delfine zu suchen, da Wiederansiedlungen durchaus nötig sein könnten, um andere Arten zu retten, etwa den südamerikanischen La-Plata-Delfin oder den westafrikanischen Kamerunflussdelfin. Aus der Luft betrachtet wirkt Raja Ampat geradezu mystisch. Auf Hunderten von Kalksteininseln erheben sich üppige Wälder aus Palmen, Merbau- und Tropenfruchtbäumen. Atolle, kleine Sandinseln und smaragdgrüne Mangrovenbuchten weichen allmählich dem tiefblauen Wasser, wo der Indische und Pazifische Ozean ineinanderfließen. Diese Gewässer gehören zu den artenreichsten unseres Planeten.

Rund 1600 Fischarten sind hier beheimatet, ebenso drei Viertel aller bekannten Steinkorallen der Erde. „Es wimmelt und sprüht buchstäblich vor Leben – auch die Farbenvielfalt verschlägt einem den Atem“, schwärmt Erin Meyer, die in den USA am Seattle Aquarium für Erhaltungsprogramme und Partnerschaften verantwortlich ist und bei der Organisation des Zebrahai-Projekts mitwirkt. Einen Tag vor Charlies Freilassung geht Meyer an der neuen Haiaufzuchtstation vor der Küste der Insel Kri, 105 Kilometer südlich der WayagInseln, den Landungssteg auf und ab. Neben ihr kauert ihre Kollegin Ichida im hüfttiefen Wasser eines Meeresgeheges, in dem der junge Fisch gerade ein letztes Mal untersucht wird. Kathlyn, ein weiterer Hai, der mit Charlie ausgesetzt werden soll, wirbelt um Ichidas Beine.

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