Magische Meeresbewohner: Die geheime Welt der Oktopusse 

In ihrem neuen Buch „Die Geheimnisse des Oktopus“ gewährt eine Naturforscherin intime Einblicke in das Wesen, die Intelligenz und die Eleganz dieser magischen Meeresbewohner. Ein Auszug.

Von Sy Montgomery
Veröffentlicht am 22. Mai 2024, 22:15 MESZ
Große Blaue Krake

Dieser Große Blaue Krake (Octopus cyanea) jagt in den seichten Gewässern des Komoren-Archipels im Indischen Ozean vor der Küste Afrikas. Oktopusse sind in lauwarmen tropischen Gewässern häufig anzutreffen.

Foto von Gabriel Barathieu, Minden Pictures

Noch nie hatte ich jemanden wie Athena getroffen. Sie war ausgewachsen, maß aber trotzdem nur etwa einen Meter und wog gerade einmal 18 Kilo. Und auch in anderer Hinsicht war sie ungewöhnlich: Sie konnte Farbe und Form verändern, mit ihrer Haut schmecken, giftigen Speichel absondern, Tinte spritzen und pfeilschnell davonschießen, indem sie Wasser durch einen Trichter an der Seite ihres Kopfes ausstieß. Ganz abgesehen davon, dass sie ihren ausladenden, knochenlosen Körper durch eine orangengroße Öffnung zwängen konnte. Ihr Kopf war nicht wie bei mir ganz oben auf dem Körper. Dort saß der sogenannte Mantel, jener sackartige Körperteil, der die Atmungs-, Verdauungs- und Fortpflanzungsorgane enthielt. Ihr Kopf befand sich dort, wo man eigentlich den Rumpf erwarten würde, und ihr Schnabel war in ihrer Achselhöhle. Athena war ein Pazifischer Riesenkrake, ein Enteroctopus dofleini.

Sie gehören wie Sepien (Echte Tintenfische) und Kalmare zur Gruppe der Tintenfische. Wir lernten uns im New England Aquarium in Boston kennen. Der Leiter des Aquariums, Scott Dowd, öffnete den schweren Deckel zu ihrem Tank. Ich stand auf einer kleinen Trittleiter und beugte mich über die Wasseroberfläche. Der braun gesprenkelte Krake wurde hellrot vor Aufregung, während sein Körper wie fließendes Wasser aus seinem Versteck zwischen den Felsen schwappte. Eines der silbrig glitzernden Augen suchte Blickkontakt mit meinen, als Athenas acht gallertartige Arme an die Oberfläche wallten, um mich kennenzulernen. Mit Scotts Erlaubnis tauchte ich Hände und Arme in das betäubende acht Grad kalte Salzwasser und ließ Athena meine Haut mit ihren weichen, forschenden Saugnäpfen umschlingen; sie schmeckte und fühlte mich gleichzeitig. Athena begrüßte meine Gesellschaft nicht nur, sie gestattete mir, ihren Kopf zu berühren – etwas, das sie noch keinem Besucher zuvor erlaubt hatte.

​Grausames Ungeheuer oder Freund?

Nachdem wir ein wenig Zeit miteinander verbracht hatten, wechselte Athena ihre Farbe erneut. Unter meiner Berührung wurde sie weiß – die Farbe eines Oktopusses, der entspannt ist, wie ich später erfuhr. Mir war klar, dass wir einen aufschlussreichen Austausch erlebt hatten. Zu meiner Überraschung war Athena genauso neugierig auf mich wie ich auf sie „Aber sind das nicht diese Ungeheuer?“, fragte mich meine Freundin am nächsten Tag beim Waldspaziergang mit unseren Hunden. Sie ist sehr tierlieb. Sie besitzt zwei Pudel und eine Katze, ist eine gute Reiterin und füttert gern wilde Vögel. Aber ein Oktopus? Wie konnte man irgendeine Verbindung mit einem Oktopus haben? Tatsächlich wurden Oktopusse in der westlichen Literatur jahrhundertelang als Dämonen des Ozeans verunglimpft. „Kein anderes Tier ist beim Töten eines Menschen im Wasser grausamer“, schrieb der römische Philosoph und Kommandant Plinius der Ältere um das Jahr 77 n. Chr., „denn es kämpft mit ihm, umschlingt ihn, verschlingt ihn mit den Saugnäpfen und reißt ihn in Stücke.“

Weil sie so anders sind als wir, weil manche Arten derart groß werden können und über unglaubliche Kräfte verfügen (ein einzelner Saugnapf eines Pazifischen Riesenkraken kann mehr als 16 Kilo ansaugen, und das Tier besitzt 1600 oder sogar mehr davon), jagen Kraken den Menschen Angst ein – zumindest denen, die nicht die Gelegenheit haben, einen kennenzulernen. Mich dagegen faszinierte Athenas Andersartigkeit. Nach nahezu jeder Klassifizierung der Tierwelt waren wir das genaue Gegenteil voneinander. Sie stammte aus der Gruppe der Protostomia, bei denen in der Embryonalentwicklung der Mund aus dem schlitzförmigen Urmund hervorgeht, ich zähle zu den Deuterostomia, deren Urmund zum After wird, während der Mund neu entsteht. Sie war wirbellos, ich habe ein Skelett. Sie lebte im Wasser, ich an Land. Sie atmete Wasser, ich Luft. Das letzte Mal, als ihre und meine Art einen gemeinsamen Vorfahr besaßen, war vor mehr als 500 Millionen Jahren, und da waren wir noch primitive, wurmartige Wesen. Doch trotz der klaffenden Lücke in unseren taxonomischen Klassifizierungen schien es möglich, dass wir uns auf unerwartete Weise verstehen, vielleicht sogar Freunde werden.

​Streichelnder Oktopus

Und dann begann Athena, mich in ihren Tank zu ziehen. Ausgestattet mit hydrostatischen Muskeln, die eher so funktionieren wie die in unserer Zunge als die in unserem Bizeps, kann ein Oktopus ihrer Größe das Hundertfache seines Eigengewichts ziehen. Das wären gut 1800 Kilo. Ich wiege 57 Kilo. Doch ich hatte keine Angst, ich spürte, dass Athena keine bösen Absichten hegte. Ihr Ziehen war beharrlich, aber behutsam. Ich fürchtete auch nicht, dass sie mich fressen wollte. Mir war auf beruhigende Weise bewusst, dass Schnabel und Giftdrüsen ganz woanders waren als die Arme, die an meinen zogen. Es war keine Bedrohung, eher eine Einladung. Und so zog diese fremdartige, schöne, neugierige Kreatur mich in ihre Welt – eine Welt, die ich seit Jahren erforsche. Das Leben eines Kraken währt leider nicht lang. Pazifische Riesenkraken werden nur drei bis fünf Jahre alt, und Athena war, als ich sie traf, schon alt für einen Oktopus. Aber ihre Nachfolgerinnen im Aquarium, Octavia, Kali und Karma, lernte ich gut kennen.

Ich besuchte sie jede Woche, um sie zu beobachten, zu füttern, zu streicheln und mit ihnen zu spielen. Wenngleich alle Kraken verspielt und intelligent waren, besaß doch jeder eine andere Persönlichkeit. Als 2015 mein Buch „Rendezvous mit einem Oktopus. Das erstaunliche Seelenleben der Kraken“ erschien, gab der Titel einigen Lesern zu denken. Wie konnte ein Oktopus eine Seele haben? Oktopusse sind Mollusken, Verwandte der hirnlosen Muscheln. Manche Leute meinten, die Annahme, ein Oktopus könne eine Seele oder eine Persönlichkeit, Gedanken, Erinnerungen oder Gefühle haben, sei nur ein Produkt der fehlgeleiteten menschlichen Neigung, Tiere zu anthropomorphisieren. Sie irren. Seit Jane Goodalls Schimpansenforschung hat die Wissenschaft Unmengen von Daten gesammelt, die das stützen. Um zu einer hoch entwickelten Intelligenz zu gelangen, haben Kraken einen völlig anderen Pfad als wir Menschen eingeschlagen. Folgen wir diesem Pfad, bringt er uns vielleicht der Entschlüsselung anderer Geheimnisse näher – etwa der geteilten Erfahrung, was es bedeutet, zu denken, zu fühlen und zu verstehen.

Cover National Geographic 5/25

Foto von National Geographic

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